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11Ihr Schatten

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Sie wollte sich tatsächlich mit ihm treffen.

Als sie zusagte, erschien es ihm zunächst so irreal, dass er sicher war, es wäre ein Witz oder eine Falle, selbst wenn er nicht direkt darauf kam, warum sie sich die Mühe machen sollte. Natürlich war es kein Witz gewesen, klar war ihm das auch. Nur konnte er genauso wenig glauben, dass sie sich mit ihm treffen wollte, selbst wenn er sich immer wieder sagte, dass dies auf keinen Fall als eine Form von Date zu deuten war, so sehr er das auch wollte.

Die Nacht vor ihrem Treffen hatte er nicht schlafen können. Damit hatte er in den letzten Wochen zunehmend Probleme gehabt. Nicht erst, seitdem die Stimmen vor seinem Fenster lauter und lauter wurden, in einer Sprache, die offensichtlich entweder Arabisch war, oder aus diesem Kulturkreis kam. In den letzten Tagen, vor allem nach den Anschlägen, war es schlimmer geworden, lauter, aggressiver, wahrscheinlich wurden es mehr. Stundenlang hatte er sich eine Doku nach der anderen angesehen, über das russische Passagierflugzeug, welches vor ein paar Wochen über dem Sinai zum Absturz gebracht worden war, wahrscheinlich vom IS, weil die ägyptischen Sicherheitsfachleute gefaulenzt und ihren Job nicht richtig gemacht hatten. Danach über die malaysische Maschine, die man über der Ukraine abgeschossen hatte, mit den damit verbundenen Schuldzuweisungen und Kriegsdrohungen in alle Richtungen. Die Netzhaut brannte leicht, jedes zerren seiner Lider war spürbar, in einer Intensität, die es nicht haben sollte. Lauwarmes Bier, die Kühle des einbrechenden Winters, der sich mit dem langsam auflösenden November endlich bemerkbar zu machen schien und zumindest verhinderte, dass er jeden Tag die schönen Figuren von Mädchen und Frauen durch ihre Kleider hindurch beobachten musste, welche er ohnehin nie würde haben können, nicht einmal mit ihnen ins Gespräch kommen würde, geschweige denn ins Bett.

Mit geradezu ermüdender Langsamkeit waren Erinnerungen an sie zurückgekehrt, während die Bilder vor seiner Netzhaut entlang flossen. Rotes Haar verschmolz mit den brennenden Überresten eines Flugzeugs. Weiße Haut, besetzt mit zahlreichen Sonnensprossen wurden zur Folie auf der Rettungsmannschaften nach Überlebenden suchten, die es nicht gab. Zwischen ihren Augen brachen immer wieder Flammen hervor, auf ihren Wangen glühte die Erde, beinahe konnte er das verkohlte Fleisch riechen, das vom Feuer langsam verzehrte Gras. Ihr Name verschwamm mit dem Rufen nach Hilfe und dem wütenden Sprechgesang vor seinem Fenster, wo immer noch kein einziges verständliches Wort fiel.

Auf dem Weg zu ihr musste er am Hauptbahnhof umsteigen. Sie wohnte irgendwo in Moabit, nur via Bus erreichbar, eine Station, von der er noch nie gehört hatte. Leichter Regen legte sich gegen die abendliche Glasfassade der verworrenen Konstruktion und bereits von innen konnte man die Rufe und Sprechchöre hören. Der Abend begann, Menschen hatten sich im Inneren des Bahnhofs versammelt, um den Auflauf vor dem Gebäude zu beobachten. Dutzende Polizisten beobachteten die Menschen und die Szenerie, flackerndes Blaulicht kreuzte sich in der aufkommenden Dunkelheit, dahinter ein noch recht überschaubares Meer an Köpfen. Zwischen Deutschland- und Reichsfahnen, die Flagge Israels und einige anderer, die nicht dazu zu passen schienen, oder sich seiner Kenntnis entzogen. Eine sah aus, wie die Flagge Norwegens und war es vielleicht auch. Scheinwerfer und Blaulichter reflektierend wehten sie im Wind, getragen von schwarz gekleideten, teilweise vermummten Gestalten, unkenntliche Rufe im Chor, die immer wieder in „wir sind das Volk“ mündeten. Vielleicht hundert Mann, vielleicht zweihundert. Viele Frauen sah er nicht darunter, meistens alte, oder vielleicht sah er die besser aussehenden nur nicht. Es war dunkel, das Licht blendete, er war nervös wegen Sarah und die Stimmung war angespannt, als würde man jederzeit einen Anschlag erwarten. Aber vielleicht ging es nur ihm so. Anscheinend war kurz zuvor eine Rede gehalten worden. Stumm blickte er die Masse an, wartend, was als nächstes geschehen würde, als könnte sie jederzeit auf ihn losgehen. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte, er hätte noch genügend Zeit es sich anzusehen, da er wie immer zu früh losgefahren war, um auf keinen Fall zu spät zu kommen und seine möglicherweise einzige Chance zu verpassen. Die Gesicht wirkten wütend, vielleicht aber nur verzerrt vor Kälte. Dampf stieg aus aufgerissenen Mündern, wie ein Schleier vor den Augen, Nebel über ihren geröteten Köpfen und dem nassen Haar. Eine braun weiß rote Flagge, an deren Bedeutung er sich nicht erinnern konnte. Über ihnen nichts mehr außer ihrem eigenen Atemnebel und den Sternen die sie in der Dunkelheit nicht sehen konnten. Eine Gänsehaut legte sich über seine Arme. Erstarkende Rufe forderten den Rücktritt der Regierung, ein Ende der Aufnahme von Flüchtlingen, geschlossenes Gebrüll in luftdichten Reihen, Körper an Körper in gleißende Scheinwerfer getauchte, taumelnde Lichtgestalten. Ein Gefühl nagte an ihm, er würde irgendwann auch dort unten stehen, bei ihnen, brüllen, Forderungen stellen, lauter sein, als er es sich jetzt jemals hatte vorstellen konnen. Sollte es nicht auch irgendwo Gegendemonstranten geben? Erschienen diese sonst nicht angeblich immer zahlreicher, als die eigentlichen Demonstranten? Zumindest hatte er das immer so gelesen, was dieses mal wohl anders zu sein schien.

Erst jetzt bemerkte er, wie ein Polizist ihn beobachtete, unauffällig genug, um aufzufallen. Er wollte den Blick erwidern, doch hielt er dem des Polizisten nur wenige Sekunden stand, bevor er sich wieder abwandte, um langsam die Szenerie zu verlassen, eine neu beginnende Rede im Rücken. Ob es solche Demonstrationen nun regelmäßig geben würde? Aber vielleicht hatte es sie auch schon öfter geben, ohne ihm bewusst zu sein. Wann kam man auch sonst am Hauptbahnhof vorbei?

Der Bus kam nicht. Feuchte Haut klebte auf seinem Fleisch. Er versuchte zu überlegen, wann er das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte. Spätestens seit den nächtlichen Ruhestörungen nicht mehr. Vielleicht sollte er die Polizei informieren. Es wunderte ihn sowieso, dass noch niemand dies getan hatte. Laut Anzeigetafel hatte er noch fünf Minuten. Die gelben Striche verschwammen leicht vor seinen Augen, die mechanisch zerriebenen Wörter des Redners drangen unkenntlich an sein Ohr. Nur noch die Wut schien übrig zu bleiben, die Empörung eines Menschen, der für sein Recht zu schreien schien oder der nur einfach gerne laut war, Aufmerksamkeit auf sich zog. Das empathische Knistern und Rauschen des Megaphons stattete die Veranstaltung mit der passenden Dramatik aus, wie man sie aus hunderten Filmen kannte. Er stellte sich vor, den Beginn eines Aufstands, einer Volkserhebung hinter sich stehen zu haben, der sich langsam zusammenrottete. Als ob sie wirklich etwas ändern würden. Ein gewollt mitleidiges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, was niemand sah, außer ihm, widergespiegelt in der dreckverschmierten Außenwand der Bushaltestelle. Sein Gesicht wirkte müde, der Bart ungepflegt, Tränensäcke schienen sich abzuzeichnen, waren vielleicht aber auch nur nachtbedingte Schatten. Das Licht hatte die Stadt endgültig verlassen. Wenn er wirklich so aussah, brauchte er sich ohnehin keine Hoffnungen auf Sarah zu machen, selbst im Falle eines Dates. Er überprüfte sein Smartphone. Keine neuen Nachrichten. Sie schien also wirklich nicht in letzter Minute absagen zu wollen. Vielleicht kam sie aber auch einfach nicht.

„Hast du 'ne Kippe?“

„Rauche nicht“, der Mann stank nach Pisse, das Gesicht war eingefallen, noch eine Minute bis der Bus da sein sollte. Nirgendwo war er zu sehen.

„Etwas Kleingeld?“

Ungewollt griff er in die Hosentasche, zwanzig oder fünfzig Cent, gab sie ihm.

„Kann's noch etwas mehr sein?“

Kein Danke, er wollte mehr. Er ignorierte ihn, der Gestank wurde schlimmer, jedes Mal, wenn er den Mund öffnete. Die Fäulnis verwesender Zähne schlang sich um seine Atemwege. Der Bus näherte sich, der Mann fragte ein weiteres Mal, mehr Gestank, Übelkeit, sein Gesicht wurde rot, oder zumindest fühlte es sich so an, während er den Mann ignorierte, so tat, als würde er ihn nicht mehr wahrnehmen. Ob andere ihn beobachteten? „Vielleicht ne Kippe?“, als sich endlich die Türen öffneten und ihm die Flucht ermöglichten.

Während der Fahrt versuchte er in seiner Fensterscheibenreflexion auszumachen, ob die plötzliche, in seinem Körper einsetzende Hitze, wieder zu dem Ausschlag um seinen Mundraum geführt hatte, da sich ein wachsender Juckreiz bemerkbar machte und er nur mit Mühe verhindern konnte, daran zu kratzen, aus Angst, es könnte wieder schuppen. Er konnte nichts erkennen, was vielleicht aber der Qualität der Reflexion geschuldet war, welche sein Gesicht verschwommen und zu einer leichten Fratze verzerrt widerspiegelten. Anstelle von Augen nur schwarze Höhlen, die ihn mit einer solchen Enttäuschung musterten, dass er den Blick abwenden musste.

Die Station war erreicht, nervös trat sein Körper in die Kälte der mittlerweile voll entfalteten Dunkelheit. Durch ein orangegelbes Spalier aus Laternen wurde er zum Eingang der Bar geleitet, die bereits von außen schick genug aussah, um seine Hoffnung auf ein Date zu vergrößern. Sprühregen benetzte sein Gesicht, Kühlung für die juckenden Flecken. Tropfen sammelten sich auf seiner Haut, ihre herabrinnenden Spuren brannten wie Eis. Während er sich langsam, unsicheren Schrittes der Bar näherte, konnte er sie bereits durch die großen Fenster ausmachen. Sie saß an einem kleinen Tisch. Alleine. Bis zu diesem Moment war ihm nicht klar gewesen, wie sehr er sich davor gefürchtet hatte, sie könnte jemanden mitbringen. Doch anstelle von Erleichterung wuchs seine Nervosität proportional zur Erkenntnis, wie wenig sie sich verändert hatte, wie schön sie weiterhin war. Zuerst waren es nur ihre langen, roten Haare, die ihm wie schon früher, zuerst ins Auge sprangen, gefolgt von ihrer weißen, beinahe elfenbeinernen Haut und die hellblauen Augen, die vielleicht nicht tief wirkten, aber strahlten, wie ein sonnenbeschienener See. Er trat so nah an das Fenster, dass er ihre Sommersprossen erkennen konnte, die selbst im heraufziehenden Winter auf wunderschöne Weise ihr Gesicht vervollkommneten.

Erinnerungen an ihre erste Begegnung brachen sich Bahn. Der Beginn des Masterstudiums, eines der ersten Seminare, das einzige, welches sie zu zweit belegten und wie er kaum aufhören konnte, sie zu beobachten und sie danach sogar spontan ins Gespräch kamen, die kleine Flamme einer Möglichkeit, und sie dann das Gebäude verließ, in die Arme ihres Freundes gleitend und sich küssend, was er abgetrennt durch die Fenster des Universitätsgebäudes beobachten musste.

Nun war sie wieder auf der anderen Seite einer Scheibe, doch dieses Mal alleine.

Die Tür öffnete sich lautlos. Wärme zog ihn in die Bar, die angenehmer weise nicht von Rauch geschwängert war. Ruhige, stille Atmosphäre lag über den Gästen und zu seinem Entsetzen, wie auch seiner Freude, erblickte und erkannte sie ihn sofort, um ihn nur einen Augenblick später in die Arme zu schließen. Ihr Körper fühlte sich auf angenehme Weise kräftig an, ein wenig drahtig, aber warm. Ihre Körper berührten sich leicht, er roch ihr Haar. Ihr Gesicht strahlte ihn an, ihre Augen leuchteten.

„Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen“, sie lachte beinahe vor Freude und er versuchte sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

„Ja stimmt, ist wirklich schon lange her. Mindestens zwei Jahre.“

„Seit dem Ende des Studiums, ja.“ Und er fragte sich, ob sie sich erinnerte, warum sich ihre Wege getrennt hatten. Ob sie es damals überhaupt verstanden hatte oder verstehen konnte? Vielleicht hatte es ihr aber einfach nicht so viel bedeutet, wie ihm. Und er begann zu erzählen, von seinem Job bei der Stadtverwaltung, wie Mika ihn verlassen hatte, von seiner neuen Wohnung, in stetem Bewusstsein, wie wenig ihm in den zwei Jahren tatsächlich widerfahren war, wie furchterregend wenig er erlebt hatte. Dabei wäre das Date vorüber, sobald er sie seine Verzweiflung spüren lassen würde und das, obwohl der Anfang gut aussah, sogar sehr gut. Obwohl er weiterhin nicht sicher war, ob es sich von ihrer Seite aus um ein Date handelte. Vielleicht war sie sich selbst noch nicht sicher. Er gemahnte sich zur Ruhe, wusste, es nicht übereilen zu dürfen. Es war nicht notwendig, gleich beim ersten Treffen einen Weg zu finden, sie zu küssen. Ein wenig Zeit würde er sich wahrscheinlich nehmen können.

Natürlich erzählte er ihr auch nichts von der Einsamkeit, oder den nächtlichen Stimmen vor seiner Wohnung, die ihm den Schlaf raubten. Möglichst rasch versuchte er das Gespräch auf sie zu lenken. Menschen mochten es, von sich selbst erzählen zu können, hatte er gehört.

„Naja, nachdem ich endlich meinen Abschluss hatte, habe ich tatsächlich eine Festanstellung beim Fraunhofer Institut gefunden, wo ich immer noch bin. Immer noch auf derselben Position wie vor zwei Jahren, aber das ist okay. Sie bezahlen ganz gut und das Team ist sehr nett, habe auch ein paar Freundinnen gefunden, also, naja, zwei zumindest. Ich überlege trotzdem zu kündigen.“

„Macht es dir keinen Spaß mehr?“ Sie mochten es angeblich auch, wenn man nachfragte, auf diese Weise Interesse bekundend.

„Nicht wirklich. Es ist kein schlechter Job, aber es ist immer wieder dasselbe und mittlerweile habe ich das Gefühl alles gesehen zu haben. Aber ich schaffe es einfach nicht, mich aufzuraffen wieder Bewerbungen zu schreiben. Und einfach aufhören kann ich ja auch nicht, irgendwie muss ich ja Geld bekommen.“

„Wo würdest du denn arbeiten wollen?“

„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich bewerbe ich mich deswegen nirgendwo.“ Sie sah schön aus, wenn sie traurig war. Das war schon immer so gewesen.

„Vielleicht brauchst du einfach mal eine Auszeit. Ohne Arbeit. Ohne Studium.“

„Und wovon soll ich die Miete bezahlen?“

„Vielleicht beantragst du einfach Arbeitslosengeld?“ und er versuchte es, diese Chance war genauso schlecht, wie jede andere, „oder vielleicht kann dein Freund dich eine Zeitlang mit finanzieren?“

„Du meinst Julian?“ Ihre Augen schienen dunkler zu werden, vielleicht auch nur die Schatten in ihren Höhlen, „Wir haben uns vor ungefähr einem Jahr getrennt.“

„Das tut mir Leid.“

„Muss es nicht. Ich hab schließlich Schluss gemacht“, innerlich tobte er vor Freude. „Warum auch immer ich das gemacht habe.“

„Willst du darüber reden?“

Aber sie schüttelte nur den Kopf. Die Augen schienen ein wenig feucht, aber das taten sie meistens, wenn er sich richtig erinnerte. Sie schwiegen. Es fiel ihm schwer zu sagen, ob es angenehm war, oder nicht. Er nickte nur, sah ihr in die Augen, sie blickte zurück und er fragte sich, ob er nach ihrer Hand greifen sollte. Aber vielleicht hatte sie ja auch schon wieder einen neuen Freund. Woher konnte er das wissen? Oder sie stand jetzt auf Frauen? Die Vorstellung erregte ihn ein wenig, damit würde er besser umgehen können, als mit einem anderen Mann. Seine Ex hatte auch manchmal etwas mit Frauen gehabt. Das hatte ihn nicht gestört.

Aber sie wechselte bewusst das Thema. Sprach von ihrer Jobsuche, der Hoffnung, auf eine Stelle, die sie vielleicht interessieren könnte „Notfalls bleibe ich eben beim Fraunhofer. Es gibt schlimmere Jobs als diesen und immerhin hat es peripher damit zu tun, was ich studiert habe.“ Sein gekränkter Blick schien ihr aufgefallen zu sein. „Ach komm schon, dein Job ist doch auch gut, oder? Außerdem musste doch irgendwann die Realität zuschlagen. Wer braucht schon Politikwissenschaftler? Auch wenn wir gut in der Uni waren und die Uni gut darin war uns vorzuspielen, wir seien etwas Besonderes, war uns doch bewusst, dass es eine Illusion war, oder? Vielleicht hat es bei uns etwas länger gedauert, bis die Erkenntnis diese Traumblase stach.“ Sie wirkte, als wollte sie noch etwas sagen, doch ihre Lippen bewegten sich nur stumm für wenige Sekunden und erstarrten dann endgültig.

Das sie von „uns“ sprach gefiel ihm. Wie sehr sie mit allem abgeschlossen zu haben schien, wie sehr sie resigniert hatte, konnte ihn dagegen kaum überraschen, spiegelte es doch die demütigende Entwicklung sein eigenes Leben wieder. Aber das machte es nicht weniger furchteinflößend. Erst langsam, wenn seine Blicke an Sarahs ebenem Gesicht vorbeizogen, begann er zu realisieren, dass die Bar schäbiger war, als er zu Beginn ihres Gesprächs bemerkt hatte. Der gezielte Einsatz von Lichtern, und somit vor allem von Schatten, verwischte die Spuren des Verfalls, versuchten unkenntlich zu machen, was bei Tageslicht offensichtlich sein musste. An der Theke saßen alte Männer, vielleicht die üblichen Alkoholiker der meisten Bars in diesem Stil.

„Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen? Ich weiß, nach unserem Abschluss. Aber wann genau?“ Ihre Frage brannte auf seiner Haut. Denn wie könnte er darauf antworten, ohne nicht dieses Gespräch zu beenden? Und wie konnte es überhaupt sein, dass sie es vergessen hatte?

Der Regen vor den Fenstern wurde stärker, tiefe Rinnsale flossen der Scheibe herab, verästelten sich in hunderten kleiner Wege, die alle ins Nichts führten.

Was machten sie hier eigentlich?

„Ich weiß es nicht mehr. Aber es ist schade, dass wir den Kontakt verloren haben.“

„Ja, finde ich auch“, sie lächelte, die Augen weiterhin feucht, vielleicht war es doch bedeutungslos gewesen. „Übrigens, was ist denn mit Nico? Hast du von ihm nochmal etwas gehört? Mit ihm habe ich leider auch den Kontakt verloren.“

Christian wusste nicht, ob sie das Blut sehen konnte, dass durch seine Adern schoss, seinen Schädel vollpumpte, die Kopfschmerzen, die es antrieb, den Schweiß, der seinem Rücken herablief. Sein Körper schien nur wenige Sekunden nach Nennung dieses Namens bereits überall zu jucken und nur mit Mühe konnte er den Reflex zu kratzen unterdrücken. Wie ein Ausschlag breitete er sich über sie und das ganze Gespräch aus.

„Nein, ich hab nichts mehr von ihm gehört. Schon während dem Studium haben wir uns etwas aus den Augen verloren.“

„Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Was ist denn passiert?“

„Nichts besonderes, glaube ich. Er hatte den Durchbruch mit seiner Band, war viel unterwegs, war dauernd beschäftigt. Ich weiß nicht einmal, ob er seinen Abschluss gemacht hat.“

„Wahrscheinlich braucht er so etwas auch gar nicht mehr.“

„Wahrscheinlich.“

„Ich hab ihn vor ein paar Tagen ihm Fernsehen gesehen“, sagte sie nach einer kurzen Pause.

„Ja? Worum ging es dabei?“

„Um die Terroranschläge.“

„Und, war es gut?“, zu spät bemerkte er die Sinnlosigkeit seiner Frage und versuchte dagegen zu steuern. „Also, hat es dir gefallen, was er gesagt hat? Hat es Sinn gemacht?“

„Ich denke schon. Er meinte, wir sollten uns auf keinen Fall unterkriegen lassen und vor lauter Furcht aufhören so zu leben, wie wir davor gelebt haben. Es war irgendwie mutig, dass zu sagen. Während alle anderen nach strengeren Gesetzen rufen und nur ihre alten Ideen von Gesetzgebungen und Eingriffen ins Privatleben umsetzen wollen. Manchmal könnte man meinen, CDU und CSU hätten nur darauf gewartet.“

„Und die AfD.“

„Die sowieso. Von solchen Sachen leben diese Arschlöcher doch. Stell dir vor, es wären keine Flüchtlinge gekommen und niemand mit Migrationshintergrund würde um sich schießen. Dann wären sie schon alle verschwunden.“

„Meinst du, er ist glücklich?“

„Wieso fragst du das?“

„Wieso stört dich das?“

„Es stört mich nicht. Ich wundere mich nur, dass du das fragst. Außerdem habe ich keine Ahnung, woher ich das wissen sollte. Da müsstest du ihn schon selbst fragen und wahrscheinlich würdest du dann auch keine richtige Antwort bekommen.“

„Ich habe nie verstanden, was eigentlich zwischen euch vorgefallen ist.“

„Nichts ist vorgefallen.“ Er wusste selbst, wie unglaubwürdig das klang. Aber wie hätte er es erklären sollen, jeden einzelnen Vorfall, ohne sich selbst in ihren Augen vollkommen zu entwürdigen. Wie gerne wäre er auf einmal nicht mehr hier gewesen, weg von ihr, verschwunden. Wie gerne wäre er Teil der Dunkelheit dort draußen. Sich endgültig auflösen zu können erschien ihm verlockender als jemals zuvor. Es kam ihm der Gedanke, dass es nur diese besondere Art der Schönheit ihres Gesichts war, welches ihn noch an diesem Tisch, in dieser Bar hielt. Vielleicht auch die Unmöglichkeit dieses stillen Sehnens nach ihr, das er so lange ignoriert hatte.

„Du musst es mir auch nicht sagen. Ich habe mich nur gerade daran erinnert, wie gut ihr miteinander befreundet gewesen wart und wie schade es ist, dass es sich so entwickeln musste.“

„Ja, das mag sein. Aber so ist es eben und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Ganz abgesehen davon glaube ich auch nicht, dass er Interesse daran haben würde. Er scheint offensichtlich auch so ganz gut klar zu kommen.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Er ist reich und berühmt, ich glaube man kann es schlechter treffen.“

„Das muss trotzdem nicht bedeuten, dass er glücklich ist.“

„Warum ist dir das so wichtig?“

„Ist es nicht, ich habe es mich nur spontan gefragt. Lass uns lieber das Thema wechseln, ich wollte nicht streiten.“

„Nein“, er schüttelte den Kopf, „schon in Ordnung. Ich bin nicht sauer. Außerdem kannst du ja nichts dafür. Wahrscheinlich kann niemand etwas dafür.“ Woraufhin sie ihn anlächelte, wenn auch schwach und dennoch war ihm sofort wieder bewusst, warum er noch hier saß, warum er sie hatte sehen wollen. Wie hatten sie sich nur so lange verlieren können? Vielleicht würden sie sich auch wieder verlieren, aber dieses Mal würde er zumindest versuchen es zu verhindern, soviel war ihm bereits klar.

„Darf ich fragen, warum ihr euch getrennt habt, du und Julian?“

Stumm schüttelte sie den Kopf, die Augen auf ihr Getränk gerichtet, zu tief in die Höhlen zurückgezogen, um noch ihre Pupillen zu erkennen. Ihre Haut war so bleich, als könnte man durch sie hindurchblicken, als könnte er das Blut in ihren Adern fließen sehen, wenn er aufmerksam genug war. Wie sie wohl nackt aussehen würde? Die gesammelte Trauer ihrer zusammenbrechenden Ausstrahlung ließ ihn Schlimmes ahnen. Verzweiflung kroch von ihrer Tischhälfte auf die seine, wie ein Insekt dem man die Flügel herausgerissen hatte, sich aber dennoch weiter auf einen stürzen wollte und unnachgiebig den ursprünglich eingeschlagenen Weg weiterverfolgte.

Irgendwo bellte ein Hund einsam durch die leeren Straßen, in die er sich später selbst würde begeben müssen, um vielleicht noch eine oder zwei Stunden durch die leblose Stadt zu spazieren, hoffend, auf diese Weise der Nacht leichter entkommen zu können und vielleicht erschöpft genug ins Bett zu fallen, um zumindest dieses Mal durchschlafen zu können.

Sie bestellten sich je ein weiteres Bier, wobei er sich fragte, ob Rotwein nicht die klügere Variante gewesen wäre, damit es mehr den Eindruck eines Dates haben würde. Aber vielleicht trank sie auch gar keinen Rotwein. Vielleicht lag es daran.

„Wohnst du hier in der Gegend?“, versuchte er das Gespräch wieder aufzunehmen.

„Nein, ich wollte mich nur hier treffen, weil ich die Bar mag. Kann aber gar nicht genau sagen, wieso.“ Es dauerte ein wenig, bis sie weitersprach. Christian konnte trotzdem nicht sagen, ob sie über die nächsten Worte nachgedacht hatte. Vielleicht waren sie nur ein bedeutungsloser oder umso bedeutungsvollerer, spontaner Auswurf an Informationen und Emotionen. „Hier fühle ich mich nicht so einsam.“

Und kurz war es, als hingen die Worte in der Luft, aufsteigend wie ein tiefschwarzer Heißluftballon, hinaus steigend aus dem Bierdunst und der kollektiven Einsamkeit dieser Bar und der ganzen Stadt. Verzweifelt versuchte er danach zu greifen, ihn an sich zu reißen und festzuhalten. „Sonst schon?“. Erst jetzt richteten ihre Blicke sich wieder direkt auf ihn.

„Ja, oft. Meistens“ und in dieser Nacht gingen sie auch beide getrennt und alleine nach Hause, jeder verschwand in der sie um gebenden Dunkelheit, nach einer längeren Umarmung und dem ausbleibendem Versuch Christians, sie zu küssen, weil er sich nicht traute, oder vielleicht die Zeichen richtig gelesen hatte, oder die Zeichen falsch gelesen hatte, oder aus irgendwelchen anderen Gründen, die alle genauso gut und genauso schlecht waren, wie jeder andere auch. Nach einigen Metern hatte er sich noch einmal nach ihr umgesehen, doch sie war bereits verschwunden, obwohl er ihre Schritte noch hören konnte. Das sanfte Hallen von Absätzen auf Asphalt. Der Regen hatte aufgehört. Nur noch dunkle Feuchtigkeit in der Luft und auf dem Boden sich kräuselnde Pfützen, die den schwachen Wind wiedergaben.

Sie hatten ausgemacht, sich in der folgenden Woche wieder zu treffen.

Weißer Mann, was nun?

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