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10Ausweitung der Kampfzonen

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Er wollte ein Buch schreiben

Alleine schon, weil er sicher war, es zu können. Er spürte es, konnte es fühlen, so wie er wusste, dass dies der Moment wäre. Jetzt. So bald wie möglich. Das Interview war ein voller Erfolg gewesen, dem noch mehrere gefolgt waren, getragen von einer berauschenden Welle aus Paranoia, Berichterstattung und Sensationsgier. Die dünnen Twitteradern und Facebookarterien die eine moderne Gesellschaft ausmachten lagen offen, bereit von seinem Herz künstlich belebt zu werden. Und es gefiel ihnen. Sie lechzten nach mehr, nach mehr Bestätigung, nach mehr Sicherheit und vor allem nach Gründen für mehr vom Alten. Gestern war er in einem Club feiern. Als er sich an der Schlange vorbei zum VIP-Eingang schob, knallte es irgendwo und für einige Sekunden lag Totenstille über der Partynacht und alle warteten ängstlich und begeistert zugleich auf die ersten Schüsse, sich umsehend, hinter welcher Gestalt sie Deckung finden konnten und ob irgendwo ein Araber herumlief. Alle machten sich bereit, an der Geschichte teilzuhaben. Doch nichts geschah und die Party ging weiter. Ein wenig Enttäuschung mischte sich in die Erleichterung. Der Terror sollte schon stattfinden, nur in einem anderen Club, während man selbst die Fahne westlicher Werte und Freiheit, zusammen mit einem billigen Gin-Tonic in die Luft hielt, beziehungsweise einem Wodka-Bull, wenn man noch ein wenig jünger oder ungebildeter war.

Die Party selbst war wenig überzeugend. Ein Abschied, bevor der Club schloss. Warum man ihn eingeladen hatte, konnte er nicht genau sagen, da er zuvor noch nie dort gewesen war, doch ging er davon aus, dass es mit seiner Agentin zusammenhing. In der Toilette des VIP-Bereichs hatte er sich von einem Mädchen einen blasen lassen, ohne sicher ihrer Volljährigkeit sicher zu sein. Sie würde ihn nicht verraten und wenn doch, würde er alles abstreiten und ihr mit Anwälten und Klagen wegen Rufmords genügend Angst machen. Sie würde schon nicht als Schlampe in der Öffentlichkeit dastehen wollen, nachdem eine knapp zwanzig minütige Darstellung linksintellektueller Allgemeinplätze sie entweder soweit beeindruckt oder gelangweilt hatten, dass sie für beinahe genauso lange Zeit mit ihm auf der Toilette verschwunden war.

Irgendwann nachdem er sie für immer aus den Augen verloren hatte, wobei es schwer war dies zeitlich zu verorten, war ihm die Idee mit dem Buch gekommen, worüber er den Rest der Nacht mit diversen anderen Gästen des VIP-Raums diskutierte, woran er sich aber auch, zumindest nicht mehr in Einzelheiten erinnern konnte. Zudem glaubte er, mit einem Mädchen die Nummern ausgetauscht zu haben, begleitet von einer vagen Idee roter Haare und einem Kuss der vielleicht stattgefunden hatte, vielleicht auch nicht.

Aber dieses Buch war eine Idee, die blieb, die vielleicht zu etwas führen konnte. Mit leicht zitternden Fingern, einem verschwimmendem Blick, wann immer er versuchte sich auf etwas zu fokussieren, fuhr die Spitze seines Bleistifts über die weithin leere Seite des Notizblocks. Wohin wollte er damit? Vage Gefühle, die er nicht in Gedanken umzuwandeln vermochte strichen ziellos über das Papier, auf der Suche nach einem Anfang, einem festen Untergrund in welchen sie sich verankern konnten. Doch der Strom zog sie immer weiter in das Meer seiner Überlegungen, die teilweise so tief waren, dass er den Boden kaum mehr erblickte, teilweise so verschwommen, dass er nicht erkannte, wie flach sie doch waren, wie nahe der Boden unter seinen Füßen lauerte.

Wieder ging die Sonne unter, irgendwo stand ein Termin an, den er ignorierte. Anrufe, die er nicht annahm, getragen vom Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, vielleicht sogar ein wenig Bedeutung zu finden. Als die ersten Worte zu Sätzen wurden, zu Zeilen, die sich über das Papier zogen, nach unten wanderten, die nackte, weiße Dunkelheit verdrängten, während eine Rotweinflasche sich langsam leerte, gemütlich seine Wirkung zu entfalten begann, begann er zu glauben.

Nacht brach herein. Das blaugraue Häusermeer versank in der glitzernden Dunkelheit, die sich wie jede Nacht vor ihm erstreckte. Kühl und trüb und so weit weg. Für einen Moment meinte er an jemandem zu denken. Doch auch dieser Gedanke verschwand im Nichts.

Mehrere Seiten begannen sich zu füllen, zusammenhanglose Notizen, zwischen Denkanstößen, Namen, Ideen, Konzeptionen. Eine Kritik sollte es sein, ebenso ein Aufruf, eine Streitschrift. Provokant, aber so, dass die Leser sich damit identifizieren könnten, zumindest die jungen. Am besten die jungen, weiblichen Leser. Die Rotweinflasche war leer, die nächste öffnete sich, während er versuchte, sich an den Preis zu erinnern. Vielleicht konnte er es nicht wissen, vielleicht war sie ein Geschenk, für eine Rede, eine Lesung, von Freunden, einer Frau, für eine Frau.

Angetrunken schaltete er den Fernseher an, zappte gelangweilt durch die Programme, bis er auf sein eigenes Gesicht stieß, wie es das Interview gab. Der Ton blieb abgeschaltet, wusste er doch, wie unglaubwürdig er sich und seinen Auftritt in diesem Moment finden würde. Als würde er schlagartig jeden Respekt vor sich selbst verlieren. Sein tonloses Gesicht wirkte dagegen überzeugend. Ernst, aber nicht verbissen, mit einem manchmal spöttischen Lächeln, um seine Überlegenheit gegenüber der Interviewerin zu signalisieren, jedoch nicht so sehr, um unangebracht oder arrogant zu wirken. Außerdem mochte er sein Gesicht, hatte es ihm doch viel Glück im Laufe seines Lebens gebracht, viele schöne Erlebnisse und Erinnerungen, die er in seinem Geiste bei Bedarf immer wieder hervorzuholen wusste. Auf gewisse Weise war er gesegnet, davon überzeugt, besser für dieses Leben ausgestattet zu sein, als die meisten Menschen, was ihn mit einer natürlichen Überlegenheit versah. Kreativ, attraktiv, eloquent, souverän, vielseitig begabt. Der Idealtyp, der Held einer postheroischen, hedonistischen Gesellschaft, ihr Produkt, König und Vorbild zugleich.

Wann hatte er das letzte mal wirklich arbeiten müssen?

Soweit er sich zurück erinnern konnte, war Geld immer da gewesen, woher auch immer es gekommen war. Immer hatte er nur das getan, worauf er Lust hatte und es war immer gut gegangen, wie es auch ihm immer gut gegangen war. Geld hatte nie eine Rolle gespielt, es war ihm egal. Er hortete nichts, keinen Cent, gab aus, was ihm in die Finger floss, warf es um sich oder ignorierte es. Gedanken machte er sich nicht darüber. Wenn nur alle Menschen auf der Welt so sein könnten wie er. Aber natürlich hatte nicht jeder seine Begabung, das war ihm klar. Konnte auch nicht so sein und er war froh darüber.

Vielleicht sollte er für diese Leute schreiben. Vielleicht sollte er sich nicht dem Terror, oder zumindest nicht nur diesem widmen. Vielleicht war auch das noch zu klein für ihn und er sollte den ganz großen Wurf wagen. Über die Kunst zu Leben, über die Form von Leben, welche man führen sollte, um glücklich und erfolgreich zu sein. Die zweite Flasche begann sich schrittweise zu leeren, die Minutenzeiger näherten sich Mitternacht, doch erreichten es nie. Lautlose Winde heulte um sein Apartment, welches er zu zittern spüren glaubte, als könnte das ganze Gebäude ihn mit sich zu Boden reißen.

Aber es stürzte auch dieses Mal nicht ein. Noch nicht.

Unwillig hörte er die Warnungen seiner Agentin aus der Vergangenheit hervorkriechen. Er gäbe zu schnell Geld aus, zu viel Geld. Natürlich besaß er Geld, sehr viel Geld, theoretisch, und es floss auch stetig neues nach, nur eben nicht in der entsprechenden Geschwindigkeit. Ein sich gut verkaufendes Buch, die damit verbundenen Buchtouren, die Fernsehinterviews, vielleicht Zeitungsartikel, was auch immer, es würde neues Geld schaffen. Und schließlich machte er es dafür. Das waren ihre Worte gewesen, worin wahrscheinlich genügend Wahres lag, um nicht falsch zu sein. Glücklich war er über diese Formulierung dennoch nicht gewesen, aber auch nicht unglücklich genug, Einspruch zu erheben, abgesehen davon, dass es ohnehin zu nichts geführt hätte. Sie durchschaute ihn, das war ihm klar. Sie wusste, dass ihm das Geld egal war, so lange er es hatte und sie kannte seine Abneigung gegen Dinge, die er nicht tun wollte. Aber sie ließ sich davon nicht beirren. In seinen nüchternen Momenten erinnerte er sich gelegentlich, dass dies der Grund war, warum sie für ihn arbeitete. In anderen Momenten musste sie ihn auch daran erinnern.

Im Prinzip war es auch egal. Sich mit ihr zu unterhalten tat gut, es ließ die Zeit vorbeifließen, in der er nichts besseres zu tun hatte, keine Frauen auf ihn warteten, keine Auftritte und er dennoch nüchtern war, oder nüchtern sein musste, und natürlich clean. Meistens betraf dies Tage, an denen er später noch mit dem Auto fahren musste. Der betrunkene Unfall war zwar schon seit ungefähr einem Jahr vergessen, sollte aber nicht – gerade jetzt nicht – durch eine Neuauflage wieder ins öffentliche Gedächtnis gebracht, oder sogar überboten werden.

Peinlich berührt dachte er daran, wie seine Eltern sich darüber genügend aufgeregt hatten, um wieder in Kontakt mit ihm zu treten. Nachdem seine angestrebte Karriere als Rockstar inklusive entsprechend öffentlich zelebrierter Drogen- und Alkoholexzesse ihn ja bereits in ein bestimmtes Licht gerückt und sie dazu gebracht hatte, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Es war schwer gewesen sie wieder loszuwerden, ohne es zu einer öffentlichen Affäre werden zu lassen. Tatsächlich hatte er neben dem ganzen Ekel ein wenig Mitleid empfunden, als seine Mutter ihn heulend am Telefon um Vergebung für seinen Vater gebeten hatte, von dem alles ausgegangen sei. Es hatte sich beinahe falsch angefühlt, den Hörer aufzulegen, bevor sie den Satz beenden konnte. Kurz hatte er überlegt, ihnen ein bisschen Geld zu überweisen, da er von ihren finanziellen Schwierigkeiten erfahren hatte. Doch kannte er ihre Kontonummer nicht und zurückrufen wäre irgendwie unangebracht gewesen.

Verwundert blickte er aus dem Fenster, um festzustellen, dass es immer noch Nacht war.

Hatten sie den Terroristen mittlerweile gefasst, dessen Namen er sich nicht merken konnte? Wie viele waren es eigentlich gewesen, die untertauchen konnten? Nico versuchte sich erfolglos an das Skript seines letzten Interviews zu erinnern. Sicher war es darin gestanden, sie war gut in solcher Detail-Recherche, oder ihre Praktikanten, oder wer auch immer für sie arbeitete. Wann war er das letzte Mal in ihrem Büro gewesen? Hatte sie überhaupt eines? Unruhig fuhren seine nackten Fußsohlen über den weichen Teppich, ein leichtes Kitzeln durch seine Füße jagend, seiner müden Haut entlang zu seinen Waden. Es gefiel ihm, gab ihm ein unerwartetes Gefühl körperlicher Nähe. Müde schloss er die Augen, versuchte in Gedanken auszuformulieren, was er auf die Notizseiten geschrieben hatte, doch nichts schien sich mehr zusammen zu fügen und er war zu erschöpft und zu betrunken, um selbst noch einmal nachzulesen. Viel hatte er geschrieben. Aber wie immer nach längerer betrunkener Arbeit wurde er von dem Gefühl eingeholt, es gar nicht erst versuchen zu sollen. Manchmal erschien es ihm wie ein Wunder, dass er damals nicht aufgegeben hatte, dass er es überhaupt versucht hatte, an sich geglaubt hatte oder zumindest geschafft hatte, sich davon zu überzeugen, es zu tun. Müde schüttelte er den Kopf, etwas verneinend was er nicht kannte, leicht lächelnd, während er sich vor sich selbst als Klischee inszenierte und niemand dabei zusehen konnte, außer vielleicht die Nachbarn auf der anderen Seite der schwarzen Schlucht, die sie wohl für immer trennen würde, falls sie ihn überhaupt sehen konnten. Ob sie noch wach waren? Alle Uhren in seiner Wohnung schienen etwas anderes anzuzeigen, aber aufgrund der deutlich nachgelassenen Lichter der Stadt, dürfte es mittlerweile sehr spät geworden sein, oder sehr früh und zwei Flaschen Wein waren bereits getrunken, was den Gang zum Kühlschrank unnötig erschwerte.

Weißer Mann, was nun?

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