Читать книгу Emma - Yvon Mutzner - Страница 20
ОглавлениеDie Eisenbahn
Doch auch dieser Sommer neigte sich dem Ende zu, die Tage wurden kürzer und kühler. Die Erntezeit kam, und unzählige Arbeiten auf dem Feld und in der Küche erlaubten Emma nur kurze Treffen mit ihrem Geliebten. Der Alltag und die unabänderliche Macht ihrer Situation begannen, ihre Liebe zu umklammern. Die Freiheit bekam Fesseln angelegt.
An einem Samstag war Feierstunde in Brittnau: Der Bahnhof wurde eingeweiht. Das ganze Dorf wartete auf den ersten Zug, der hier anhalten würde. Musik spielte, und Würste vom Grill verbreiteten verlockenden Duft. Das Bier floss, die Menschen waren fröhlich. Jetzt hatte Brittnau eine eigene Zughaltestelle, die Welt fuhr nicht mehr vorbei, sondern hielt an. Und damit Fortschritt, neue Zeiten, neue Hoffnungen. Die vor wenigen Jahren gegründeten Schweizerischen Bundesbahnen versprachen Verbindungen, Öffnung im ganzen Land, Aufbruch. Die Politiker versprachen sichere Arbeitsplätze für das Volk dank Mobilität und besseren Transportbedingungen für die Industrie. Die Stadt rückte näher und damit die Welt. Nun konnte man leichter nach Olten, Aarau, Zürich oder Luzern reisen, musste sich nicht mit Zofingen oder Dagmarsellen bescheiden.
Emma und Thomas nutzten den Moment und stahlen sich davon. Sie spazierten Hand in Hand die Schienen entlang, erklommen die Böschung neben der Bahnlinie und fanden ein geschütztes Plätzchen, von wo aus sie unbeobachtet den Zug sehen konnten. Sie waren vollkommen ineinander versunken, als das Stampfen der Dampflokomotive erklang. Beide richteten sich auf, Thomas schaute fasziniert auf die Eisenbahn. Emma sah dem Schienenstrang entlang, der sich gegen Osten und Westen zwischen den Hügeln und Feldern verlor.
Eine neue Zeit war da – kein Zweifel. Wohin wird sie uns führen, fragte sich Emma und blickte zu Thomas hinüber. Dieser wandte sich ihr zu; hastig, aber entschlossen, kam es aus ihm heraus: «Ich halte es hier nicht mehr aus! Ich habe mich entschlossen, ich wandere aus. Nach Amerika. Meine Mutter gibt mir ihr heimlich Erspartes. Nächste Woche gehe ich nach Aarau auf eine Auswanderungsagentur.» Er stockte einen Augenblick. «Emma, ich verreise nächsten Frühling.»
Thomas fasste Emmas Hände, sein Gesicht rötete sich leicht: «Kommst du mit mir mit, Emma?» «So schnell schon?», stotterte Emma, überrascht von der Klarheit seines Entschlusses. «Ja», jauchzte es in ihr, «nein», mahnte es, denk an deine Mutter, an Otto, Hulda und Mina.
«Aber Thomas, ich habe kein Geld! Meine Eltern sind mausarm, und mein Vater hat keine Arbeit mehr. Brächte Stephan nicht seinen schmalen Lohn von der Schuhfabrik heim, müssten wir verhungern!» «Das ist doch keine Sache!», meinte Thomas locker. «Die Ortsbürgergemeinde gibt allen Geld, die auswandern wollen. Das ist billiger für sie, als wenn sie die Armen hier unterstützen muss. Sieh’s doch so: Wenn du fortziehst, hat deine Familie eine Esserin weniger am Tisch. Du brauchst nur das Rathaus aufzusuchen und einen Antrag auszufüllen.»
«Bist du sicher? Wenn das so ist, komme ich mit.» Emma spürte ihr Herz klopfen. Ja, sie wollte mit ihm gehen! Um alles in der Welt wollte sie mit ihm gehen.
Thomas umarmte sie heftig. Der Zug war abgedampft. Das Bier war ausgetrunken.
Emma lief beschwingten Schrittes heim. Sie öffnete die Tür, die Mutter kam gerade von der Webstube herauf. Ihr Blick fiel auf das strahlende Gesicht der Tochter, sie giftete: «Hast du dich gut amüsiert? Meinst du, man habe nicht bemerkt, dass du dich mit dem nichtsnutzigen Sohn des Pfarrers herumtreibst? Das halbe Dorf klatscht darüber! Währendessen musste ich die ganze Wäsche allein machen!»
Rosina knickte zusammen, wurde bleich. Sie musste sich auf die Treppenstufe setzen. Emma erschrak. «Mutter! Ruhe dich aus, den Rest der Arbeit erledigen wir. Hulda und Mina werden gleich vom Fest heimkommen, dann können sie mir helfen.» Emma half der Mutter beim Aufstehen und führte sie in den oberen Stock. Rosina stöhnte und klammerte sich an Emma. Emma half ihrer Mutter, sich ins Bett zu legen und deckte sie zu wie ein Kind. «Emma», seufzte sie, und ihr Gesicht bekam einen befremdlichen Ausdruck, «was würde ich ohne dich tun?» Emma lächelte sie an und strich ihr über die Haare.
Dann eilte sie nach draussen. Ordentlich und sauber hing die Wäsche an den Schnüren, leicht bewegt vom Wind und angestrahlt von der Abendsonne. Das Schwein grunzte in seinem Koben. Der Abend zauberte goldene Sonnenlichter über den Garten. Emma hielt einen Augenblick inne, ganz still stand sie, nahm alles in sich auf.
Sie liess sich von der friedlichen Szene berühren, dankbar und still. Und aufgewühlt, weil ihr kostbares Geheimnis, der Schatz in ihrem Herzen, ihre grosse Liebe, kein Geheimnis mehr war, sondern wie eine schmutzige Zote in den Haushalten von Brittnau herumgereicht wurde. War dies das Leben, diese Gleichzeitigkeit von Frieden, Liebe und Schmerz? Bedeutete ihre Freude das Leiden der Mutter?
Emma sog die Herbstsonne in sich auf im Wissen um die Kälte des Winters; doch dieses Wissen schmälerte nicht die Wärme der Abendsonne. War das Leben dieses «Alles in Einem»? Die lebhaften Stimmen von Hulda und Mina unterbrachen ihre Gedanken. Schnell rief sie ihre Namen, bevor die beiden sich zu irgendwelchen Spielen aus dem Staube machen konnten.