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11. Interpretationen des leopoldinischen Reichs

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Unter der Herrschaft Leopolds I. widmeten sich große neue Interpretationen des Reichs der Beschreibung und Definition des politischen Systems, aber auch seiner Reformierung. Die Überfülle derartiger Literatur ist keine Überraschung. Der Dreißigjährige Krieg hatte Texte hervorgebracht, die schonungslos die widersprüchlichen Standpunkte darlegten. 1619 hatte Dietrich Reinkingk eine eindringliche Analyse des Reichs als Monarchie vorgelegt. Seine Ansichten waren umso einflussreicher, da er Lutheraner war, und sein Buch wurde während des Krieges dreimal neu aufgelegt (1622, 1632 und 1641).1 Seinen Argumenten entgegnete Bogislaus Philipp Chemnitz (unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide), dessen entschieden gegen Habsburg gerichtete Streitschrift für das Reich als Aristokratie 1640 erschien und während der Friedensverhandlungen 1647 neu aufgelegt wurde.2 Reinkingk veröffentlichte 1651 eine vierte, revidierte Ausgabe seine Buchs, aber der Westfälische Friede, dessen Bedingungen eine echte Monarchie bewusst ausschlossen, machte seine Argumente hinfällig. Da sie sich zu den tatsächlichen Befugnissen des Kaisers ausschwiegen, provozierten die Verträge indes zweifellos weitere Debatten über die aristokratische Theorie von Chemnitz.

Zugleich stimmten die Teilnehmer der Diskussion nach 1648 in vielen Punkten überein. Hermann Conrings 1643 publizierte Erforschung der Ursprünge deutschen Rechts bestätigte, was bereits viele andere politische Autoren verfochten hatten: Obwohl es das Wort »römisch« im Namen führte, gab es keine Verbindung des Deutschen Reichs zum Römischen Imperium. Das römische Recht hatte also für das Reich auch keine zwingende Geltung, und angemessen verstehen ließ sich das Reich nur durch die Untersuchung der Eigentümlichkeiten seiner Traditionen und Bräuche.3 Damit befreite Conring das Reich von einigem Ballast und richtete das Interesse auf seine Funktion als Gemeinwesen.4 Er selbst trug zu diesem Studiengebiet nichts weiter bei. 1650 wechselte er von seiner naturphilosophischen Professur zum Lehrstuhl für Politik in Helmstedt und konzentrierte sich bis zu seinem Tod 1681 auf die Geschichte der einzelnen Territorien. Die superioritas des Kaisers wies er nicht ausdrücklich zurück, aber dass es ihm nicht gelang, die Beziehungen zwischen Territorien und Reich zufriedenstellend zu erläutern, zeigt deutlich die Ambivalenz des Westfälischen Friedens und der frühen Versuche der Nachkriegszeit, die Macht des Kaiser zu beschränken.

In den folgenden Jahrzehnten gab es eine Reihe neuer Ansätze. Den wichtigsten akademischen Beitrag lieferte wohl Conrings Schüler Ludolf Hugo (* 1632, † 1704) 1661 mit De Statu regionum Germaniae (Zur Stellung der Gebiete Deutschlands), worin er das Reich als Bundesstaat definierte.5 Wie andere vor ihm zeigte Hugo die Unterschiede zum schweizerischen oder niederländischen Modell einer Konföderation aufgrund von Verträgen unter Gleichen auf. Im Reich, argumentierte er, sei die Macht zwischen Imperium und Territorien geteilt. Die Fürsten übten auf einigen Gebieten die höchste Macht aus, auf anderen seien sie Gesetzen unterworfen, auf die sich Kaiser und Reich geeinigt hätten. Zu Lebzeiten genoss Hugo beträchtliches akademisches Ansehen, sein Werk fand jedoch nicht den Widerhall der Schriften und Beiträge zur Reformdebatte von Pufendorf und Leibniz. Allerdings bildete Hugos Definition später die Grundlage für die von Johann Stephan Pütter nach 1750 entwickelte Theorie.6

Wenige Abhandlungen zum Reich wurden häufiger zitiert als Samuel Pufendorfs unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano Veronensis 1667 veröffentlichtes Buch De statu imperii Germanici (Über die Verfassung des deutschen Reichs). Die als Werk eines italienischen Deutschlandbesuchers ausgegebene, in unakademischem Stil gehaltene Kritik am Reich löste eine flammende Debatte aus.7 Die Redewendung, auf die viele seiner Zeitgenossen ihr Augenmerk richteten – die Bezeichnung des Reichs als monstro simile – lieferte auch das Leitmotiv vieler moderner Darstellungen. Tatsächlich verstanden die meisten Historiker seiner und späterer Zeiten Pufendorfs Absichten schlichtweg falsch. Seine Kritiker warfen ihm vor, das Reich zu schmähen, aber Pufendorf bestand darauf, es sei ihm nur darum gegangen, seine Einzigartigkeit herauszustellen. Um Missverständnisse zu vermeiden, änderte er die Stelle zu tantum non monstro simile (beinahe einem Monstrum ähnlich) und tilgte sie schließlich gänzlich.8

Das Buch, das während Pufendorfs Professur der Jurisprudenz in Heidelberg (1661–1668) entstand, wollte das Reich untersuchen, wie es war. Unter Verweis auf Conring bot es eine umfassende Darstellung seiner Historie und suchte Antworten auf die Fragen, die die Sichtweise von Bodin und Hobbes, Souveränität sei unteilbar, aufgeworfen hatte. Laut Pufendorf ging das gegenwärtige deutsche System auf die Entscheidung der Herzöge nach dem Erlöschen der karolingischen Dynastie zurück, einen der Ihren zum König zu wählen. Im Feudalsystem hatte ein König Rechte an Adlige verliehen, die ihm untertänig blieben; der deutsche Adel hingegen hatte seinem König Rechte übertragen und seine Würde und Macht behalten.

Das Reich, argumentierte Pufendorf, sei weder eine echte Monarchie noch eine wirkliche Föderation. Seine angeborene Schwäche habe sich über die Jahrhunderte verschärft, indem die königliche Macht durch Kapitulationen, Gesetze, Bräuche und die immer lautstärkeren Machtansprüche der Fürsten eingeschränkt worden sei, was die Probleme der Gegenwart erkläre. Das Reich verfügte weder über Einkünfte noch über eine Armee.9 Kaiser und Fürsten standen einander misstrauisch gegenüber; die Reichsstände waren gespalten, viele verfolgten ihre Ziele durch Bündnisse mit fremden Mächten. Verstärkt wurden all diese Zerwürfnisse durch die religiöse Zwietracht. Die innere Sicherheit war gefährdet, die Bedrohungen durch Türken und Franzosen hatten offenbart, wie wehrlos das Reich Angriffen gegenüberstand.

Aus seiner Analyse zog Pufendorf zwei Schlüsse. Der erste war eine definitive Antwort auf die Frage nach dem Wesen des deutschen Staates. Für Pufendorf war klar, dass das Reich nicht in die üblichen Kategorien von Demokratie, Aristokratie oder Monarchie hineinpasste. In diesem Sinn war es monstro simile, ein irreguläres Gebilde. Von Hobbes übernahm Pufendorf den Begriff systema irregularis für eine Vereinigung von Teilen ungleicher Macht im Gegensatz zu einem »regulären« System, in dem »ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen alle Menschen verkörpern«.10 Das Reich war ein einzigartiges Gemeinwesen oder, wie er später erklärte, etwas zwischen einer Monarchie und einer Föderation.11 Mit der Schweizer Eidgenossenschaft oder der Niederländischen Republik hatte es ebenso wenig gemein wie mit der französischen Monarchie.

Pufendorfs zweites Anliegen war, Mittel gegen die Malaise des Reichs zu empfehlen. Hierbei fällt auf, dass er die antiimperialen Vorschläge von Chemnitz energisch zurückwies. Zwar kritisierte er die Habsburger, lehnte aber Chemnitz’ Forderung ab, sie davonzujagen, weil jeder andere gewählte Kaiser mit Sicherheit einfach ihre Länder übernommen und sich zum Herrscher über das Reich aufgeschwungen hätte. Viel besser sei es, alles zu unternehmen, um die innere Einheit zu stärken. Alle Reichsstände sollten eine generelle Garantie genießen, zukünftige Konflikte durch unabhängige Vermittler beigelegt werden. Das grundlegende Prinzip sei, dass »jeder in seinen Rechten geschützt werde und dass es niemandem möglich ist, den Schwächeren zu unterdrücken, damit so trotz der Ungleichheit der Macht die gleiche Sicherheit und Freiheit aller hergestellt werde«.12 Allianzen zwischen deutschen Fürsten und fremden Mächten seien zu vermeiden. Da es unwahrscheinlich war, dass die Habsburger ein zentrales Beratungsgremium der Länder akzeptierten, sollten die Fürsten an sie appellieren, die ihnen verliehene Macht selbst zu beschränken; hingegen müssten die Fürsten jedem Versuch widerstehen, ihre eigenen Rechte zu schmälern.

Die Angst vor Ausweitung oder Missbrauch der kaiserlichen Macht ließ Pufendorf jeden Vorschlag der Schaffung eines stehenden Reichsheers strikt ablehnen. Sein Hinweis, so etwas sei nicht nötig, solange sich das Reich ausschließlich auf Verteidigung beschränke, wurde im 18. Jahrhundert ein gängiges Thema der Literatur zum Reich.13 Was die Verteidigungsdebatte betraf, stand Pufendorf eindeutig auf der Seite der Befürworter von Ad-hoc-Streitkräften, die im Notfall mobilisiert und aus von den Ländern gestellten Kontingenten zusammengesetzt sein sollten.14

Pufendorfs Diagnose und seine Lösungsvorschläge unterschieden sich nicht sehr von denen anderer Reformer seine Zeit. Was die Lage der Konfessionen anging, zeigte er sich jedoch antikatholischer als die meisten. So gut wie alle reformerischen und interpretierenden Werke nach 1648 sahen die Glaubensspaltung als gegeben an, auch wenn die Möglichkeit ihrer Überwindung ein wichtiges Thema war.

Auch Pufendorf zielte auf Harmonie, machte jedoch die Katholiken hauptverantwortlich für den herrschenden Zwiespalt und wollte sie zur Heilung des Reichs an die Kandare nehmen. Es sei kein Wunder, schrieb er, dass die Kirche für viele zu dem Leviathan geworden sei, von dem das Buch Ijob erzählt.15 Sie habe Reichtümer für ihren Klerus angehäuft, den Laien die göttliche Wahrheit vorenthalten und einen päpstlichen Herrscher mit gottgleicher Autorität eingeführt. Die Klöster sollten nunmehr aufgelöst und die Jesuiten aus Deutschland vertrieben werden; mit den dabei abfallenden Geldern lasse sich ohne Weiteres eine Armee finanzieren, die Deutschlands Nachbarn fürchteten. Die Bischöfe zu beseitigen, schaffe jedoch möglicherweise mehr Probleme, als es löse, da ihre Ländereien in die Hände von Kaiser oder Fürsten fallen könnten, was das Gleichgewicht im Reich stören würde. Sie sollten sich lieber darauf besinnen, dass sie ihre Bistümer Deutschland verdankten, und als deutsche Fürsten Deutschland mehr lieben als Rom.16 Am besten, schloss Pufendorf, wären alle Deutschen während der Reformation zum Protestantismus konvertiert, denn an Luthertum und Calvinismus sei nichts, was den Lehren der Politik und somit der harmonischen Koexistenz von Kaiser und Ständen im Reich zuwiderlaufe.17

Pufendorfs höhnischer Antikatholizismus war der Hauptgrund für den Aufruhr um sein Werk. Manch einer richtete sein Augenmerk auch auf die Beleidigung des Reichs durch das Wort monstro. Andere strebten nach Wiederherstellung der theoretischen Grundlagen der monarchischen Autorität des Kaisers.

Aber Pufendorfs Wirkung dauerte fort. Das lag auch daran, dass sein Buch so leicht zu lesen war. Zudem überarbeitete er es mehrmals, tilgte unverhohlen antikatholische und antihabsburgische Passagen. In der letzten Auflage, die er besorgte und die nach seinem Tod erschien, ließ er die Maske des italienischen Reisenden fallen, mäßigte den satirischen Ton und aktualisierte den Text, indem er etwa darauf hinwies, dass der Immerwährende Reichstag die Stelle des zentralen Beratungsgremiums eingenommen habe, das er ursprünglich vorgeschlagen habe.18 Vor allem aber machte die entschiedene Absage an Chemnitz, das Bekenntnis zum Reich als Rechtsordnung und die Behauptung seines einzigartigen Charakters, der keinen theoretischen Kategorien entspreche, sein Werk zu einem der bedeutendsten patriotischen Traktate des späten 17. Jahrhunderts. Seine Beschreibung des Reichs als »System« blieb bis 1806 Teil des politischen Vokabulars.19

Johann Georg Kulpis (* 1652, † 1698) war der einflussreichste der vielen protestantischen Kritiker, die Pufendorf Verunglimpfung des Reichs vorwarfen. An Conring anknüpfend, erarbeitete er eine historische Darstellung von imperialem Recht und Traditionen als Basis für die gegenwärtige Verfassung des Reichs. Sein De observantia Imperiali, vulgo Reichs-Herkommen von 1685 wurde schnell zum Standardwerk. Kulpis trat 1686 in den Dienst des Herzogs von Württemberg und startete eine Reihe von Initiativen zur Wiederbelebung des Reichs, vor allem durch die militärische Organisation und Assoziation der süddeutschen Kreise im Pfälzischen Erbfolgekrieg ab 1688.20 Die Werke von Kulpis und anderen, etwa Gabriel Schweder (* 1648, † 1745) aus Tübingen, verknüpften Conrings bahnbrechende Befunde der 1640er Jahre und die systematische Analyse des deutschen Reichsrechts von Johann Jacob Moser (* 1701, † 1785), der als Student von Schweder geprägt worden war.21

Zu Pufendorfs Kritikern zählte auch der wohl produktivste aller Kommentatoren des Reichs im späten 17. Jahrhundert: Gottfried Wilhelm Leibniz (* 1646, † 1716). Der damals erst einundzwanzigjährige Doktor beider Rechte verurteilte Pufendorfs Schrift, weil er der Meinung war, sie mache das Reich zu einem bedeutungslosen und leeren System. Pufendorf sei »zu wenig Jurist und am allerwenigsten ein Philosoph«.22 Besonders erregt hat Leibniz offenbar Pufendorfs Trennung des Rechts von der Moral und dass er anscheinend darauf hinauswollte, das Reich sei kein Staat. Seine eigenen diesbezüglichen Schriften waren durchzogen von Versuchen, die Differenzen zwischen Kaiser und Fürsten zu schlichten und das Reich als Einheit darzustellen. Zugleich sah Leibniz im Gegensatz zu vielen, wenn nicht den meisten deutschen Kommentatoren nach 1648 das Reich immer unter europäischem Blickwinkel und als möglichen Ausgangspunkt für die Vereinigung des Christentums und die Schaffung einer neuen Weltordnung. In dieser Hinsicht verfocht er eine idealisierte Version der mittelalterlichen Universalidee des Reichs, von der er vielleicht glaubte, sie lasse sich in ein neues rationales Weltbild der Zukunft übertragen.23

Der Anlass für Leibniz’ Betrachtungen war der gleiche wie bei Pufendorf und anderen. Zu seinen Lebzeiten war das Reich ständig von Frankreich bedroht und viele seiner Vorschläge entsprangen der Sorge um die Verteidigung gegen die Franzosen.24 Zugleich schrieb Leibniz generell aus der Perspektive seiner fürstlichen Dienstherren; 1668 bis 1672 war das der Kurfürst von Mainz, von 1677 bis zu seinem Tod 1716 diverse Herrscher aus dem Haus Hannover. Während seiner langen Anstellung dort warb er unermüdlich für die Belange des Herrscherhauses und schrieb eine Flut von Pamphleten, die schamlos für solche Anliegen wie die Schaffung einer Kurwürde für Hannover eintraten. Zugleich beteuerte er wiederholt die Identität der Interessen von Kaiser und Fürsten, so etwa schon in Mainz: »Ich gehe von der Annahme aus, dass Kurmainz und das Reich ein gemeinsames Interesse teilen.«25

Der Versuch, die Interessen von Kaiser und Fürsten in Einklang zu bringen, prägte seine zahlreichen Reformprojekte und, weniger erfolgreich, seine konstitutionelle Analyse der politischen Ordnung. Die Sehnsucht nach Einheit führte zu Initiativen auf sechs Feldern: Militärreform, politische Einheit, religiöse Versöhnung, ein neues Gesetzbuch, wirtschaftliche Reformen und kulturelle Erneuerung. Die religiösen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen dieser Agenda haben wir bereits betrachtet.26 Leibniz’ rechtliche Vorschläge gediehen nicht sehr weit.27 Schon 1666 hatte er eine gründliche Revision des justinianischen corpus juris civilis angeregt, um alle Kontroversen auszuräumen und dem Reich ein modernes Gesetzbuch zu geben. Der revidierte Text sollte ins Deutsche übersetzt werden.

Dreimal (1671, 1677 und 1688) schrieb Leibniz dem Kaiser und bot ihm an, einen solchen Codex Leopoldinus zu erstellen.28 Die Antwort war immer negativ. Abgesehen von der Ablenkung durch militärische Krisen, wäre es extrem schwergefallen, alle Länder dazu zu bringen, eine solche Generalreform anzunehmen. Nicht einmal die Habsburger selbst waren scharf darauf, ihre Ländereien einem einheitlichen Reichsgesetzbuch zu unterwerfen. Schließlich zog Leibniz die Schlussfolgerung, eine neue Rechtsordnung werde es erst geben, wenn die größeren Territorien ein auf dem Naturrecht basierendes System vorlegten. Eine Synthese dieser Systeme werde dann vom gesamten Reich übernommen werden. Vorschläge von Leibniz für eine umfassende Rechtsreform in Hannover und Brandenburg wurden als erster Schritt in diese Richtung gedeutet.

Als Militärreformer wurde Leibniz erstmals 1670 mit dem Vorschlag einer Allianz deutscher Fürsten zur Bildung eines 20.000 Mann starken Heeres zur Verteidigung im Westen tätig.29 1681 sprach er sich für die Schaffung einer Reichsarmee aus Bürgerwehren und Söldnern unter dem Befehl eines vom Kaiser ernannten Generals aus. Das Reich, meinte er, könne nur überleben, wenn sich der Kaiser mit den mächtigeren Fürsten verbündete. Diese Ideen reflektierten die Position seines Dienstherren Herzog Ernst August von Hannover, eines der armierten Fürsten, die von unbewaffneten Ländern die Bereitstellung von Quartieren und Geld für ihre Streitkräfte erwarteten.30

Die politischen und verfassungsrechtlichen Probleme, die Leibniz’ Ansatz innewohnten, machte sein eigenes Werk zum öffentlichen Recht deutlich, das 1677 erschien und die Forderung seines damaligen Dienstherren Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg geltend machte, vollständig anerkannte Botschafter zu den Friedensgesprächen in Nimwegen zu entsenden. In seinem Caesarini Fürstenerii tractatus de jure suprematus ac legationis principum Germaniae (Über das Landesherrschafts- und Gesandtschaftsrecht der Fürsten Deutschlands) suchte Leibniz nach Rechtfertigung in Form einer föderalen Theorie des Reichs, die die Interessen von Kaiser und Fürsten in Einklang brachte.31 Einerseits definierte er den Kaiser als Gottes Stellvertreter und Beschützer der Kirche auf Erden, der im Reich volle Majestät genoss. Andererseits sprach er den Kurfürsten und mächtigeren Fürsten etwas zu, was er Supremat oder echte souveräne Macht über ihre Länder nannte. Daher, argumentierte er, sollten die Kurfürsten den gleichen Status haben wie gekrönte Häupter, sollten die Niederländische Republik oder Venedig und umgekehrt die anderen deutschen Fürsten als den italienischen Fürsten gleichgestellt anerkennen. Der Kompromiss zielte darauf ab, die Konflikte zwischen Kurfürsten und Fürsten beizulegen, die sich nach 1648 wie ein roter Faden durch die deutsche Politik zogen, und beiden das Recht zuzusprechen, bei internationalen Friedensverhandlungen vertreten zu sein.

Das warf zwei Probleme auf. Leibniz zog eine Trennungslinie zwischen den Reichsständen, die er als souverän und im Besitz des Supremats betrachtete, und den weniger mächtigen Ländern, die höchstens innere Suprematie und Rechtsprechung ausübten, was er als superioritas territorialis bezeichnete. Zweitens musste er die Idee einer Souveränität der Kurfürsten und Fürsten mit ihren Verpflichtungen gegenüber dem Kaiser unter einen Hut bringen. Seine Lösung war, Hobbes zu widersprechen und Souveränität für teilbar zu erklären.32 Das Reich, fand er, war nicht nur ein Staatenbund, sondern eine Union, die eine Persönlichkeit entwickelt hatte, die mehr als die Summe ihrer Teile war. Der Kaiser war der oberste Lehnsherr; er genoss Autorität, übte jedoch keine absolute Macht aus. Die Kurfürsten und Fürsten waren ursprünglich in eine Lehnsbeziehung mit ihm eingetreten und schuldeten ihm daher Gefolgschaft.

Die Quadratur des Kreises gelang Leibniz nicht. Von 1677 bis 1691 produzierte er ganze sechzehn revidierte Entwürfe der (leicht vereinfachten) französischen Version des Traktats.33 Mit jeder neuen Ausarbeitung verstärkte er die Autorität des Kaisers und betonte die Verpflichtungen der Fürsten gegenüber dem Reich, die aus ihrem Lehnseid an den Kaiser und der Vernunft entsprangen: In internationalen Angelegenheiten agierten sie souverän, im Reich sollten sie treue Untertanen des Kaisers sein. Letztlich sei es für die Fürsten und andere schlicht vernünftig und logisch, loyal zum Reich zu stehen, weil es das beste Modell einer christlichen Gemeinschaft darstellte. Das war auch einer der Gründe für die Befürwortung einer Überwindung der Glaubensspaltung und nationaler Akademien für Sprache und Wissenschaft: das Reichsethos zu festigen und die Überzeugung seiner Einwohner zu stärken, im Zentrum von etwas zu leben, aus dem sich irgendwann wieder eine christliche Weltordnung entwickeln mochte.

Leibniz’ Analyse des Reichs richtete ihren Blick nur auf die Beziehung der kleinen Anzahl »souveräner« Fürsten zum Kaiser. Über die Rechte weniger mächtiger Stände, etwa der Reichsstädte, der Reichsprälaten und Reichsritter, schwieg er sich aus; auch über die Kreise, die in Süddeutschland eine so wichtige Rolle spielten, wusste er nichts zu sagen. Auffallend ist zudem, dass in seiner Vision Züge der Mystik des mittelalterlichen Universalismus bewahrt blieben und er unbeirrt am mitteleuropäischen Enzyklopädismus festhielt.34

Bei all ihren Unzulänglichkeiten und Eigenarten bildeten Leibniz’ Ansätze, insgesamt betrachtet, dennoch eine Bekräftigung der Einheit des Reichs und seiner anhaltenden Bedeutung in der modernen Welt. Seine tatsächliche Wirkung ist schwer einzuschätzen. Viele seiner Projekte wurden nie publiziert, sondern nur unter Freunden diskutiert, fast nichts davon erfolgreich umgesetzt.35 Zweifellos diente er den politischen Interessen seiner Auftraggeber, aber das Haus Hannover wäre wohl auch ohne ihn zur Kurwürde gelangt. In mancher Hinsicht trugen Leibniz und Pufendorf dazu bei, den Blick auf die historischen Ursprünge der Rechte der Territorien zu richten, was um 1690 in einer Reihe wichtiger Beiträge diverser Autoren Früchte trug.36 Langfristig beförderten beide die Herausbildung der deutschen Naturrechtstheorien des Staates. Auf kurze Sicht, über knapp sechzig Jahre, war Leibniz’ markante Stimme ein beständiger Faktor in der Reichspolitik, der zum Wiedererstarken des Reichs nach 1648 sowie zu seiner Entwicklung zu mehr als nur einem losen Staatenbund beitrug.

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