Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 17
ОглавлениеUnbekannte Gefühle
Ein junger Mann sass am Waldrand und schaute über das Land. Die Sonne schien, der blassblaue Himmel versprach einen warmen Frühlingstag, und doch überfiel ihn von Zeit zu Zeit eiskalte Angst. Vor sich sah er die dunkle Studierstube seines Vaters mit den schweren Möbeln und den gewichtigen Büchern in den Regalen. Sein Vater war einer, der den Kindern Zucht und Ordnung mit der Rute beibrachte. Und heute abend würde er diesem Vater sein Zeugnis zeigen müssen und ihm beichten, dass er nicht mehr zurück aufs Seminar gehen konnte. Sie hatten ihn rausgeworfen, wegen schlechter Noten, und dann hatte man ihn mehr als einmal erwischt, wie er frühmorgens durchs Fenster des Wohnheims hineinkletterte.
Der junge Mann seufzte, lehnte sich an den Baumstamm und schloss die Augen. Friedlich war es hier. Friedlich!
Kinderstimmen ertönten, er öffnete die Augen. Eine Kinderschar kam lachend und schwatzend angerannt. Mitten unter ihnen ein wunderschönes, etwas älteres Mädchen, gross gewachsen mit feinen Gesichtszügen, das lange, dunkle Haar zu zwei Zöpfen geflochten. Unter dem einfachen dunklen Kleid verbarg sich ein wohlgeformter Körper. Diese Beine, diese Hüften, diese Brüste! Der Pfarrerssohn wurde unruhig.
Die Kinder hatten ihn entdeckt, und die zwei Jüngsten näherten sich ihm neugierig. Sie sahen ihn erstaunt an. Mitten am Tag sass da ein junger Mann einfach im Gras. Das kannten sie nicht. Musste der nicht arbeiten?
«Hulda, Mina, kommt!» Das ältere Mädchen war in einiger Entfernung stehengeblieben. Die zwei kleinen Mädchen zögerten, und schnell fragte der junge Mann: «Was macht ihr hier?»
Das Grössere wurde verlegen und rannte weg, aber das Jüngere stellte sich keck vor ihn hin, zeigte einen leinenen Beutel und erläuterte: «Wir pflücken Bärlauch.» «So, so, und wie heisst du?» «Ich bin die Mina und gehör’ dem Oswald Kunz.»
Ach so war das, es waren die Kinder des armen Handwebers, dachte der Pfarrerssohn. Der hatte mindestens zehn Kinder, wie man hörte.
«Mina, komm jetzt!» Das ältere Mädchen war nähergetreten, und der junge Mann bemerkte, dass sie gar nicht mehr so jung war. Jedenfalls kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau! Und was für eine! Diese Augen! Gross und von der Farbe dunkler Kastanien. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Dieser Tag konnte interessant werden, stellte der junge Pfarrerssohn mit Unruhe zwischen den Lenden fest.
Er beeilte sich zu beteuern: «Sie stört mich nicht, im Gegenteil! Wenn ich darf, helfe ich euch.» Emma Kunz sah ihn misstrauisch an. «Wer bist du?», fragte sie förmlich. «Ich bin Thomas, der Sohn des Pfarrers.» Unter braunen Locken blitzten fröhliche, blaue Augen.
Emma dachte nach. Hatte sie nicht schon von diesem Thomas gehört? Das war doch der verlorene Sohn, das schwarze Schaf der angesehenen Pfarrersfamilie. Neugierig betrachtete sie ihn. «Wenn du magst, kannst du mithelfen.» Mina packte die Hand des jungen Mannes und zog ihn mit sich.
Später sassen Emma und Thomas am Waldrand, und Hulda, Mina und Otto spielten Verstecken. Thomas tat verlegen. Normalerweise hatte er keine Mühe, mit hübschen Frauen zu schäkern. Aber jetzt, dieses Mädchen war anders, seine grossen dunklen Augen schauten tief und ernst. Es war sehr schön, und er ahnte, dass diese kraftvolle Schönheit mehr als nur äusserliche Hülle war. Ein Schauer durchfuhr ihn. Es überraschte ihn, wie er zu erzählen begann, von den Schwierigkeiten mit seinem Vater, der ihn nicht verstand, von seinem Rauswurf aus der Schule, von seiner Angst, nicht zu genügen und wie eingeschränkt und unglücklich er sich fühlte.
Erstaunt spürte er, wie wohl es ihm tat, dies alles berichten zu können. Statt herumzudrucksen und sich jedes Wort zu überlegen, bevor er es aussprach, kamen ihm die Sätze flüssig von den Lippen, auch jene Episoden, die er ungern erwähnte. Emma hörte aufmerksam zu. Sie unterbrach ihn nie.
Inzwischen stand die Sonne im Zenit, die Kirchenglocken begannen mit ihrem Geläute. Emma schrak hoch. «Oje, wir müssen los, ich muss das Mittagessen kochen!»
Thomas nahm rasch ihre Hand, hielt sie fest. Ihr Gesicht rötete sich, aber sie zog ihre Hand nicht zurück. «Danke, Emma, du hast mir sehr geholfen durch dein Zuhören! Emma», er stockte, brach ab, «ich möchte dich wieder-sehen!»
Emma zögerte. Thomas sprach rasch weiter: «Hier. Morgen um die gleiche Zeit. In Ordnung?» «Ich weiss nicht, ob ich kommen kann», erwiderte Emma unsicher. «Ich warte hier», wiederholte Thomas bestimmt.
Thomas wartete, nicht nur einen Tag, sondern eine Woche. Gespannt sass er am Waldrand, mit pochendem Herzen, und später mit enttäuschtem Blick, weil Emma nicht auftauchte.