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3. Rahmenbedingungen für einen zeitgemäßen Missionsbegriff

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Wenn der hier zu entwickelnde Missionsbegriff für die missionarische Jugendarbeit in der gegenwärtigen Lebenswelt tragfähig sein soll, sind dabei mindestens folgende Rahmenbedingungen dieser Lebenswelt zu berücksichtigen:

1 a) Der gegenwärtigen Gesellschaft sind in jüngerer Zeit unterschiedliche Etiketten aufgeklebt worden: Da ist von der „Multioptionsgesellschaft“ die Rede (Gross), von der „Risikogesellschaft“ (Beck), von der „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze), von der spätmodernen (Hauschildt/Patalong) oder postmodernen Gesellschaft (Inglehart). In der Schnittmenge dieser Analysen lassen sich drei Megatrends ausmachen, in denen sich viele andere Entwicklungen bündeln lassen: Individualisierung, Globalisierung und Pluralisierung. Diese Megatrends sind untereinander verbunden und wirken wechselseitig aufeinander ein. Dabei ist der Pluralismus-Begriff im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

2 b) Im Blick auf die Lebenswelt von Jugendlichen spielt die Multioptionsgesellschaft eine besondere Rolle. Jugendliche wählen heute nicht nur aus einer Fülle von Medien- und Technikangeboten, sondern sie wählen aus unüberschaubaren Angeboten Outfits, Freunde, Berufe, ethische und politische Optionen und Lebensstile. Die Vielzahl der Optionen erweist sich als durchaus ambivalent: Permanente Wahlmöglichkeit führt zu Optionsstress und zu Orientierungslosigkeit. Und bei all den Entscheidungen, die zu treffen sind, stellt sich natürlich auch die Frage nach den Kriterien: Warum entscheide ich mich denn für A und nicht für B? (Nicht nur) Jugendliche sind damit vielfach überfordert. Zugleich entsteht eine neue Sehnsucht nach Orientierung und Werten. Entscheidend wird sein, ob wir in dieser Situation in der Lage sind, die christliche Botschaft so zur Sprache zu bringen, dass sie als Orientierungshilfe wahrnehmbar wird. Ob sie sich als ermutigende Antwort erweist auf die Herausforderungen der Lebenswelt und ob sie die Sehnsucht der Menschen stillen kann nach „irgendwas, das bleibt“, also nach tragfähigen Werten. Gerade junge Menschen sind für eine solche Orientierungshilfe durchaus offen, wenn sie sich ihnen als Antwort auf ihre Fragen plausibel erweist.

3 c) Es wird kaum bestritten, dass wir es in unserer Gesellschaft nicht zuletzt in religiöser Hinsicht mit einer pluralistischen Situation zu tun haben. Michael Herbst spricht in diesem Zusammenhang wiederholt und zutreffend vom „Abend der christentümlichen Gesellschaft“. Was ist damit gemeint? Unter „christentümlicher Gesellschaft“ versteht Herbst einen Kulturraum, in dem sich der christliche Glaube in nahezu allen Gesellschaftsbereichen als prägend und formgebend erweist: Das Christentum ist Teil einer umfassenden kulturellen Wirklichkeit, wie sie sich z. B. im Schulgebet, anlässlich von großen Festen, bei der Vereidigung eines Präsidenten oder im privaten Bereich etwa bei Gebeten zu Mahlzeiten am häuslichen Tisch zeigt. Die so charakterisierte christentümliche Gesellschaft hat sich in langen und tief greifenden Prozessen bis hin zu einem weitgehenden Traditionsabbruch nahezu aufgelöst und existiert allenfalls noch in Restbeständen. Zugespitzt zeigt sich diese Situation in unserem Kontext in Ostdeutschland. Hier gilt in vielen Landstrichen Konfessionslosigkeit als Normalfall.

4 d) Der Abend der christentümlichen Gesellschaft ist nicht zwangsläufig der Abend des christlichen Glaubens. Er ist lediglich der Abend einer über viele Jahrhunderte vorherrschenden Gestalt des christlichen Glaubens. An deren Stelle tritt keineswegs nichts. Was sich jedoch massiv zeigt, sind die Folgen von Individualisierung und Globalisierung im Sektor des Religiösen: Hier gibt es Menschen, die ohne jede kirchliche Kontakte aufgewachsen sind, die aber für solche Kontakte durchaus aufgeschlossen sind, ebenso wie religiöse Patchwork-Identitäten, die sich aus sehr verschiedenen Bestandteilen zusammensetzen und bei denen neben christliche Elemente problemlos etwa fernöstliche oder esoterische treten können. Weiterhin ist damit zu rechnen, dass Menschen in der Gegenwart ihre Kenntnisse über den christlichen Glauben zunehmend den Medien (vor allem Fernsehen und Internet) entnehmen, wodurch oft eine Mischung aus mehr oder weniger zutreffenden Thesen, Skandalgeschichten und Vorurteilen entsteht.

5 e) Einen Zustand partieller „Religionslosigkeit“ diagnostizierte bereits Dietrich Bonhoeffer (2005 [1944]: 305–308), sah darin allerdings einen Vorteil, weil das Evangelium (so im Anschluss an Karl Barth) etwas grundlegend anderes sei als Religion. Religion lenke die menschlichen Erwartungen an die Gottesbeziehung in eine falsche Richtung von Metaphysik und Heilsegoismus. Wenn diese Diagnose zutrifft, wäre die Situation am Abend der christentümlichen Gesellschaft als Chance und Herausforderung zu begreifen, den christlichen Glauben in authentischer und alltagsbezogener Weise neu zu bezeugen.

6 f) Vieles von dem, was für die gegenwärtige gesellschaftliche Situation zutrifft, gilt für das Segment von Jugendlichen noch einmal in zugespitzter Weise. Auch hier hat es in den vergangenen Jahren verschiedenste Versuche von Etikettierungen (wie die Generation X oder Y – „why“ – oder die „pragmatische Generation“) gegeben. Es ist aber nicht damit zu rechnen, dass wir es (wie manche Jugendstudien suggerieren) alle paar Jahre mit einer völlig neuen Generation von Jugendlichen zu tun haben. Stattdessen gilt: „Die zentralen Lebensfragen und damit auch die Fragen, auf die Jugendliche im Bereich von Religion eine Antwort erhoffen können, bleiben auch langfristig gleich. […] Jugendliche müssen unter jeweils veränderten Rahmenbedingungen Strategien und Verhaltensmuster entwickeln, die ihnen ermöglichen, durchs Leben zu kommen und ihre (Lebens-)Räume zu finden, in denen sie ihre (Lebens-)Träume verwirklichen können“ (Freitag 2015: 86). Insofern ist Jugend als „ein offener Such- und Experimentierraum“ (Helsper 2013: 23) zu verstehen.

7 g) Bringt man die allgemeine gesellschaftliche Situation mit den spezifischen Herausforderungen des Jugendalters zusammen, so erscheint es im Blick auf ein angemessenes Missionsverständnis besonders wichtig, dass eine einladende Bezeugung des Evangeliums von Jesus Christus mit einem konsequenten Sich-Einlassen auf die Lebenswelt der Jugendlichen verbunden wird. Oder – um es mit den Worten der Kirchentheorie der Praktischen Theologen Uta Pohl-Patalong und Eberhard Hauschildt zu sagen: Die Herausforderung besteht darin, „Orientierung anzubieten in dem Wissen, dass die [christliche] Botschaft eine von vielen […] Weltsichten darstellt, für die es gute Gründe geben muss“ (Pohl-Patalong/Hauschildt 2013: 65).

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