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2Singing for the Lonely

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Das Schließen der Tür implizierte eine unerwartete Finalität. Mit dem Eintritt in seine Wohnung, dem Aussperren der Welt hinter sich, entspannten sich seine Schultern, die Kälte begann zu weichen, nachdem sie ihn viel zu lange begleitet hatte. Seine Füße waren müde. Erschöpft fiel er auf seinen, mit schwarzem Kunstleder bespannten, Bürostuhl und klappte den Monitor seines Laptops auf. Bleiches Licht empfing seine Netzhaut, sich in seinem Gesicht widerspiegelnd. Während er mit sanftem Summen hochfuhr wandte Simon sich dem großen Fenster zu seiner Rechten zu, durch welches ihm die Nacht nachzublicken schien. Erinnerungen an die letzten Stunden kehrten zurück, an die Party, die Mädchen, den Alkohol. Sein Pullover roch nach Bier, Zigarettenrauch und Enttäuschung. Das Fenster spiegelte sein ausdrucksloses Gesicht wieder, welches er langsam abzutasten begann, als wäre es ein ihm fremdes Objekt.

Seine Wohnung war klein, etwas mehr als zwanzig Quadratmeter, inklusive Dusche und kleiner Kochnische, bestehend aus einem kleinen Herd und dazugehöriger Platte. Ein einziges großes Fenster, vom Boden bis zur Decke, war die einzige nicht-elektrische Lichtquelle. Die Lampe über seinem Kopf war zu dunkel, sodass jede Nacht seine Augen schmerzten, wenn er stundenlang auf den Monitor starrte.

Das sich im Fenster spiegelnde Gesicht lächelte nicht zurück.

Mit routinierten Fingerbewegungen öffnete er verschiedene Internetseiten und begann im Rhythmus der sich ineinander windenden Körper zu masturbieren, mit keuchenden Lustschreien im kopfhörerbesetzten Ohr. Zu spät fiel ihm ein, die Jalousie zu schließen, aber wahrscheinlich hatte die Nacht ihn ohnehin vor neugierigen Blicken geschützt. Den klebrigen Samen fing er in einem bereits dreckigen T-Shirt auf, welches er sich über die Brust gelegt hatte, starrte für einige Sekunden auf die stillstehenden, silbernen Flüsse, bevor er es zerknüllte und unter seinen Schreibtisch warf.

Leise rauschend fuhr die Jalousie herab, die Dunkelheit aus seinem kaum erhellten Raum sperrend.

Er fühlte sich besser, irgendwie aber auch nicht.

Seine Blicke suchten die Uhr an seinem Laptop. Nicht mehr lange, dann müsste er wieder im Büro sitzen, für weitere acht, neun Stunden, vielleicht ein wenig länger, falls er zu langsam arbeitete, oder sein Chef ihm zusätzliche Aufgaben zuteilte, oder er einfach vermeiden wollte, nach Hause in seine kleine, leere Wohnung zu kommen. Aus dem Augenwinkel konnte er das Trocknen seiner wertlosen Samen verfolgen. Er musste schlafen gehen, sonst würde er den morgigen Tag nur noch schlimmer durchleben, als ohnehin schon, und gleichzeitig konnte er nicht schlafen gehen, nicht, weil er nicht müde oder erschöpft genug war – das war er ständig – sondern weil er sofort einschlafen würde, um erst aufzuwachen, wenn er zur Arbeit gehen musste. Wieso hatte er diesen Job angenommen? Wieso hatte er dieses Feld studiert? Mit brennenden Augen blickte er auf die noch nicht geschlossene Porno-Seite, überlegend, noch eine weitere Runde zu versuchen, doch fürchtete er, sich danach noch erbärmlicher zu fühlen, als er es ohnehin schon tat. Vielleicht war es besser die Nacht zu beenden, um zumindest dieser zu entkommen.

Der Laptop lief weiter, der Porno ebenfalls, selbst wenn er ihn kaum mehr beachtete, auch weil sich das Gefühl immer gleicher Wiederholung bereits einzustellen begann, wie es ihm bei den meisten der Filme ging. Mit dem Versuch frische Luft durch das große Fenster ins Zimmer zu lassen, setzte nur eine Kälte ein, mit der er in diesem Herbst noch nicht gerechnet hätte.

Wieso war er bereits von der Uni gegangen? Natürlich kannte er die Antwort. Die ewige Hoffnung, alles würde mit einem weiteren Lebensabschnitt besser werden. Außerdem hatte er lange genug studiert. Doch wieder saß er nur nutzlos vor seinem Fenster und beobachtete die Nacht, sich dabei vorstellend, was andere, erfolgreichere Männer gerade machten, mit welchen Frauen sie schliefen, wie diese nackt aussahen. Von diesem Punkt bewegte er sich schnell zu Vorstellungen, wie Frauen, die er kannte nackt aussahen, Frauen, die er gerne nackt gesehen hätte, mit denen er manchmal sogar Dates gehabt hatte, die allesamt zu nichts geführt hatten. Oft genug war es nicht einmal dazu gekommen.

In der Dunkelheit waren nicht einmal mehr die Wolken am Himmel zu erkennen.

Ohne zu lesen überflog er die Nachrichten, sah Bilder explodierender Autos und Menschen und Häuser, auf Spiegel Online, Focus, der Süddeutschen, auf facebook, alles auf facebook und Videos alter Comedy-Serien die er vor vielen Jahren geliked hatte, die nun Cameos zwischen Ausländerbeschimpfungen und Berichten über islamistischen Terror hatten, sowie hunderten nigerianischer Mädchen, die entführt worden waren. Dazwischen Fotos der Mahlzeiten von Freunden und Bekannten und Unbekannten, Musik und Kunstmagazine, die er vor allem angeklickt hatte, um irgendwie tiefgehend zu wirken, selbst wenn er wusste, dass sich niemand diese Liste jemals ansehen würde. Vielleicht hatte er auch nur sich selbst täuschen wollen.

Lustlos rieb er seinen schlaffen Schwanz, dessen Aggregatzustand sich nicht ändern wollte, in der Trunkenheit vergessend, dass er eigentlich schlafen sollte. Nachts waren nicht viele Menschen unterwegs, zumindest nicht unter der Woche, da sie alle arbeiteten, da es noch eines der besseren Viertel waren. In anderen Ecken der Stadt, wo die Studenten lebten, zu denen er noch vor kurzem gehört hatte, war es sicher anders. Aber hier war Nacht. Nacht und Stille und irgendwo ein Vollmond, den er nicht sehen konnte und nur noch wenige Stunden, bis sie vorbei war, ihn zurück in den Tag stoßen würde, in die immer kälter werdende Außenwelt, in der sich der Winter bereits abzeichnete, mit sterbenden Insekten und Spinnen, die verzweifelt versuchen würden, in das Innere seiner Wohnung zu kommen, um zumindest noch diesen Winter zu überleben. Er hatte Angst vor Spinnen, er hasste den Herbst, war froh, wenn sie in der darauffolgenden Jahreszeit endlich tot waren, selbst wenn er davor noch dutzende von ihnen mit einem Buch erschlagen würde müssen.

Eine seiner nächtlichen Ängste war es, aufzuwachen und eine große, schwarze Spinne würde auf seinem Körper sitzen. Sie würde nichts machen, nur auf ihn warten, mit ihren Beißwerkzeugen, den acht Beinen und Augen. Sie würde nicht einmal giftig sein, aber es würde ihn trotzdem umbringen. Und wer weiß, vielleicht würde sie sogar giftig sein, vielleicht würde sie ihn tatsächlich umbringen und das hier alles beenden. Angeblich sorgte der Klimawandel dafür, dass mehrere giftige Arten aus Südeuropa bereits in Deutschland gesichtet worden waren. Angeblich gab es bereits vereinzelt Schwarze Witwen im Süden des Landes.

Der Porno war zu Ende, Samen perlten über den nackten, bebenden Körper auf der Matratze, der so tat als wäre er zu schwach und erschöpft, um sich aufzurichten, zerstört von dem knappen Dutzend Schwänze, die sie über eine Stunde bearbeitet hatten. Bebend atmete der Körper schwer weiter, das Weiten und Zusammenziehen der Lungen unhörbar, da er die Kopfhörer abgelegt hatte. Ein kurzer Abspann trat ein, dann kurz Schwärze, gefolgt von neuen Vorschlägen, die er uninteressiert überflog, da ihm das Model nicht allzu sehr gefallen hatte.

Mit dem roten X schloss er die Seite, zurück zu den Nachrichten, zurück zu seinem Mailpostfach, zurück zu facebook, zu Nachrichten, die er noch an Mädchen schreiben wollte. Nachrichten, die entweder nicht beantwortet wurden oder zu offensichtlich ausweichend. Zurück zu der Frage, ob er die Demütigung auf sich nehmen sollte, nachzuhaken und seine Verzweiflung für einen Moment blicken zu lassen. Sinn- und ziellos klickte er sich von Seite zu Seite, von Nachricht zu Nachricht, durch einen ewig währenden Monotoniestrom an Informationen und scheinbaren Informationen, Videos, Musik und trank nebenbei billigen Rotwein aus einer Netto-Flasche, die er sich nachmittags gekauft hatte, ahnend, dass er daheim, egal wie betrunken er zurückkam, damit nicht würde aufhören könnte. Ein Euro und neunundsechzig Cent. Der Trick war es, billigen Rotwein aus Südafrika. Südamerika oder Australien zu kaufen, weil die Anbaufelder größer waren, als in Europa und sie sich deswegen auf akzeptable Massenware konzentrierten, wogegen die Europäer sich auf geringere Mengen mit hoher Qualität und Preisen festgelegt hatten. Billiger Rotwein aus Frankreich würde ihn am nächsten Tag regelmäßig heimlich in die Toilette seiner Arbeitsstelle kotzen lassen, da es sich nur um Ausschussware handelte. Es wäre nicht das erste Mal, aber nach dem letzten Mal hatte er sich geschworen, es würde sich von nun an nicht mehr wiederholen. Es war lächerlich. Formulierte er diesen Gedanken für sich selbst aus, klang es wie der jämmerliche Versuch, Kontrolle über sein Leben auszuüben.

Der trockene Rotwein, aus Chile, war in Ordnung, würde ihn morgen nicht vollkommen verkatert aufwachen lassen, selbst wenn es ihm nicht gut gehen würde. Doch das würde es ja sowieso nicht, von daher war es ganz praktisch, es auf den nächtlichen Alkoholkonsum zu schieben, womit er zumindest eine Form von Begründung für sich selber hatte, über die er nicht lange würde räsonieren müssen.

Im Gang hörte er Stimmen, zwei Frauen, vielleicht jung, wahrscheinlich sogar, wenn man die Uhrzeit in Betracht zog. Sie klangen, als könnten sie gut aussehen und er war betrunken genug, um tatsächlich die Tür aufzumachen und nach ihnen zu sehen. Vielleicht brauchten sie ja Gesellschaft, oder – was zumindest ein wenig wahrscheinlicher war – sie waren beide ebenfalls betrunken und würden den billigen Nettowein für einen Euro und neunundsechzig Cent willkommen heißen.

Die Rollen seines Bürostuhls knirschten über den falschen Parkettboden. Sein Ohr legte sich an die Tür, um herauszufinden, wo sie sich genau befanden und ob vielleicht ein anderer Mann mit dabei war, was nicht der Fall zu sein schien. Seine Hand legte sich auf die Türklinke, bereit sie herab zu pressen, ohne es zu tun, auf der Suche nach Worten, die nicht kamen, bis eine Tür sich schloss und die Stimmen versiegten. Auf seinem Laptop begann der Porno, den er geglaubt hatte, geschlossen zu haben, erneut von vorne. Er öffnete die Tür, doch niemand war da, niemand zu hören. Er schloss sie wieder und rollte zurück. Ohne vollständig aufzustehen, ließ er sich auf sein Bett fallen, halb angezogen, die Bettdecke über seinen erschöpften Körper ziehend.

Während er einschlief versuchte er seinen Herzschlag auszumachen.

Weißer Mann, was nun?

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