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16Wovon wir träumen

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Dutzende Menschen vor dem Lageso, hunderte, gefühlte tausende, durcheinander geschrienes Arabisch, Helfer, auf verzweifelter Suche nach Ordnung, gegen das Chaos in welchem sie sich allein gelassen fühlen mussten. Gerüchte von salafistischen Rekrutierern auf Beutefang unter wahlweise traumatisierten oder frustrierten Jugendlichen. Berichte über entführte und missbrauchte und ermordete Flüchtlingskinder, von Geisteskranken und Triebtätern gestohlen aus der chaotischen Masse, welche die Stadt scheinbar aufgegeben hatte, verwalten zu können. Tränen in den Gesichtern aller und Diebstähle zwischen und an den Ärmsten. Überreste einer Aufnahmeeuphorie, welche vor einigen Wochen viele mobilisierte und nun die wenigsten erschöpft zurückließ, um die langfristige Arbeit zu übernehmen. Ein Sommermärchen, welches wie immer mit dem Ende des Sommers aufhörte, den letzten Idealisten ein solches Übermaß an Arbeit hinterlassend, dass alle wussten, es würde nicht funktionieren, oder zumindest nicht schnell oder lange genug. Retten machte nur Spaß, wenn man schöne Bilder der eigenen Heldentaten sehen konnte. Nun froren die Menschen in langen Schlangen, geflohen aus Eritrea, Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan, zitternd in den langsam zugefrorenen, vor Eis glänzenden Straßen Berlins, wo sie sich zuvor Hoffnung versprachen, aber nur Langeweile, Untätigkeit und weitere Überlebensangst auf sie wartete, die Unsicherheit zum Dauerzustand gefrierend, nur noch darauf bedacht, den nächsten Tag zu überleben, während ihre Familien auf gute Nachrichten hofften, vielleicht auch auf etwas Geld, und sei es, um ebenfalls die beschwerliche Reise anzutreten.

Christian sah nur zu, in sicherer Entfernung, um im besten Fall nicht von irgendjemandem angesprochen zu werden, und sei es auf eine Zigarette, die er sowieso nicht hatte. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihn jemand ansprechen würde, hatte er sich sogar eine Ausrede ausgedacht. Je nachdem, wer ihn ansprechen würde, würde er erklären, zu überlegen, ob er helfen könne oder sich ein Bild von der Situation zu machen. Warum er wirklich dort stand und beobachtete, konnte er dagegen nicht sagen.

Von den Missbrauchsfällen hatte er gehört, wie auch von den Vergewaltigungsvorwürfen gegenüber Asylanten. Je nachdem, wen man fragte waren diese Fälle Ausnahmen oder Regelbestätigungen. Natürlich fiel auch ihm auf, dass es fast nur Männer waren, junge noch dazu. Wo waren die Frauen? Hatten sie den Weg nicht geschafft, oder waren wirklich nur die Männer nach Deutschland gekommen? Aber wieso? Gut, er konnte sich auch denken, dass es mehr Männer waren, weil sie stärker und fähiger waren, die Reise zu überstehen. Aber wenn es in ihren Ländern überall so furchtbar zuginge, war es dann klug die Frauen und Kinder dort zu lassen, anstatt die strapaziöse Flucht zu riskieren? Und wirklich nur Männer, vielleicht eine oder zwei Frauen. Zurück in seiner Wohnung würde er sich damit genauer auseinandersetzen müssen und schob dabei den Gedanken von sich, inwiefern seine Überlegungen überhaupt relevant oder angebracht waren. Vielleicht war das die Zeit, auf welche er gewartet hatte, in der immer wiederkehrenden Monotonie seines alltäglichen Lebens. Natürlich wäre es schöner, wenn ein Mädchen mit an seiner Seite wäre. Aber wenn sich hier etwas Großes tat, an dem er teilhaben könnte, ein Bestandteil davon werden, dann wäre es zumindest ein Schritt hinaus aus der Bedeutungslosigkeit, vielleicht ein erster Schritt in ein echtes Leben.

Beim Rest würde er sich vielleicht einfach gedulden müssen.

Er zog die Jacke enger, die Kälte hatte ihn fest im Griff, der Wind zog an, Bäume wiegten sich, umgarnt von arabischen Rufen und Gemurmel. Irgendwo schrie jemand auf, war aber so schnell wieder erloschen, dass er nicht nachsehen konnte. Auch hatte er keinen Fuß in die Richtung gesetzt, nur seinen Kopf hilflos suchend verdreht, in der Hoffnung, nichts anzutreffen.

Wie seltsam es wäre, Senem zwischen all diesen Männern zu sehen. Aber sie war Deutsche, soweit er wusste, auf jeden Fall kein Flüchtling. Vielleicht wollte er sie auch einfach nur wiedersehen.

Wie gerne hätte er etwas zu trinken dabei gehabt. In der Nähe hatte er einen Späti gesehen, aber das wäre wohl doch zu seltsam gewesen. Irgendjemand hätte ihn sicher darauf angesprochen. Auf keinen Fall wollte er auffallen.

Irgendwo entstand Bewegung in der Masse dunkler Gestalten. Der Ursprungsort war nicht auszumachen. Wankende Silhouetten, die sich zuerst weg voneinander, dann mit rasender Geschwindigkeit wieder aufeinander zu bewegten, aufeinanderprallten. Stürzende Schatten, übereinander taumelnd, in sich greifend, lauter werden Rufe, anschwellende Aggression und Fäuste die auf Fleisch trafen. Jemand weinte, jemand schrie, jemand brüllte. Sich auftürmende Wellen undefinierbarer Sprachlaute. Christian spürte, wie sich das Adrenalin in seinem Körper sammelte, beim Anblick der aufeinander einschlagenden Menschenknäuel, die kaum voneinander unterscheidbar waren, in der Dunkelheit fließend untergehend, bis die ersten Blaulichter erschienen und Mitarbeiter und Polizisten sie zu entwirren begannen. Die Fäuste in den Jackentaschen geballt, Schweiß auf seiner kränklichen Stirn, konnte er das Blut in seinen Arterien spüren, wie es im Stechschritt auf sein Gehirn zumarschierte und marodierend hindurchzog. Die ersten Gestalten wurden in Handschellen gegen Häuserwände und Polizeiwägen gepresst. Stimmen versanken in der Finsternis. Irgendwo weinte eine Frau. Wo, konnte er nicht sagen.

Langsam machte er sich auf den Weg nach Hause. Die Stimmen hinter ihm waren bald verstummt. Der Wind nahm nicht weiter zu, auch nicht ab, wurde zu monotonem Hintergrundrauschen, wie die vorbeiziehenden Autos, während er sich der U-Bahn-Haltestelle Turmstraße näherte. Um ihn herum nur gesichtslose Silhouetten, die sich im Schein von Straßenlaternen durch die Nacht bewegten, unbekannten Zielen entgegen oder vielleicht genauso ziellos wie er selbst und dennoch fühlte er sich so einsam, wie schon lange nicht mehr in seinem ohnehin einsamen Leben.

Die Haltestelle war beinahe leer, bereits auf den Treppenstufen in die orangen Tunnel kamen ihm die letzten Menschen entgegen. Eine Minute später stand die U-Bahn vor ihm, leer bis auf einen schlafenden Obdachlosen, der mit offenem Mund ins Leere starrte, nach Pisse stank, eine halbleere Bierflasche in der Hand und einen ungepflegten Hund vor ihm. Die Schatten flackerten von Station zu Station. Ein paar Menschen stiegen ein, eine Gruppe Jugendlicher mit Becksflaschen in der Hand und lauter arabischer Musik aus ihren Smartphones. Sie wirkten nicht sehr arabisch. Der Obdachlose wachte nicht auf, zwei Stationen später waren sie verschwunden. Erst jetzt bemerkte er die Pfütze Erbrochenes, nahe des Eingangs zu seiner Linken, der Gestank war ihm kaum aufgefallen. Er überprüfte, ob sein Geldbeutel noch in seiner Hosentasche war.

Bei der nächsten Haltestelle stieg er aus, dabei war es nicht seine. Er wollte nur hinaus, weg vom Pissegestank, dem Obdachlosen, den zwei gutaussehenden Mädchen die mit gerümpfter Nase an ihnen vorbei gegangen waren, ihm weniger Blicke widmend als dem Obdachlosen gegenüber. Er wusste nicht wohin er wollte, nur, dass es nicht seine Wohnung war. Auf keinen Fall zurück, nicht so früh, kurz nach Mitternacht, noch viel zu wach, zu wenig erschöpft – oder vielleicht auch zu sehr – um schlafen zu können und den Gedanken zu entfliehen. Trinken wollte er nicht, vielleicht nur noch nicht, vielleicht später. Aber er war sich auch nicht mehr sicher wie viel Alkohol noch in seiner Wohnung war und die Supermärkte hatten geschlossen, die Spätis waren zu teuer und genügend Bargeld hatte er auch nicht dabei, zumindest nicht für eine ausreichende Menge, sollte er sich jetzt zurück bewegen. Also ging er los, planlosen Schrittes durch die Nacht, die ihm nach wenigen Minuten die Finger taub werden ließ, peinigendes Stechen durch das Fleisch seiner Hand jagte.

Seine eigenen Schritte würden ihn noch lange durch die Nacht begleiten.

Weißer Mann, was nun?

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