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(2) Im Licht der Tradition

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Keine Schrift trägt sich selbst vor und erhält den Sinn allein von dem her, was in ihr „wortwörtlich“ geschrieben steht. Entscheidend ist das, was die Leser und Hörer realisieren. Besonders deutlich gilt dies für religiöse Schriften, die von bestimmten Glaubensvoraussetzungen abhängig sind, selbstverständlich auch für den Koran. Dieser ist eingebettet in die Gemeinschaft der Muslime und wird zunächst unter deren Voraussetzungen gelesen. Dazu gehört von früher Zeit an ein umfangreicher Kontext von Interpretationshilfen.

Nach dem Tod des Propheten und dem Ende der aktuellen Offenbarungen, mit der räumlichen Ausdehnung der Glaubensgemeinschaft und ihrer geschichtlichen Erstreckung, mit den Erfahrungen kultureller Pluralität und sozialer Veränderungen wurde die Gefahr immer kräftiger spürbar, dass der Koran einer gar zu strapaziösen Vielzahl von Deutungen ausgesetzt sein könnte. Zunehmend wurde deutlich, dass er in manchem seiner Mitteilungen nicht schon von sich aus hinreichend verständlich ist, vor allem aber in seinen Weisungen auf die vielfältigen und wechselnden Situationen des Lebens hin präzisiert und ergänzt werden musste. Dem versuchte man gerecht zu werden, indem man auf die Überlieferungen dessen zurückgriff, was der Prophet sagte, was er tat und was er stillschweigend billigte oder verwarf. Zusammenfassend bezeichnet man dies als die „Sunna“, d.h. „die übliche Praxis“ des Propheten, vergegenwärtigt in einer vieltausendfachen Fülle von Hadithen (d.h. „Mitteilungen“, „Überlieferungen“).14 Jeder einzelne Hadith ist Teil des großen und vielstimmigen, in vielen Stücken fiktionalen Kommentars, den die Gefährten Mohammeds und die späteren Sammler ihrer Auskünfte der Nachwelt zum besseren Verständnis des Koran hinterließen. An diese Hadithe schließt sich von früher Zeit (deutlich fassbar im 9. Jh.) bis zur Gegenwart eine Fülle ausdrücklicher, teilweise sehr umfangreicher Kommentarwerke an.15 So ist der Koran umgeben von einem weiten Feld von Traditionen, aus dem ihm vielfältige, auch gegensätzliche Bedeutungen zukommen. Theologisch wird dies als Bindung an die Überlieferung verstanden; doch ergibt sich daraus faktisch ein kreativer Prozess im Wechselspiel von Traditionsvorgaben und aktuellen Bedürfnissen, von Vergangenheit und Gegenwart. Nur in diesem Sinn kann der Koran als die Quelle der islamischen Lebensordnung, der Scharia, angesehen werden.16 Keinesfalls kann man in ihm schon all die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen eindeutig verzeichnet finden, die von ihm her ihre Verbindlichkeit haben sollen. In kritischer Koranforschung wird sogar intensiv diskutiert, inwieweit der Koran selbst erst aus einer solchen kreativen Traditionsgeschichte hervorgegangen ist.17 Auf jeden Fall aber ist er in seiner literarischen Gestalt ein eigenständiges Werk, das uns schon aus formalen Gründen nötigt, zwischen den Worten des Propheten und dem, was der Koran sagt, deutlich zu unterscheiden.18

So hat das Buch seinen Platz in einer gläubigen Lese- und Lebensgemeinschaft. Sie ehrt es, anhänglich mit Herz und Seele, als den „edlen Koran“ (al-qurʾānu l-karīm: 56,77). Es gewinnt in ihr seine Bedeutungen und gibt diese wieder an sie zurück. Aus dieser Verbundenheit kann es nicht herausgenommen werden, ohne dass sich sein Sinn verändert. Deshalb kann es auch nicht genügen, einfach den Koran zu lesen, um den islamischen Glauben kennenzulernen, gar zu wissen, was Muslime – diese und jene, Musliminnen und Muslime – in ihrem Glauben denken und wozu sie sich angehalten sehen.

Dies ist ein grundlegendes Problem zunächst für nichtmuslimische Leser. Es stellt sich dann aber auch für die Muslime selbst: Der Koran soll ein universal ansprechendes, herausforderndes und verpflichtendes Buch sein, auch für Menschen, die nicht schon im islamischen Glauben und in islamischer Kultur zu Hause sind. Mehrfach bezeichnet er sich als „erinnernde Mahnung für alle Welt“ (z.B. 6,90). Die gelegentlich unter Muslimen gehegte Annahme, „dass über die erforderlichen Fachkenntnisse hinaus gerade die Zugehörigkeit zum Islam eine unerlässliche Voraussetzung für die Koranauslegung darstellt“19, steht dem Anspruch des Koran selbst entgegen. Die Teilnahme an der muslimischen Lebensgemeinschaft kann nicht notwendige Bedingung für das Verständnis dieses Buchs sein. Die Frage, wie Nichtmuslime den Koran legitim lesen und verständnisvoll aufnehmen können, müsste deshalb auch Muslime bewegen.

Der Koran

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