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9London Calling
ОглавлениеEs war ein schwer beschreibbares Gefühl, im Fernseher zu sehen, beinahe unerträglich. Nicht, dass er nicht genügend Zeit gehabt hatte, sich an dessen mediale Omnipräsenz zu gewöhnen. Doch versuchte er seit langem und mit zunehmendem Erfolg diese zu ignorieren, bis er sie nicht einmal mehr wahrnahm. Anders an diesem Morgen, eine Woche nach den Anschlägen, als eine Wiederholung des Interviews gezeigt wurde, während er versuchte die Konsequenzen der vorangegangenen Nacht zu überwinden, sowie deren wie erwartet traurigen Ausgang zu vergessen. Wäre er nicht unerwartet bereits Vormittags zu Bewusstsein gekommen, wäre nur Rotwein und Valium als Option geblieben, um den Schmerz zu betäuben. Doch so reduzierte er sich zunächst auf zweiteres und schwachen Instantkaffee, da er nicht genügend gekauft hatte, um sich einen stärkeren zu machen. Furchtbar schmeckte er auf die eine, wie die andere Weise.
Unweigerlich begannen seine Gedanken abzusuchen, wann sie das letzte Mal aufeinander getroffen waren. Das sollte eigentlich nicht schwer sein, wäre es nicht soweit verdrängt worden – oder vielleicht lag es auch nur an der wachsenden Menge billiger werdenden Rotweins – dass es ein paar Sekunden dauerte. Die zerstörerischen Minuten, während der sie ihm erklärt hatte, dass es aus sei zwischen ihnen, weil sie mit Nico gevögelt hätte. Nur einmal und es hatte gereicht, um sie für immer seinen Fingern zu entreißen. Nur wenige Stunden nachdem er in London gelandet war, um sie zu besuchen. Der Beginn des vielleicht einzigen Abenteuers, welches er hätte erleben können, oder sich damals zumindest einbildete haben zu können, egal wie kurz und wie wenig zielführend. Sie hatte so schön ausgesehen, als sie ihn am Flughafen Heathrow abholte, ihre braune Haut im kahlen Neonlicht geradezu scheinend, wie ihre funkelnden, tiefblauen Augen. Die zweitletzte auf seiner Liste und mit gewisser Berechtigung, genauso gut die letzte. Ein Kuss zur Begrüßung, lang, zärtlich, wenig leidenschaftlich, aber vielleicht kam es ihm auch nur im Nachhinein so vor. Bis heute verwirrt über ihre Überraschung und wie sie ihn getroffen hatte, langsam zu einem Streit eskalierend, bis sie ihn vor die Tür setzte, mitten in der Nacht in London, für die er sich eine halbe Woche frei genommen, seiner Freundin Lügen erzählt, sein Konto tief ins Minus getrieben hatte. Aus heutiger Perspektive erschien es ihm unvorstellbar, wie es ihm damals gelungen war, nicht nur eine Freundin, sondern sogar eine Affäre zu haben. Sein altes Ich schien ihm so weit entfernt. Eine fremde Person, die er neidisch beäugte. So stand er angetrunken inmitten einer Londoner Herbstnacht vor einer zugeschlagenen Tür, die er mehrmals versuchte einzutreten, bevor er aufgab und aus Angst vor der Polizei das Gebäude verließ, ein Hotel suchte, sein letztes Geld für drei Nächte ausgab und anstatt sich schlafen zu legen nach Nicos Nummer suchte, von dem er wusste – von ihr, woher auch sonst – dass er sich ebenfalls in London befand. In einer Stunde sei er da, nannte den Namen eines Pubs, der weltgewandte Arsch wusste so etwas natürlich und so trafen sie sich dort. Beide angetrunken, Lippenstift so offensichtlich bewusst provokant an der Seite von Nicos Hemdkragen, ob von Senem oder einem anderen Mädchen konnte er genauso wenig sagen, wie, welche Vorstellung ihn schlimmer traf. Zum Glück hatten sie die Sperrstunden vor einigen Jahren nach hinten verschoben, sonst wäre ein neutraler Treffpunkt schwierig zu finden gewesen. Dennoch wäre es beinahe zu einer Schlägerei gekommen, die nur verhindert wurde durch die Erkenntnis, gegen Nico verlieren zu müssen und sich zumindest die Demütigung sparen zu können.„Du wusstest, dass ich was mit ihr habe. Wieso hast du das getan?“
„Du hast eine Freundin. Ich dachte, das wäre etwas Ernstes? Also warum regst du dich darüber so
auf?“
„Wie ich mit meiner Beziehung umgehe ist meine eigene Scheißangelegenheit. Ich kann sie betrügen so oft ich will. Außerdem macht sie es wahrscheinlich genauso.“
Das Bier war teuer und schlecht, oder vielleicht wirkte es nur so. Hässliche Briten auf jedem Stuhl, fette Bäuche durch zu enge T-Shirts hindurchpressend, zusammen mit einige Frauen, die kaum in das Bild passen wollten und mit deren Augen unweigerlich auf Nico lagen. Britische Frauen sahen in der Regel deutlich besser aus, als britische Männer. Oder war es umgekehrt? Christian fiel es schwer, sich erinnern. Zigarettenqualm durchdrang die Atemzüge und das Licht, welches sich aus verdreckten Lampen über sie ergoss. Vor der Bar regnete es, sich in Wellen auf den Asphalt ergießend, Fluten von Dreck und Tod durch die Straßen treibend, um hoffentlich irgendwann in der Kanalisation zu verschwinden. Hier gab es keinen Ausweg.
„Du kannst doch jede haben, mit deiner beschissenen Band. Mit wie vielen Mädchen hast du schon gevögelt? Komm, sag es! Wie viele?“, die Stimmte wurde lauter, niemand beachtete es, er ging im allgemeinen, monotonen Lärm unter, „zwanzig? Dreißig? Vierzig? Mehr? Wie viele allein diese Woche? Weißt du mit wie vielen ich bisher geschlafen habe? Nein, natürlich nicht. Du Arschloch wusstest, dass ich etwas mit ihr habe und anstatt dir irgendeine andere zu nehmen, musste sie es sein, musstest du sie mir wegnehmen. Und wofür? Wahrscheinlich war sie dir nach dem ersten Mal schon genug. Jetzt steht sie auf dich, will mehr von dir und wahrscheinlich interessierst du dich einen Scheiß dafür und ich stehe da und darf mir ein verdammtes Hotel suchen und die nächsten Tage alleine verbringen.“
„Ich habe sie dir nicht weggenommen. Sie ist ein Mensch, kein Besitz.“
„Ach, erspare mir deinen selbstgefällig aufgeklärten Bullshit!“
Ihre Haut war immer so weich gewesen, wie auch ihr Haar. In ihren Augen glaubte er sich verlaufen zu können – oder zu ertrinken – und sei es nur, weil sie ihn mit einer Zärtlichkeit und einer Leidenschaft anblickten, wie es niemand sonst tat und wohl niemand mehr tun würden. Bei ihr hatte er das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, zumindest für sie. Bedeutung für einen Menschen zu haben und sei es wirklich nur ein einziges Mädchen, schien damals helfen zu können – obwohl er wusste, dass es nicht stimmte, dass da immer noch ein anderes Mädchen war, die auf ihn wartete, was er versuchte zu vergessen, für die paar Stunden, die wenigen Tage, bevor er zurückkehren musste. Hatte sie die ganze Zeit eigentlich an Nico gedacht? Wie naiv er damals gewesen war. Er wusste, dass er sich in diesen Minuten in eine Form künstlicher Tragik hineinsteigerte, für die sein Leben nicht die passende Grundlage bot und er sich, spätestens in nüchternem Zustand, dafür schämen würde. Beides war ihm in dieser Nacht aber gleichgültig. Es brach aus ihm heraus und er spürte, dass er es weder aufhalten konnte, noch wollte, was durch Nicos geradezu apathisches Lächeln noch mehr gereizt und herausgefordert wurde. Irgendwo zwischen Mitleid und Herablassung. Je länger sie in der Bar saßen, desto unerträglicher wurde der Gestank um sie herum. Schweiß, Bier, Erbrochenes, Urin, Verfall und Aggression.
Dieser Gestank war es, den Christian gerade wieder um sich fühlte, als er Nico im Fernsehen sah. Der Gestank und die Erinnerung an diese letzte Nacht, in welcher sich ihre Wege trennten und selbst jetzt spürte er nicht nur die Demütigung, sondern vor allem die Gewissheit, dass es für Nico keine große Rolle gespielt hatte. Weder dass er mit Senem geschlafen, noch dass sie seitdem nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Wie viele Jahre war das jetzt her?
Regen floss matt an seinen verdreckten Fensterscheiben herab, die ihn wie ein grauer Filter von der Welt trennten. Am Rande eines jeden herablaufenden Tropfens sammelten sich dunkle Schlieren mitgerissenen Staubs und Drecks. Sarah hatte zurückgeschrieben, bald würden sie sich treffen. In der vorangegangenen Nacht waren diese Jugendlichen, oder wer auch immer es war, wieder in der Nähe seines Fensters gewesen und mittlerweile war er sich sicher, dass es sich um Araber handelte. Natürlich war es in jener Londoner Nacht zu einer Prügelei gekommen, obwohl sich genügend Möglichkeiten dazu geboten hatten. Doch selbst stark betrunken fand er nicht den Mut. Vielleicht hatte er auch gespürt, dass er eine zweite Demütigung in derselben Nacht durch dieselbe Person nicht ertragen würde. Selbst an den einsamen Stunden und Tagen, die er in London verbringen musste, bis sein Flug ihn zurück in die trostlose Heimat trug, waren Gedanken an einen erlösenden Sprung in die Themse – so sehr mit Klischees beladen – das wohl verlockendste, was er sich vorstellen konnte. Dennoch hatte er selbst darauf verzichtet, so groß war die Furcht vor dem Tod und der Möglichkeit, dass sich nichts dahinter befände. Manchmal träumte er davon, zum muslimischen Glauben übergehen zu können, wo zumindest das Versprechen auf Jungfrauen im Jenseits dem Diesseits etwas Sinn zu versprechen vermochte. Doch auch hier ahnte er wieder, dass auch diese Lüge zu offensichtlich war, um sie glauben zu können. Und was hätte ihn dazu bringen sollen zu glauben, dass ihm im nächsten Leben mehr Glück zustand, als im jetzigen?
Als ob es nicht bereits ausreichend gedemütigt worden wäre, hatte Nico auch noch angeboten, ihm bei der Suche nach einem Mädchen zu helfen, quasi zu coachen, vielleicht sogar als Wingman auszuhelfen, wohl wissend, dass Christian es nicht annehmen würde, weil er es nicht annehmen konnte. Wie hätte er halbwegs frei agieren können, wenn ihm bewusst gewesen wäre, bei jedem Fehlschlag von Nico beobachtet zu werden. Er hasste ihn für diese scheinbare Wohltätigkeit. Umso mehr, weil er nicht einschätzen konnte, ob sie ernst gemeint war, oder es nur ein weiterer Spaß auf seine Kosten werden sollte. Vielleicht war es sogar beides. Und genauso hasste er sich dafür, dass es nicht einmal eine Option für ihn zu sein schien, obwohl es wahrscheinlich sogar funktionieren würde. Noch dazu stellte sich die berechtigte Frage, was er eigentlich zu verlieren gehabt hätte, außer dem bisschen Stolz, den er mit dieser sinnlosen Reise nach London ohnehin bereits verspielt hatte.
Und nun war er wieder im Fernsehen und er hatte nicht rechtzeitig weggeschaltet und während Nico sprach bemerkte Christian wie er, trotz aller Wut und Demütigung, ihm nickend beipflichtete. Vielleicht auch, weil er sonst nicht wusste, wie man auf diese Aussagen reagieren sollte, die in diesen Momenten so richtig klangen, selbst wenn er nur die Hälfte mitbekam, mit den Gedanken tief in der Vergangenheit vergraben und seine Aufmerksamkeit mit einem massiven Kater teilend. Aber wie schon die restliche Woche gelang es ihm auch dieses Mal nicht, das ewige Rauschen des Fernsehers abzuschalten. Was mit den Anschlägen begonnen hatte, wurde durch die Terroristenjagd in den Banlieus am folgenden Tag noch weiter getrieben, selbst wenn die still erhoffte Katastrophe des zweiten Tages ausgeblieben war. Kaum jemand war am Folgetag gestorben. Ein paar erfolgreiche Polizeizugriffe, angepeitscht durch stetig neue Meldungen über Schüsse und eine unbegründet ausgelöste Panik am Folgetag, Berichten über den IS und immer wieder die Bilder vom Bataclan und den zerstören Cafés. Non-stop Gewaltflutwellen durch alle Kanäle und das Internet ziehend, ihn selbst während der Arbeit – oder gerade dort – mitreißend wie ein Strom, der nur in kleinen Abständen unterbrochen wurde, wenn er hoffte, es wäre Sarah. Und sie alle warteten begierig auf den nächsten Anschlag, das nächste Blutbad. Es war gutes Entertainment. In Brüssel wurde die Innenstadt abgeriegelt, tagelang, wenn auch unter Ausbleiben weiterer Anschläge oder sonstiger interessanter Ereignisse. Die Medien warteten nur darauf, standen in den Startlöchern.
Der Fernseher lief weiter, Nico verabschiedete sich aus dem Interview. Bilder von ihm werden eingeblendet, scheinbar zusammenhanglos, doch er hört schon lange nicht mehr zu, wartend auf den nächsten visuellen Input, während sein Herz unbemerkt wütend um sich schlug, gegen Rippenkerker und Bettdecke prügelnd.
Irgendwann hatte Sarah sich wirklich gemeldet. Vielleicht würden sie sich bald treffen, auch wenn sie sich noch nicht auf einen Zeitpunkt einlassen wollte. Ob sie immer noch, oder schon wieder einen Freund hatte, konnte er immer noch nicht sagen. Sehen würde er sie trotzdem gerne. Vielleicht war sie wirklich single. Jedoch war sie derzeit nicht gut zu sprechen, da eine Freundin in Paris gestorben war. Nicht aufgrund der Terroranschläge, sondern wenige Stunden zuvor bei einem Autounfall. Sie hatte ihm den Namen geschrieben, welchen er gleich im Anschluss vergessen hatte.
Auf manchen News-Portalen lief der Ticker zum Terror weiter, seit vier Tagen, obwohl kaum mehr Neues berichtet werden konnte. Selbst einer der untergetauchten Terroristen, dessen Namen er sich ebenfalls nicht merken konnte, war zwar noch auf allen Medienplattformen vertreten, doch wusste niemand mehr Neues zu berichten. Die Journalisten hatten gute Arbeit geleistet, so gut, dass sie nach den ersten zweiundsiebzig Stunden zur Wiederholung verdammt waren. Zum Glück kannten sie sich auch damit gut aus.
Ob Senem die Berichte genauso verfolgte wie er? Schon lange hatte er nicht mehr an sie gedacht, obwohl er ihren Namen wieder und wieder aufschrieb. Ihr Name war zur reinen Routine geworden. Sie alle flossen aus seiner Hand, als wären sie Bestandteil seines physischen Körpers, was sie durch die monate-, teilweise jahrelange Übung wohl irgendwie auch waren. Und Nico hatte ihm nicht einmal eine Zahl nennen können. Selbst wenn er es versucht hätte, wäre ihm dies wohl schwer gefallen. Er würde keine Namensliste führen, alleine schon, weil er kaum alle kennen dürfte. Weil das von ihm auch gar nicht erwartet wurde, weil es ihm einfach in den Schoß fiel, weil er sich nicht anstrengen musste, um Mädchen ins Bett zu kriegen, sondern sie wahrscheinlich fein säuberlich in einer Reihe aufgestellt darauf warteten. Nicht, dass er es nicht verstehen konnte. Nico war und blieb attraktiv, das war selbst ihm klar. Das er in einer Band gespielt hatte und nun als linker Intellektueller erfolgreich war, dürfte den Effekt noch deutlich verstärken. Ihm war bewusst, im direkten Vergleich mit Nico keine Chance zu haben, nicht einmal den Ansatz einer. Wie zur Überprüfung seines eigenen Selbsthasses fuhr er sich mit der linken Hand über seinen langsam wachsenden Bierbauch. Vor zwei Jahren war er noch nicht dagewesen, auch nicht, als er noch mit Senem hatte schlafen können und als sie ihn herausgeworfen hatte, für die Chanche auf ein weiteres Treffen mit Nico, der wahrscheinlich das Angebot nicht einmal genutzt hatte.
Christian beendete sein Bier und holte sich ein Neues. Es schmeckte schal, aber das bessere wollte er sich nicht leisten. Was sie wohl sagen würde – oder besser, was sie beide sagen würden – wenn sie ihn in diesem Moment beobachten könnten.
Nicht, dass es sie interessieren würde.