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3Zeit zu leben und Zeit zu sterben

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Pünktlich wie immer erschien er auf der Arbeit, sich wundernd, ob jemandem eine Abweichung aufgefallen wäre. Nickende Begrüßungen namenloser Gesichter, ein wenig Lächeln, vielleicht falsch, vielleicht nicht. Ein Eckbüro in einem der ausgelagerten Räume des Rathauses. Sein Computer, seit Kurzem mit Windows 10 ausgerüstet, ohne, dass ihm irgendwelche Unterschiede aufgefallen wären. Keine Bilder an seinem Arbeitsplatz. Eine einzelne Topfpflanze, die ihre saftig grünen Blätter verzweifelt in Richtung Fenster streckte, selbst wenn derzeit keine Sonne sichtbar war. Ohne diesem Fenster hätte er seinen Job wahrscheinlich schon lange gekündigt, sagte er sich regelmäßig, ohne es wirklich zu glauben. Der Stapel auf seinem Schreibtisch war seit dem gestrigen Feierabend gewachsen, und stetig gewachsen, seit er vor einem halben Jahr dort angefangen hatte. Was zunächst Freude über die schnelle Übernahme in einem Job gewesen war, hatte sich schnell in der Monotonie des Arbeitstages, sowie des Lebens selbst aufgelöst. Mit schwarzem Kaffee an seiner Seite begann er zu arbeiten. Langsam und kaum bemerkbar, da es ohnehin immer dieselbe Tätigkeit war, dieselben Schritte, mit jedem Fall, den er bearbeitete. Der Kaffee schmeckte gut, besser, als es zu seiner Stimmung passte, oder zu diesem Büro.

Vom dritte Stock aus konnte er vorbei wehende Menschengestalten verfolgen, wie sie sich über einen großen Platz schoben, der vor vielen Jahren, oder eher Jahrzehnten, einmal ein Marktplatz gewesen sein mochte, nur mittlerweile jede Bedeutung verloren hatte. Ihm gefiel diesen Ausblick, auch weil er ihre Gesichter nicht erkannte, sie mehr wie Schemen denn Menschen wahrnahm. Es war leichter, sie auf diese Distanz zu ertragen. Weitere Zahlen wanderten in die Excel-Tabelle, Wasser in den Topf seiner Pflanze, der einzigen, die er sich traute zur Arbeit zu nehmen. Gerne hätte er mehr gehabt, auch weil in seiner Wohnung nicht ausreichend Platz war für mehr als zwei oder drei. Mehr würden seltsam wirken, wenn er doch einmal Besuch haben sollte, so unwahrscheinlich es auch sein mochte. Widerwillig musste er an die beiden Frauen – oder vielleicht noch Mädchen? - der gestrigen Nacht denken, worauf sein Kater wieder etwas zunahm, bei dem Gedanke an den doch eher schlechten Wein und dem Bier, welches er zuvor mit Arbeitskollegen getrunken hatte und vielleicht diese Nacht erneut auf ihn wartete. Ob sich ihm aber wieder diese Chance mit den Mädchen bieten würde, war eine andere Frage. Sein Kopf schmerzte leicht und sein Blickfeld verzog sich, wann immer er ihn zu fokussieren suchte. Vielleicht sollte er diese Nacht nicht trinken, was um neun Uhr morgens realistisch genug schien, doch wusste er, in den Stunden vor dem Feierabend würde er mit jeder verschwindenden Minute die Aussicht weniger ertragen können, alleine und nüchtern in seiner Wohnung zu sitzen und zu warten, bis er einschlief, nur um einen weiteren Tag von vorne zu beginnen.

Er holte sich eine neue Tasse Kaffee, surfte im Internet, facebook, Mails, nichts Neues, ging zurück zu den Fällen und bearbeitete sie weiter, schneller, als es erwartet wurde oder angebracht war. Es ihn keineswegs überrascht, überqualifiziert für diesen Job zu sein. Er hatte immerhin einen Master-Abschluss, selbst wenn ihm dieser keine bessere Anstellung eingebracht hatte. Und irgendwie musste er Geld verdienen.

Unterbewusst hatte er wieder seine kleine Liste an Namen auf einen Notizzettel geschrieben, fein säuberlich, einem heiligen Ritual nicht unähnlich.

Der Blick auf die Uhr ließ die Mittagspause in unwägbare Ferne rücken, was zumindest der Appetitlosigkeit und dem Kater entgegenkam. Es folgte die dritte Tasse Kaffee. Irgendwo hatte er gelesen, dass die Gefahr einer Leberzierrose um ungefähr fünfzig Prozent sank, wenn man vier Tassen am Tag trank. Auch eine vierte Tasse würde er im Laufe des Nachmittags auf sich nehmen, selbst wenn sein Magen rebellieren würde. Manchmal fragte er sich, warum er überhaupt so alt werden wollte. Dabei kannte er die Antwort eigentlich, sprach sie nur nicht aus, nicht einmal in Gedanken, zu groß war seine Angst.

Schemen streiften durch die Gänge, um die Eckbüros herum, getrennt durch Styropor und billiges Aluminium in welches sie sich viel zu schmerzlos einfügten, mit ihren wenigen privaten Habseligkeiten, den Fotos ihrer Kinder, oder Neffen, von Ehepartner und Müttern und Vätern, ein paar Pflanzen, meist gut gegossen, das Foto eines Hundes, manche so leer, als ob sie bereits darauf warteten, ersetzt zu werden und spurlos zu verschwinden. Ein Kalender war das einzige, halbwegs als privat durchgehende Gegenstand neben seiner Topfpflanze, und die vielen kleinen zerknüllten Zettel in seiner Schreibtischschublade, die er weder wegschmeißen, noch sie offen liegen lassen konnte, aus Furcht, man könnte sie lesen.

Zeit verfließt in immer gleichen Strömen, sie kommen einem nur manchmal schneller vor. Doch im Endeffekt sind sie nur Prozesse, wie die seines Büros, die man absitzt und auf das Ende wartet, bevor ein neuer Zyklus des immer Gleichen beginnt und tatsächlich konnte er gegen dreizehn Uhr schon nicht mehr sagen, was er getan hatte, außer vielleicht drei immer gleichen Handbewegungen, die sich weiter wiederholten. Das kalte Klackern der Tastatur unter gefühllosen Fingerspitzen, die schon nicht mehr zu seiner Hand passen wollten. Als würden ihre eigenen Bewegungen sie von ihm wegtragen. Zeit ist nicht relativ. Sie ist eine konstante Größe, die einen unaufhörlich zum Ende treibt.

Irgendwann mussten Mittagspausen auch Pausen gewesen sein. Anscheinend war es früher üblich gewesen, gemeinsam in ein Restaurant zu gehen, anstatt nur in die Cafeteria des Gebäudes, in welchem man arbeitete, um Wegzeit zu sparen. So saßen sie wieder zusammen, einige von ihnen, in ihren Business Anzügen, die alle irgendwie zu klein oder zu groß oder sonst wie falsch wirkten.

„Und, wie lang ging es noch bei euch?“

„Nicht mehr so lange. Wann bist du denn gegangen?“

„Bin mir nicht sicher. Ich denke, so gegen eins. Halb zwei war ich daheim.“

„Dann waren wir noch bis zwei, halb drei dort. Oder?“

„Ja, ich denke schon.“

„Irgendwas Besonderes verpasst?“

„Was meinst du?“

„Keine Ahnung. Irgendwas.“

„Nein, ich glaube nicht. Noch ein oder zwei Runden. Simon hat sich übergeben.“

„Einen Scheiß hab ich.“

„Ja, du bist zur Toilette gerannt, weil du dein Workout nachholen wolltest.“

„Du kannst mich mal.“ Und bald war die Pause vorbei und sie waren zurück an ihren Arbeitsplätzen, eingegliedert in das stete Hintergrundrauschen verschwommener Stimmen, Tastaturklappern, dem wütenden Rauschen der Kaffeemaschine und gelegentlichem Klingeln von Telefonen.

Weißer Mann, was nun?

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