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b. Islamische Blickverengung gegenüber Bibel und christlichem Glauben

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Der Koran sieht andere prophetische Offenbarungen in seiner Nähe, räumlich und geschichtlich. Soweit er sie wahrnimmt – wie vor allem „die Tora“ und „das Evangelium“75 –, stehen sie für ihn in einer Folge, bei der die spätere Schrift die ihr vorausgehenden Schriften beglaubigt:

Wir haben die Tora hinabgesandt

In ihr sind Führung und Licht.

damit die Propheten, die gottergeben waren, für die Juden entscheiden …

Ihnen ließen wir Jesus, den Sohn Marias, folgen, um zu bestätigen, was schon

vor ihm von der Tora vorlag. Wir gaben ihm das Evangelium –

In ihm sind Führung und Licht.

um zu bestätigen, was schon vor ihm von der Tora vorlag, als Führung und Mahnung für die Gottesfürchtigen. …

Und wir haben dir (Mohammed) die Schrift mit der Wahrheit hinabgesandt, um zu bestätigen, was schon vor ihr von der Schrift vorlag, und darüber Gewissheit zu geben. (5,44.46.48)

Dem Koran ist dieses Verhältnis der unterschiedlichen prophetischen Schriften so wichtig, dass er es insgesamt über 20-mal anspricht, oft in knapperer Formulierung. Obwohl dadurch die Glaubenszeugnisse der anderen zunächst anerkannt und dem Koran gleichgestellt erscheinen, erleichtert dies die Beziehungen von Juden und Christen einerseits und Muslimen andererseits nicht, sondern kompliziert sie in mehrfacher Hinsicht:

Erstens geht der Koran bei seiner Beglaubigung der vorhergehenden Offenbarungsschriften davon aus, dass er sie damit in den anstehenden Auseinandersetzungen auch argumentativ auf seiner Seite habe und sie dementsprechend Juden und Christen vorhalten könne:

„Ihr Leute der Schrift, ihr habt keinen Boden unter den Füßen, bis ihr die Tora, das Evangelium und das, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt worden ist, ausführt.“ (5,68)

Doch die muslimische Überzeugung, dass der Koran die vorausgehenden Offenbarungen nur „bestätige“, findet keine Zustimmung bei den entsprechenden Glaubensgemeinschaften. Sonst müssten Juden und Christen einräumen, dass sie Hinweise auf den kommenden Propheten Mohammed schon

bei sich in der Tora und im Evangelium verzeichnet finden (7,157).

Nach dem Koran sagte Jesus ihn ausdrücklich an:

„Ihr Kinder Israels, ich bin Gottes Gesandter für euch, um zu bestätigen, was schon vor mir von der Tora vorlag, und einen Gesandten zu verkünden, der nach mir kommt. Sein Name ist Ahmad – Hochgelobter –.“ (61,6)

Als Ankündigung Mohammeds wird dieses Wort schon in früher muslimischer Tradition verstanden. In „Aḥmad“ erkannte man denselben Wortstamm wie in „Muḥammad“. „Gleicherweise bezog man aus der Bibel Jesu Verheißung des „Fürsprechers“ und „Geistes der Wahrheit“ (Joh 15,26) auf Mohammed,76 ebenso des Mose Vorhersage, dass Gott einst „einen Propheten … wie mich“ schicken wird (Dtn 18,15, variiert in V. 18).77 Aber diese aktualisierenden Interpretationen liegen Christen wie Juden fern.

Deshalb richtet sich auch gegen beide der Vorwurf, sie klammerten sich an ihr beschränktes oder gar verkehrtes Schriftverständnis, so dass sie sich dem Wort Gottes versperrten, sobald es ihnen nicht aus ihrer Vergangenheit zukäme, sondern von einem gegenwärtigen Propheten:

Wenn man zu ihnen sagt:

„Glaubt an das, was Gott herabgesandt hat!“,

sagen sie:

„Wir glauben an das, was auf uns herabgesandt worden ist.“

Sie glauben aber nicht an das, was danach gekommen ist, obwohl es die

Wahrheit ist, die bestätigt, was ihnen schon vorliegt. (2,91)

Distanziert gesagt, heißt dies, dass Juden und Christen nur das als verbindlich anerkennen, was ihnen aus der Traditionsgeschichte ihres Glaubens zukommt, während ihnen das, was sich in seiner Wirkungsgeschichte an Neuem ergibt, nichts gilt. In der Tat liegt darin das fundamentale interreligiöse Problem von Judentum, Christentum und Islam.

Dass „die Leute der Schrift“ die Wesensgleichheit des Koran mit ihren eigenen Offenbarungszeugnissen nicht wahrnehmen, ist für den Koran eine Folge der Verstocktheit ihres Herzens78:

Aber nein! Gott hat es wegen ihres Unglaubens versiegelt, so dass sie nur wenig glauben. (4,155)

Mancher unter ihnen hört dir zu. Wir haben aber eine Hülle auf ihr Herz gelegt, so dass sie es nicht begreifen, und in ihre Ohren Schwerhörigkeit. Selbst wenn sie jedes Zeichen sehen, glauben sie nicht daran. (6,25)

Dabei greift der Koran zum Verständnis der Verweigerung, die ihm widerfährt, auf dasselbe Verurteilungsmuster zurück wie im Neuen Testament Paulus angesichts der „Israeliten“, denen er das Evangelium Christi verkündigen wollte: „Aber ihr Sinn wurde verdunkelt. … Ja, bis heute liegt eine Decke auf ihrem Herzen, sooft aus Mose vorgelesen wird.“ (2 Kor 3,14f) Denn wer die Zeugnisse nur richtig aufnähme – so unterstellt Paulus –, der müsste auch der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi zustimmen. Aber einer solchen Annahme fehlt, bei Paulus wie im Koran, das hermeneutische Gespür für die Verständigungsschwierigkeiten zwischen der älteren Glaubensgemeinschaft und der jüngeren. Dies führt zur Verurteilung derer, die sich nicht in der Lage sehen, den „neuen“ Glauben mit dem „alten“ zu identifizieren.

Zweitens sah sich der Koran bei seiner Aussage, dass er mit den vorausgehenden prophetischen Zeugnissen übereinstimme und sie bestätigen könne, in Widerspruch aber auch zu den Schriften, wie sie bei Juden und Christen in Geltung waren. Deshalb erhebt er den Vorwurf:

Ein Teil von ihnen hat doch stets Gottes Wort gehört, dann aber, nachdem er es verstanden hatte, wissentlich entstellt. (2,75)79

Welche Art von Verfehlungen, Umdeutungen, Änderungen oder gar Fälschungen dabei gemeint sein könnte und in welchem Ausmaß und an welchen Stellen die biblischen Schriften davon betroffen sein sollten, wird nicht gesagt und in der islamischen Theologie verschieden beantwortet (im Laufe der Zeit zunehmend nicht bloß mit der Behauptung von Schriftmissbrauch und Fehlinterpretationen, sondern von Textverderbnissen). Auf jeden Fall eröffnen diese Vorhaltungen die Möglichkeit, die Unterschiede von Bibel und Koran allein den älteren jüdischen und christlichen Überlieferungen anzulasten und ihnen damit ihre Traditionsautorität zu nehmen: Sie sollen nicht mehr authentische Zeugnisse des Glaubens sein, schon gar nicht geschichtliche Vorgaben für den Koran selbst. Aber so werden die interreligiösen Differenzen in der Berufung auf „Gottes Wort“ nicht gemindert, sondern nur noch verstärkt.

Drittens konnte sich in der Neuzeit der Vorwurf, die biblischen Schriften seien nicht mehr authentisch, auf die historisch-kritische Einsicht in deren traditionsgeschichtlichen Charakter berufen. In der Tat haben wir im Neuen Testament nicht „das Evangelium Jesu“ als dessen originäres Wort, als eine einzelne Schrift, sondern vier Evangelien als Erinnerungen an Jesus, voneinander deutlich verschieden – und daneben noch viele weitere Schriften, vor allem die Briefe des Paulus mit dessen eigener Theologie. Ähnlich steht es selbstverständlich mit der jüdischen Bibel, dem christlichen Alten Testament: Es ist eine vielstimmige Sammlung unterschiedlicher Zeugnisse, Ergebnis langer Überlieferungswege, oft unüberschaubar.

Dies hat als Konsequenz – viertens – das verbreitete muslimische Desinteresse an den jüdischen und christlichen Glaubensurkunden, wenn man nicht gerade einige Stücke zur Erläuterung und apologetischen Bekräftigung des Koran gebrauchen kann.80 Zudem scheint es zu genügen, sich auf die eigene Schrift zu beschränken, um auch die der anderen zu kennen; denn:

Dieser Koran kündet den Kindern Israels das meiste von dem, worin sie uneins sind. (27,76)

Im selben Sinn sagt Gott zu Mohammed mit Blick auch auf andere Glaubensgemeinschaften:

Wir haben auf dich die Schrift nur hinabgesandt, damit du ihnen klarmachst,

worin sie uneins sind, und als Führung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben. (16,6481)

Alle könnten zuverlässig erfahren, wie es um ihren Glauben bestellt ist, wenn sie nur auf das hören wollten, was ihnen Mohammed verkündet.

Dementsprechend hat die „Bestätigung“ des Evangeliums Jesu durch den Koran zur Folge, dass die neutestamentlichen Evangelien und erst recht die nachfolgende christliche Glaubensgeschichte für Muslime faktisch bedeutungslos werden.

Bei alldem wird schließlich – fünftens – eine grundsätzliche Differenz des christlichen Verständnisses von „Schrift“ als „Wort Gottes“ gegenüber dem islamischen offenbar (eine Differenz, die zwar in ihren Konsequenzen auch den Christen erst durch die neuzeitlichen Bibelwissenschaften voll bewusst wurde, aber im Prinzip schon von vornherein offenlag): Während die neutestamentlichen Schriften nur Zeugnisse der frühen Christen sind, nicht das unmittelbare Wort Jesu und noch nicht einmal insgesamt Erinnerung der ersten Generation, und die Bibel als ganze eine Sammlung von Texten einer weitreichenden Erfahrungs- und Glaubensgeschichte darstellt, ist der Koran nur das Wort, wie es der eine Prophet verkündete und seinem Anspruch nach unmittelbar von Gott erhielt. Dies ist nicht nur die muslimische Überzeugung, sondern wahrscheinlich weitgehend auch der historische Sachverhalt.82 (Dass Nichtmuslime den Glauben an die exklusive Autorschaft Gottes nicht teilen und nach den traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen des Koran fragen, ist eine andere Sache.)

„Das Evangelium“ freilich, das vom Koran her der Vielzahl der biblischen Evangelien kritisch entgegengesetzt werden könnte, ist ein Phantom. Es gab dieses eine Evangelium Jesu weder als originär vorausliegende Schrift noch in anderer Gestalt.83 Von Anfang an wurde das Zeugnis von Jesu Verkündigung mit aufgebaut durch diejenigen, die sein Wort und Wirken erfahren und weitergesagt haben. Während in muslimischer Sicht häufig Paulus oder gar erst das Konzil von Nizäa (325) für die Verderbnis haftbar gemacht werden84, ist dieser Vorgang der verarbeitenden Rezeption und Tradition, der Vielstimmigkeit und Veränderungen einschließt, schon im Ursprung biblischer Tradition anzusetzen.

Prinzipiell erweist sich die Bibel von den ältesten Glaubensurkunden Israels her als die Bezeugung vielfältiger menschlicher Erfahrungen. Was in der Sprache des Glaubens und der Theologie „Offenbarung Gottes“ heißt, stellt sich zugleich als ein Lernweg dar – mit Einsichten und Enttäuschungen, mit Gewissheiten, Verunsicherungen und Korrekturen, mit Fortschritten und Umwegen. Dies zeigt sich in den geschichtlich-erzählenden Teilen der Bibel ebenso wie in den prophetisch-verkündenden, den liturgisch-betenden oder gar den weisheitlich-lehrenden. Hier trifft nicht die Alternative des Koran: entweder Gottes Wort und Schrift oder menschliche Einbildungskraft und Tradition, entweder die im Grund immer gleiche Weisung Gottes oder menschlicher Eingriff und Verfälschung. Juden und Christen haben mit ihren biblischen Zeugnissen kein Buch, das dem Koran entspräche und wissen dies zu schätzen.

So liegt es nahe, dass sich eine Lektüre des Koran, die nicht von den hermeneutischen Voraussetzungen eines islamischen Offenbarungs- und Schriftverständnisses ausgeht, in vielem von dem unterscheidet, wie Muslime das Buch ihres Glaubens lesen. Vielleicht werden sie die Differenzen sogar in wesentlichen Stücken für unüberbrückbar halten. Dennoch lassen sich die jeweiligen Zugänge nicht einfach als „richtig“ oder „falsch“ abstempeln. Der Koran ist nicht von sich aus schon auf eine Lesart hin fixiert, sondern auf unterschiedliche Bedeutungen hin offen. Deshalb kann es einen christlich-theologischen Zugang zum Koran auch ohne das Einverständnis muslimischer Theologie geben. Der Abstand der einen Lektüre von der anderen muss dabei jedoch bewusst bleiben. Wenn er ernst genommen wird, und sei es als irritierender Faktor, könnte er für beide Seiten fruchtbar sein.

Der Koran

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