Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 5
Оглавление«Ein Mädchen ist’s.»
Oswald Kunz sass in der Wirtschaft. Seine Frau gebar ihr sechstes Kind. Fuhrwerke auf der Dorfstrasse wirbelten Staubwolken auf.
Die Sonne war untergegangen, die Wigger floss ruhig dahin, der Abendwind liess die Apfelblüten schaukeln. Am Dorfrand sangen die Lerchen, und über den Feldern hing der Ruf eines unsichtbaren Bussards. Aus den Schornsteinen der Häuser quoll der Rauch der Herdfeuer. Der Dorfwirt hatte den Platz vor seiner Gaststätte gewischt und die Petrollampen in der Stube entzündet.
Auf dem Scheurberg stand das behäbige Bauernhaus. Sein mächtiges Dach schwang sich weit gegen den Boden und schützte Hof und Brunnen wie ein breiter Flügel. Auf der Südseite des Hauses wohnte der Bauer mit seiner Familie. Dort strahlten die Fensterläden in dunklem Grün, und das Mauerwerk leuchtete frisch getüncht. Der Stall in der Mitte des Hauses war geräumig, der Boden sauber gefegt. Im Tenn darüber lagerten reichlich Heu und Getreide. Ein Knecht trieb das Vieh von der Weide heim.
Am zugigen Nordende des Hauses waren viele Butzenscheiben blind, die Fensterläden hingen in angerissenen Halterungen. Hier wohnte die Familie des Handwebers Kunz aus dem alten Dorfgeschlecht der Steffens zur Miete.
Im Keller, in dem die Feuchtigkeit wie ein Fluch aus längst vergangenen Tagen in den Mauerecken hing, stand der Webstuhl. Darüber lagen die russgeschwärzte Küche und ein kleiner Wohnraum mit einem grünen, bauchigen Kachelofen. Im oberen Stock, durch eine Holzstiege von aussen erreichbar, befanden sich zwei winzige Schlafkammern.
Rosina Kunz lag bleich in ihrem Bett. Die Laken leuchteten makellos weiss, die Löcher im Stoff waren sauber vernäht. Das Hemdchen für den Säugling, fein umstickt, hing griffbereit neben dem Weidekorb, der mit Spreusack und Wolldecke ausgerüstet war.
«So, so», bemerkte Hebamme Moll anerkennend, «schön hast du alles vorbereitet! Und deine Maria ist ein braves Mädchen, sie hat schon einen Topf mit Wasser aufgesetzt, das gefällt mir. Aber es ist so ruhig im Haus, wo sind die anderen?»
«Die zwei Jüngsten sind bei meiner Schwägerin. Sie behält sie einige Tage bei sich. Und Jakob hilft dem Bauern im Stall. Dafür bekommt er Milch für uns alle.»
«Ein tüchtiger Junge», die Hebamme hielt inne, «allerdings, wenn ich es mir recht überlege, sieht er für sein Alter gar klein und mager aus.» Sie unterbrach ihren Monolog und schlug die Decke über der Schwangeren zurück. «Wie weit ist es denn hier? Das Wasser ist gebrochen, hast du gesagt?»
Mit kundigen Händen untersuchte die ältere Frau den Unterleib der Schwangeren. Die Frau im Bett stöhnte auf. «Das Kind kommt bald», murmelte die Hebamme, «hier Rosina, ich gebe dir den Mundstrick, beiss drauf, wenn es zu arg wird.»
Die Abendsonne schien schräg durch das kleine Fenster in die Kammer, als Emma ihren ersten Atemzug tat. Die Kirchenglocken von Brittnau läuteten den Sonntag ein.
«Vater!» Jakob zupfte seinen Vater am Ärmel. «Komm heim! Ein Mädchen ist’s!»
«So, ein Mädchen, da musst du nur eine Runde zahlen, Kunz! Du hast Glück gehabt, bei einem Knaben wären es zwei Runden gewesen. Aber wer weiss, wenn du so weitermachst, dann zahlst du uns jedes Jahr eine Runde!» Derbes Gelächter hallte durch den niedrigen Raum, der Redner schlug sich auf die Schenkel.
Samstagabend, die Wirtsstube war voll. Die Arbeitswoche war hart gewesen, Scherze auf Kunz’ Kosten hoben die Stimmung.
Oswald Kunz winkte dem Wirt: «Eine Runde Schnaps für alle!» Er wandte sich seinem Sohn zu: «Sag der Mutter, ich komme.» Das vom Alkohol gerötete Gesicht in den Händen vergraben, haderte er mit der Welt. «Noch eines. Und immer weniger Verdienst.» Die Angst schnürte ihm für einen Augenblick die Kehle zu, drückte auf seine Brust wie ein grosser Fels. Wie würde es wohl weitergehen? Schnell griff er zum Schnapsglas und leerte es in einem Zug.
«Du kannst auswandern, ins gelobte Land Amerika!», krächzte eine Stimme in sein Ohr. «Die Gemeinde wird die Reise bezahlen, die sind froh, solche wie uns loszuwerden», tönte es aus einer anderen Ecke. Das war Hans Ueli Roth, auch er Handweber. Ohne Zukunft, ohne Aussicht, ohne Mitleid. «Oder hat die Frau dich festgebunden mit ihrem Rockzipfel?», höhnte einer vom Stammtisch. Er erwartete keine Antwort. Oswald Kunz bestellte noch einen Schnaps und stimmte in die Sprüche ein.
Er würde sich Zeit lassen mit dem Nachhausegehen.