Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 13
ОглавлениеAm Bach
Sonntagmorgen auf dem Land. Rundherum der Klang von Kirchenglocken. Frisch gebügelte Röcke, gestärkte Hemdkragen und sauber gewichste Schuhe. Der Braten im Ofen oder auch nur ein Kartoffelauflauf. Kaum Fuhrwerke, keine Arbeiter. Ruhe, Friede, rote Backen. Kirchgang, fest gefügtes Ritual, die Männer gingen anschliessend in die Wirtschaft, die Frauen an den Herd.
Emma eilte zur Kirche, die Bänder der weissen Sonntagsschürze im Gehen bindend.
Die schweren Kirchentore waren bereits geschlossen, der Klang des ersten Liedes, das die Kirchgänger angestimmt hatten, drang gedämpft nach draussen: «Näher mein Gott zu Dir».
Das Mädchen stand vor dem ehrfurchtgebietenden Portal. Es zögerte, verharrte unentschlossen. Die Schwere des Bauwerks passte so gar nicht zur Leichtigkeit, die es angesichts dieses hellen Tages empfand. Emma drehte sich um und ging. Schnell an der Kirche vorbei, die schmale Gasse hinab und hinaus aus dem Dorf. Über eine Wiese voll blühender Blumen, hinunter an den Bach rannte sie und liess die Gedanken fliegen.
Schliesslich setzte sie sich ins Gras und legte das Gebetbuch neben sich. In der Kirche war es ihr am Sonntag zu eng. Die Gedanken der Menschen in dem Gebäude klangen durcheinander, lauter als der vorgetragene Choral. Und all die Frauen, die argwöhnisch kontrollierten, ob ihre Kleider auch sauber und geflickt waren! Unangenehm. Sie streifte die kratzigen Strümpfe ab, um ihre Füsse ungehindert ins Bachwasser tauchen zu können.
Das schwarze Buch, das neben ihr lag, erinnerte sie an ihre Pflichten. Schuldbewusst nahm sie es in die Hand und las ein Gebet. Während sie las, wusste sie genau, dass sie am richtigen Ort war, ihr Herz jubelte, ihr Blut pulsierte, die Haut an den Beinen rötete sich im kalten Wasser.
Emma hoffte, dass ihre Mutter nichts von ihrem Ausflug an den Bach erfuhr, den sie anstelle des Kirchgangs unternommen hatte. Die Mutter lag zuhause im Bett. Krank. Eine ganze Woche lang hatte sie es nie verlassen. Eine Fehlgeburt, und Rosina war um ein Haar gestorben, verblutet. Die Hebamme hatte dem Vater ins Gewissen geredet, die Mutter dürfe keine Kinder mehr bekommen, das nächste würde sie nicht überleben. Der Vater hatte gemurrt, getobt und der Hebamme gedroht, aber jetzt liess er Rosina in Ruhe. Dafür verbrachte er noch mehr Zeit im Wirtshaus. Der Himmel strahlte blau, über ihrem Haus stand eine graue Wolke.
Die Sonne schien, und so schmerzvoll, wie Emma Drangsal erlebte, so sehr fühlte sie auch die Kraft des Lebens. Jetzt genoss sie dieses Geschenk. Hier an diesem Bach war Gott nahe, gleich neben ihr, und sie wandte sich an ihn. Worte formten sich, und schnell nahm sie aus der Rocktasche das kleine Notizbuch, das ihr der Lehrer Kuhn geschenkt hatte. Damit sie ihre Geschichten aufschreiben könne, hatte er gemeint. Dieses Büchlein, das sie immer bei sich trug, war Emmas grösster Schatz. Sie schrieb ihre Sätze in kleiner Schrift, damit es nicht so schnell voll würde.
Nun sass sie konzentriert da, das Büchlein auf dem Schoss, den Bleistiftstummel in der Hand:
«Du armi Seel, was jammerist
Dem andre dini Sorge.
Lue, jede bhaltet’s Glück für sich,
Nit eine tuets dir borge.
Wenn z’lide häst, so träg es still,
Doch eis tue nit vergesse,
s chunt anders scho, wenn Gott es will,
Er tuet ja s’Glück zuemesse.
Gott schenkt au Trost zur rechte Zit,
Hilft Not und Chummer träge,
Und wär’s zum Ziel au lang und wit,
Im Warte lit dr Säge.»
Fein säuberlich reihten sich die Buchstaben aneinander, selbstverständlich fanden sich die Reime. Emma lächelte zufrieden und steckte ihr Heft zurück in die Rocktasche. Sie sinnierte vor sich hin, zwischen den dunklen Augen richtete sich steil eine Falte auf. Plötzlich wurde ihr der Kopf schwer, und sie stützte ihn auf die Hände.
Vieles von dem, was der Pfarrer in der Kirche predigte, verstand sie nicht. Es klang sehr streng, fremd und wurde mit ernstem Blick verkündet. Es war verknüpft mit so vielem, was man sollte und musste und nicht durfte. Emma kannte den Unterschied zwischen Büchern und dem Leben, zwischen dem Reden und dem Sein sehr genau. Den Graben zwischen den Worten in des Pfarrers Predigt und seinen Gedanken konnte sie lesen wie ein einfaches Buch. Solche Widersprüche stanken wie verschwitzte Socken.
Emmas Fähigkeiten, Verborgenes wahrzunehmen, nahmen rasch zu. Kaum etwas in ihrer Umgebung entging ihr. Die Fähigkeit wurde zur Pein, oft so schlimm, dass sie meinte, sie nicht mehr zu ertragen. Dann hämmerte ein Schmerz in ihrem Kopf, die Gedanken rasten, ihr wurde übel. In solchen Momenten reichte ihr die Mutter die Bibel, damit sie darin lese und Trost fände.
Rosina Kunz war bange, als sie zu verstehen begann, dass ihr Kind mehr sah als andere, dass es Worte hören konnte, bevor sie ausgesprochen wurden, dass es ins Innere der Menschen blickte wie durch eine Fensterscheibe in ein Haus. Das war in ihren Augen Hexenwahn, und davor vermochte nur der Glaube zu schützen – wenn überhaupt. Emma war dies nur recht, sie las gern, und Jesus Christus, der sich für die Menschen geopfert hatte, erschien ihr als Vorbild. Auch er hatte gelitten, so wie sie selbst litt, und auch er war ausgelacht und ausgestossen worden. Das tröstete sie.
Der Klang der Kirchenglocken drang in Emmas Bewusstsein. Sie erschrak. Schon so spät! Schnell streifte sie die Socken über, schlüpfte in die Schuhe, nahm ihr Buch und rannte an der Kirche vorbei, bevor sich das grosse Portal öffnete und die Kirchgänger sie erblickten. Zuhause schlüpfte sie in die Küche. Ihre Mutter stand am Herd, schwach und zittrig, in der Hand hielt sie ein Holzscheit. Der Herd war kalt.
Emma erschrak. «Mutter, was tust du da?» «Es gibt ein richtiges Essen», antwortete Rosina matt und deutete mit abwesender Miene auf den Tisch, auf dem ein frisch gerupftes Huhn ohne Kopf lag. «Endlich gibt es ein richtiges Essen. Der Schwager ist vorbeigekommen mit einem Suppenhuhn, er ist ein guter Mensch, Gott segne ihn.» Emma erschrak, das Suppenhuhn beachtete sie nicht, ihr Blick fixierte die Mutter. «Mutter, geh ins Bett, ich koche!» Die Mutter, bleich im Gesicht, wankte. Eingefallen die Züge, schwankend der Gang. Emma schob sie aus der Küche in Richtung Schlafkammer, die Mutter liess es mit sich geschehen. Elend langsam zog sie sich die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.
Emma band sich die Schürze um und griff nach dem Eimer: «Für diese Suppe hole ich frisches Wasser vom Brunnen», dachte sie. Eifrig machte sie sich auf den Weg und sammelte im Garten Kräuter, von denen sie wusste, dass sie der Kranken auf die Beine helfen würden.