Читать книгу Weißer Mann, was nun? - A. A. - Страница 21
19Run Boy Run
ОглавлениеIn weißen Schwaden zog ihr Atem ihrem Gesicht voran, dieses immer wieder durch den selbst geformten Nebel stoßend. Schweiß gefror auf ihrer Stirn, hartes, raues Salz zurücklassend, welches unangenehm über ihre Haut rieb, sobald sie sich mit der Hand darüber fuhr. Die Handschuhe kratzten leicht, rissen kleine Öffnungen in die Haut, in die der Salz eindrang, konstantes Brennen durch ihren Kopf rauschend. Ein wenig Wärme in all der Dunkelheit. Mühevoll versuchte sie nicht über die unebenen Pflastersteine zu stolpern oder auf kleinen Eisflächen auszurutschen, die ihren Weg erschwerten. Diesen Weg kannte sie noch nicht. Vorbei an einem alten Fabrikgelände, umrahmt von Mauern voller Graffitis, nur schwach beleuchtet durch weit entfernte Straßenlaternen, gesäumt von wenigen abgestellten Autos, die teilweise wirkten, als würden sie schon seit Monaten oder länger dort stehen. Warten auf jemand, der nicht kam.
Ihre Beine liefen wie mechanisch. Das war das wunderbarste Gefühl beim Laufen, wenn es einfach weiterging, die Beine immer weiter arbeiteten, schmerzlos, gefühllos, keine Anstrengung waren mehr nötig, um voranzukommen. Ihre Muskeln lebten aus sicher heraus, rannten stumm vor ihr her, ein dumpfer, erschöpfender Automatismus, von dem sie sich treiben lassen konnte. Vielleicht war es das wundervollste Gefühl überhaupt. In Momenten wie diesen glaubte sie, ewig rennen zu können, nicht nur eineinhalb Stunden, worauf es zumeist hinauslief, sondern länger, zwei Stunden, drei Stunden. Selbstverständlich wusste sie, dass dem nicht so war, aber während sie die Straßenseite wechselte, auf dem Weg in eine kleine Seitengasse, war sie kurz davor es doch zu glauben. Wie schön wäre es, nicht aufhören zu müssen. Wie befreiend, nie wieder stehenzubleiben.
Unter ihren Fußsohlen spürte sie irritierend großen Löcher zwischen den Steinen, die sich anfühlten, als könne sie irgendwann dazwischen hindurch stürzen. Hinabgleiten, in was auch immer darunter auf sie warten mochte.
Immer weniger Straßenlaternen, scheinbar ersetzt durch große, kahle Bäume, die selbst in der Dunkelheit noch in der Lage waren Schatten zu werfen, umgeben von lichtlosen Häusern, als wären sie vollkommen verlassen. Allgemein wirkte die Stadt menschenleer, die Straßen leblos und verwaist. Vielleicht, weil es so kurz nach Silvester war. Nur ihre Schritte waren zu hören. Ansonsten nicht einmal der Wind, oder das Rascheln toten Laubs auf der Straße.
Wenn sie jetzt jemand angreifen würde, niemand würde es mitbekommen. Selbst wenn sie Zeit oder die Möglichkeit haben würde zu schreien, es würde in der Dunkelheit verhallen, ungehört. Ob sie überhaupt würde schreien können? War sie dafür nicht schon zu sehr außer Atem? Sie begann nach sich selbst zu lauschen, doch ihr Atem schien normal, tief durch die Brust, angestrengt vom Laufen, aber nicht flach oder zu schwach, um einen Schrei von sich zu geben. Aber würde das noch so sein, wenn jemand nach ihr griff, sich von der Seite auf sie stürzte, sie zu Boden warf? Vielleicht würde ein Schatten hinter dem nächsten Baum auftauchen, ihr einen Schlag verpassen, bevor sie reagieren konnte, der ihr den Atem oder die Besinnung raubte. Oder der Fremde würde eine Waffe haben, eine Pistole, ein Messer, ein Elektroschocker und sie bedrohen. Würde sie dann schreien, versuchen wegzulaufen, oder sich einfach in das ergeben, was auf sie zukam. Wieder wechselte sie die Straßenseite.
Irgendwo war ein Auto zu hören, aber nirgendwo sah sie Scheinwerfer.
Das Hallen ihrer weit ausgreifenden Schritte zog sie durch die Nacht.
Vielleicht sollte sie es auch einfach über sich ergehen lassen. Letzten Endes war es ja doch nur Sex und wenn sie sich nicht wehrte, würde sie vielleicht nicht unnötig verletzt werden. Wie schlimm konnte das am Ende schon sein? Es würde schließlich nicht das erste Mal sein, dass sie mit jemandem schlief, mit dem sie nicht schlafen wollte. Immer noch besser als ermordet zu werden, oder entstellt oder verprügelt. Sie hätte ihr Pfefferspray mitnehmen sollen, aber wieder hatte sie es vergessen. Außerdem störte es sie beim Laufen. Hinter jedem Baum, jedem Auto konnte jemand lauern. Oder in einem Auto. Weiter vorne an der Straße stand ein schwarzer Van.
Wieder wechselte sie die Straßenseite.
Der Van schien leer, als sie daran vorbeilief. Andererseits waren die Scheiben getönt.
Dann war sie auch schon vorbei.
Es war das erste Mal in diesem Jahr, dass sie laufen ging, dass sie rannte. Zweitausendsechzehn. Es kam ihr immer noch unwirklich vor. Andererseits tat es das jedes mal. Irgendwo in ihrer Wohnung lag ein kleiner Zettel mit Notizen, was sie sich für dieses Jahr vorgenommen hatte. Wo der vom letzten Jahreswechsel war, wusste sie nicht. Die vorangegangenen zwei Tage war sie noch von der Silvester-Nacht verkatert gewesen. Langsam schien sie also wirklich in das Alter zu kommen, in welchem die Nachwirkungen zwei Tage andauerten. Gestern war es ihr eigentlich ganz gut gegangen, aber ihr Magen schien nicht stabil genug, einen längeren Lauf zu überstehen. Sie bog in eine kleine Gasse zu ihrer Rechten ein, sorgfältig auf ihre Atmung achtend, die tief und gleichmäßig lief, wie eine Maschine. Die Straßenlaternen mehrten sich langsam. Ihr Schatten wuchs stetig und je länger sie lief, desto eher glaubte sie daran, nie wieder aufhören zu brauchen.
Sie wusste, sie würde nicht ewig laufen können.
Irgendwann würde sie zum Stehen kommen.
Nur fiel es ihr schwer, sich an den Weg zurück zu erinnern, zu ihrer Wohnung, die still und leer auf sie wartete, wissend, dass sie irgendwann wiederkommen musste.
Die Überreste der Party waren immer noch nicht aufgeräumt. Ein mattes Gefühl umgab sie, wie die Rückstände etwas Lebendigem, als wüsste sie nicht schon ausreichend Bescheid über ihre Leere, ihre Verlassenheit. Die Gassen wurden breiter, mehr Autos standen an den Bürgersteigen und gelegentlich leuchtete sogar ein Fenster. Sie schien auf dem richtigen Weg zu sein. Größere Straßen mussten irgendwann ineinander führen und irgendwann würde eine auftauchen, die sie kannte. Die schiere Anzahl halb ausgetrunkener Flaschen ließ sie die Wohnung sehnsüchtig erwarten, wie auch mit einem Schauder auf Distanz zu ihr gehen. Wie sollte sie die Kraft finden, alles wegzuräumen?
Sie spürte ein Stechen in ihrem Magen. Wieder fragte sie sich dabei, ob es die ersten Nebenwirkungen ihres Alkoholkonsums waren. Seit beinahe einem Jahr fragte sie sich täglich, wann die ersten Symptome eintreten mochten, was die ersten sein würden. Die letzten zwei Tage hatte sie nichts getrunken, sich nicht getraut zu trinken, aber heute, nach dem Laufen, würde sie weitermachen. Sie hatte etwas für ihren Körper getan, war mindestens genauso weit gelaufen, wie vor Silvester und neben dem Stechen im Bauch, welches sie schon seit einiger Zeit kannte, schien nichts beschädigt zu sein.
Die Party war gut gewesen. Es waren mehr gekommen, als sie erwartet hatte, sogar mehr aus ihrem Freundeskreis und ihrem alten Freundeskreis. Viele davon hatte sie schon lange nicht mehr gesehen, weil sie sich nicht mehr gemeldet hatte. Genauso wenig wie die anderen sich bei ihr. So waren alle anderen Existenzen in wechselseitiger Absicht vergessen worden und die Wiedervereinigung während der Party ein zeitlich eng begrenztes Ritual, dessen Regeln zu transparent waren, um sich daran ernsthaft stoßen zu können.
Tatsächlich war die Party nicht nur gut gewesen, sie war sehr gut gewesen. Am Ende waren alle betrunken, hatten Feuerwerk vom Tempelhofer Feld abgeschossen, waren zurück in die Wohnung gekehrt, bis alle noch betrunkener waren. Viele Pärchen hatten angefangen rumzumachen, viele hatten sich neu gefunden. Sie war irgendwann in das leere Nebenzimmer verschwunden, alleine mit einer Flasche Whiskey, um zumindest ein paar Minuten Einsamkeit erleben zu können. Irgendwann war sie eingeschlafen, gegen vier Uhr morgens, den Höhepunkt der Party hatte sie noch miterlebt, aber danach war sie für alle verschwunden und wahrscheinlich war es auch niemandem aufgefallen.
Als sie wieder aufwachte war die Wohnung leer, wie immer. Nur voller leerer und halbleerer Flaschen, die sie immer noch nicht weggeräumt hatte, als würden sie ihr zumindest noch ein wenig Gesellschaft leisten wollen. Heute Abend würde sie sich daran machen wenigstens ein paar von ihnen leer zu trinken, oder ein paar auszuleeren, deren Inhalt nicht mehr genießbar war. Dabei würde sie es sich auf der Couch gemütlich machen, die vom Laufen ermüdeten Beine ausstrecken, die Erschöpfung in ihrem Körper fühlen, spüren, wie es sie langsam und wohlig betäubte, vielleicht dabei ein Buch lesen, an nichts denken, an niemanden denken. Vor ihrem Fenster würde sie die Autos vorbeifahren hören, aus den Nachbarwohnungen vielleicht vereinzelte Stimmen und seien es die aus dem Fernseher. Vielleicht würde auch ihr eigener Laufen, um der Stimmen willen. Es klang nach einem schönen Abend und während sie auf eine größere Straße einbog, die sie nun wieder kannte und die sie nahe ihrer Wohnung verortete, während ihre Waden langsam anfingen einen sanft ziehenden Schmerz auszusenden, glaubte sie, sich darauf sogar ein wenig freuen zu können. Die Einsamkeit hatte ihre Vorteile und ihr war bewusst, dass es die Endorphine waren, die ihr Körper beim Laufen in mechanischer Regelmäßigkeit ausschüttete, welche sie nun optimistischer an den Abend und vor allem die angrenzende Nacht, die dahinter lauerte, denken zu lassen. Doch nur weil man die Biochemie des eigenen Körpers durchschaute, hieß das noch lange nicht, dass damit dessen Wirkung nachließ.
Nicht einmal diese Selbsterkenntnis schien sie in dieser Nacht davon abhalten zu können, der Ruhe des Abends entgegen zu sehnen. Vielleicht wäre sie sogar bereits eingeschlafen, bevor die wirkliche Nacht einbrach. Und niemand würde sie heute überfallen, niemand sie vergewaltigen, sie begann sich sicher zu fühlen, die geahnte Gefahr, die vor einer halben Stunde noch so real schien, war in weite Ferne geglitten, an die Peripherie ihrer Wahrnehmung, zusammen mit dem leichten Stechen in ihrem Bauch und ihren tiefen, gleichmäßigen Atemzügen. Ihre Waden zuckten, ihr linkes Auge ebenso. Es waren keine gute Zeichen. Doch was waren schon gute Zeichen?
Nur warum Christian nicht gekommen war, konnte sie nicht verstehen. Genauso wenig, wie sie den Grund für seine Rückkehr in ihre Gedanken verstand, die doch sonst beim Laufen so zielsicher betäubt waren. Natürlich hatte er eine Begründung gehabt, doch konnte sie in seiner Stimme fühlen, wie er log, wie er sich von ihr entfernte.
Dabei hätte sie sich wirklich gefreut ihn zu sehen, was sie überraschte. Es war schon wieder viel zu lange her. Vor allem erinnerte er sie an vergangene Zeiten, in denen alles anders gewesen war. Besser. Bevor er ausgezogen war, bevor sie die Wohnung für sich alleine hatte, bevor sie alleine war.
Nur noch wenige hundert Meter, die Umrisse des Hauses waren bereits erkennbar. Zu ihrer Rechten die tiefe Dunkelheit des Tempelhofer Feldes, ein großes schwarzes Loch im Herzen der Stadt.
Dunkelheit und Nichts. Der Tag war seit langem vorbei. Aber was bedeutete das schon?
Ihre Schritte verhallten ungehört zwischen ihrem Schnaufen und den herab perlenden Schweißtropfen auf ihrer blassen Haut.
Sie ging ihr nicht gut, aber viel besser, als sie es für möglich gehalten hatte.