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6Kein schöner Traum
ОглавлениеIn seinem Traum saß er auf einem roten Kunstlederstuhl, festgezurrt mit Gurten, unfähig sich zu bewegen. Vor ihm stand ein Mann mit einem Messer, welches er zuerst langsam ansetzte, aber bei jedem Schnitt mit größerem Elan, größerem Enthusiasmus die Haut und das Fleisch von seinem Gesicht abschabte. Er begann an der Stirn an, mit kreisförmigen Schnitten sich langsam nach innen vorarbeitend, zu Nase und Mund, wo zunehmende Feinarbeit gefragt war.
Auch wenn er sich schreien hörte, spürte er keine Schmerzen. Obwohl er wusste, dass es ein Traum war, das Entsetzen darüber echt, während ein tropfender Fleischfetzen nach dem anderen mit klatschenden Geräuschen in einen metallenen Eimer fiel. Er konnte fühlen, wie die Klinge sich zwischen Haut, Fleisch und Knochen schob, sie langsam aber stetig voneinander löste. Als der Mann endlich fertig war, nach Stunden harter körperlicher Arbeit, die ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte, ließ er ihn in einen Spiegel blicken. Das übrig gebliebene Fleisch an den Rändern seines Gesichts, mit einem letzten Rest an Haut überspannt, blieb wie ein kümmerlicher Rahmen für den nackten Knochen übrig, aus dem nur noch seine panisch herumirrenden Augen den Kontakt zu ihm suchten, den unweigerlichen Wahnsinn bereits tief in die Pupillen gegraben. Schemenhaft konnte er seine Zunge erblicken, die sich zwischen seinen Zähnen wand, durch Stellen durchblickend, die früher von seinen Wangen verdeckt wurden.
Sein Schrei war lautlos. Ein lautes Knacken fuhr durch seinen Kiefer, als wäre er gebrochen, doch außer einer leichten Taubheit war alles in Ordnung. Er musste sein Gesicht nicht,abtasten, um zu wissen, dass es unversehrt war und dennoch tat er es. Die Sonne schien durch die großen, weit aufgerissenen Fenster. Neben ihm war das Bett noch warm von einem fremden Körper, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Undefinierbare Schmerzen zogen träge durch seine nackte Gestalt, als er sich aus dem Bett herausbewegte, auf der Suche nach einer Uhr. Erinnerungen, Bilder von Schüssen und Explosionen kamen zurück, mischten sich mit dem Fleisch seines Gesichts, das man in Fetzen von ihm löste. Tote in Paris, die Nase voller Kokain. Er hatte versucht Julien zu erreichen, aber niemand hatte abgenommen, oder vielleicht war das Netz auch tot, oder er hatte nur vorgehabt ihn anzurufen, es aber doch unterlassen. Es fiel ihm häufig schwer sich zu erinnern, was er in den vorangegangenen Nächten getan oder nicht getan hatte.
Die Sonne brannte sich schmerzhaft durch seine halb geschlossenen Augenlider, während er zum Kühlschrank wankte. Irgendwo klingelte sein Handy, aber er versuchte gar nicht erst, es rechtzeitig zu finden. Das kalte Wasser tat gut, die Kohlensäure betäubte zumindest kurzfristig den Schmerz in
seinem Kopf, wobei er versuchte, sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Es hatte wohl viele Tote gegeben, ein islamistischer Terroranschlag. Ein Mädchen hatte ihm einen geblasen und er war sich auch einigermaßen sicher welches. Sie hatte schon mehrmals mit ihm geschlafen, wodurch es wahrscheinlich langsam Zeit wurde, sie wieder loszuwerden. Dabei hatte er ihr schon mindestens ein blaues Auge verpasst. Aber manche brauchten einfach mehr, um abgeschreckt zu werden. Manchmal war es aber auch einfacher, wenn man eine Zeit lang dieselbe hatte. Mit etwas Glück hatte sie ihn davon abgehalten, irgendetwas Dummes zu tun. Betrunkene Twitter-Nachrichten und Instagram-Posts hatte er sich vielleicht nicht vollkommen abgewöhnen können, aber zum Selbstschutz hatte er vor einiger Zeit sämtliche administrativen Rechte in diesem Bereich an eine, extra für seinen Online-Auftritt eingestellte, Praktikantin übergeben. Mit ihr schlief er auch. Wäre sie nicht heiß gewesen, hätte er sie kaum eingestellt, denn selbst ihm war klar, dass ihr Aufgabenspektrum in keiner Weise einer Vollzeittätigkeit entsprach. Sie bekam wenig Geld – zumindest ging er davon aus – und hatte einen hübschen Hintern, wenn auch ein wenig zu kleine Brüste. Leider hatte die attraktivere Kandidatin nicht so gewirkt, als wäre sie selbst den minimalen kognitiven Anforderungen dieses Jobs gewachsen gewesen. Seitdem seine Praktikantin zum Filter zwischen ihm und der Welt wurde, hatten seine social media Aktivitäten rapide abgenommen, sodass er seine Posts weder schrieb noch las, was seine Agentin noch weiter beruhigte. Hatte er gestern mit seiner Praktikantin geschlafen? Wie war noch gleich ihr Name?
Erneut klingelte es. Erneut nahm er nur einen weiteren Schluck aus der Flasche, wovon ihm allmählich übel wurde. Die Sonne hörte nicht auf, durch die wandgroßen Fenster zu brechen. Schweiß lief seinem nackten Körper herab, über den getrockneten aus der vorangegangenen Nacht. Manchmal fragte er sich, ob seine Nachbarn ihn von ihren Fenstern aus sehen konnten. Mit der Fernbedienung ließ er die Jalousien herab, bis der Raum in Dunkelheit gehüllt war. Zitternde Finger ließen, zum Summen eines weiteren verpassten Anrufs, die Kaffeemaschine ihre Arbeit machen und erst als diese fertig war, begann er nach dem Anrufer zu sehen.
Seine Agentin.
„Was willst du so früh am morgen?“ Er hatte nicht vorgehabt, so aggressiv zu wirken.
„Es ist vier Uhr nachmittags und du hast mich vor zwölf Stunden angerufen, ich solle dich so schnell es geht zurückrufen.“
„War ich sehr betrunken?“
„Was glaubst du?“
„Was habe ich denn gesagt?“
„Willst du es selbst hören?“
„Nein, bitte nicht. Gib mir einfach die Zusammenfassung.“
„Nachdem du dich lange darüber ausgelassen hast, wie schrecklich die Sache mit den Anschlägen ist und was für eine wunderbare Gelegenheit das ist, meintest du, wir sollten auf jeden Fall für heute ein Interview bei irgendeinem wichtigen Sender bekommen.“
„Bitte sag, dass du das ignoriert hast.“
„Natürlich habe ich das ignoriert. So betrunken und high wie du warst, ist es ein Wunder, dass du jetzt schon wieder sprechen kannst. Ich hoffe nur, niemand war bei dir, die das alles gehört hat.“ Es folgte ein kurzes, vielsagendes Schweigen an dessen Ende er beinahe fühlen konnte, wie sie ihre Augen verdrehte. „Aber deswegen rufe ich nicht an, sondern weil du vielleicht recht hast. Nicht unbedingt mit einem direkten Interview, zumindest sollten wir nicht versuchen, es einem Sender aufzudrängen. Aber ich kann an den richtigen Stellen durchblicken lassen, dass du etwas zu sagen hast und für einen Kommentar zur Verfügung stehen würdest. Doch wenn ich das mache, müssen wir zuerst darüber sprechen, was du sagen wirst. Zu einem derart brisanten Thema lasse ich dich nicht einfach vor der Kamera sprechen, verstanden?“
„Ja, Boss“, seufzte er. Seine Kopfschmerzen wurden stärker, die Übelkeit auch, das Sprechen, und vor allem das Zuhören, waren anstrengend. An Widerstand war in diesem Zusammenhang gar nicht zu denken. Einzelne Sonnenstrahlen stahlen sich neben den Aluminiumjalousien vorbei, den Boden mit leeren und halbleeren Flaschen der letzten Tage erleuchtend. Pizzaschachteln, Tüten in denen Koks transportiert worden war, einige ungenutzte Lines auf den Tisch. Warum war die Putzfrau die letzten Tage nicht gekommen?
Seine Agentin hatte weitergesprochen, ohne dass er zugehört hätte, nur irgendwann zurück in ihren Monolog einstieg und bestätigte, was auch immer sie sagte. Sie würde das schon machen, hatte sie ja immer. Dafür war sie da, sodass er sich um nichts mehr kümmern brauchte. Erst als er an sich herabsah, bemerkte er die Verletzung und somit den Schmerz. Eine Glasscherbe hatte sich in seinen Fuß gebohrt. Blutige Abdrücke führten zum Kühlschrank und zurück. Manchmal wunderte er sich, ob er eines morgens aufwachen würde, mit einer Toten neben sich, an die er sich nicht erinnerte. Oder ob das schon einmal geschehen war und er es nur vergessen hatte. Oder er wachte selbst nicht mehr auf. Möglicherweise war das der wahrscheinlichste Fall.
„Hast du etwas von Julien gehört?“
„Nein, noch nicht. Ich glaube, ich hab es gestern Nacht versucht, bin aber nicht durchgekommen.“
„Ihm wird sicher nichts passiert sein. Mach dir keine Sorgen.“
„Danke, du hast wahrscheinlich recht“, er fühlte sich beschissen. „Ich muss jetzt auflegen. Ruf mich an, wenn du was gehört hast. Bis bald.“
„Bis bald. Und versuch mal ein paar Tage nicht zu trinken. Du bringst mir nichts, wenn du so weiter
machst.“ Kurzes Schweigen. „Und tot erst recht nicht.“
„Tschüss.“
Wieder Stille in seiner Wohnung. Er erbrach sich in das Waschbecken neben dem Kühlschrank. Ein
dumpfes Hämmern schlug von mit wilder Kraft gegen die Innenseite seine Schädeldecke, als versuche sein Gehirn verzweifelt einem Gefängnis zu entkommen. Seine Schläfen fühlten sich an, als würde jemand langsam Nägel hinein schlagen. Dabei tat die Vorstellung gut, seiner Rolle als selbsternannten public intellectual wieder spielen zu können. In den letzten Monaten war es sehr ruhig um ihn geworden, was zunächst zwar erholsam, aber natürlich kein gutes Zeichen für seine Karriere gewesen war. Tatsächlich kamen die Anschläge wie gerufen, wenn er nur den richtigen Zeitpunkt abwartete, sowie die richtigen Worte fand, um eigene Akzente zu setzen. Aber – was noch viel wichtiger war – sagte, was die Leute bis zu einem gewissen Grad ohnehin schon annahmen, selbst, wenn sie es nicht offen zur Sprache brachten. Es gab nichts, was die Kundschaft mehr erschreckte, als eine tatsächlich provokante These oder selbst nur eine vollkommen neue Information oder Interpretation des Geschehenen. Sie wollten, wie alle anderen, vor allem Bestätigung. Und Nico würde liefern.
Vielleicht sollte er wirklich seine alte Band wieder zusammenbringen. Nicht unbedingt jetzt. Aber wenn die nächsten Wochen und Monate gut liefen, könnte er darauf aufbauen. Er erbrach sich ein vorläufig letztes Mal, dabei überlegend, was er ansonsten noch mit diesem Tag anfangen könnte. Vielleicht sollte er seine Praktikantin anrufen, doch erschien ihm dies zu anstrengend und war mit einer potentiellen Peinlichkeit verbunden, sollte er sie erst vor Kurzem aus seiner Wohnung gejagt haben. Er könnte erneut versuchen, Julien zu erreichen, aber sowohl die Aussicht ihn weiterhin nicht zu erreichen, wie auch die Gefahr tatsächlich eine längere Unterhaltung bei diesem Kater zu führen, schreckten ihn ab. Er öffnete die Jalousien. Die Sonne ging gerade unter. Vor ihm erstreckte sich eine leere Stadt, zerfließend in Beton und tote Bäume, die sich leicht im Wind bewegten. Einzelne Autos fuhren mit eingeschalteten Scheinwerfern ins Nirgendwo und er fragte sich zum wiederholten Mal, ob sie wirklich existierten. Wie viele Stockwerke es von seiner Wohnung wohl herabging? Ein privater Aufzug verband ihn direkt mit dem Foyer, ohne Zwischenstopp. Es einrichten zu lassen hatte weniger gekostet, als er angenommen hatte, wobei er sich nicht mehr sicher war, wie viel. Wahrscheinlich der neunte, oder der zehnte Stock. Wirklich große Gebäude gab es in dieser Stadt nicht, was er ein wenig peinlich für eine Hauptstadt fand. Seine Hand lag flach auf
dem kühlen Glas. Nur wenige Zentimeter, die ihn vom Abgrund abhielten. Ob sie wohl einbrechen würden, wenn er sich stark genug dagegenstemmte? Unwahrscheinlich, aber er traute sich trotzdem nicht, es zu versuchen. Es war nicht so, dass er große Angst vorm Sterben hatte, er wollte es nur noch nicht, dafür gab es noch zu viel zu sehen, zu viel zu erleben, zu tun, zu kaufen, zu ficken. Noch war er halbwegs jung. Noch konnte er es sich ohne Probleme leisten, ohne große Anstrengung. Fans und Idioten gab es überall und selbst ohne diese hätte er Grund zuversichtlich zu sein. Er sah gut aus, hatte Geld, was brauchte er schon mehr? Selbstbewusstsein war offensichtlich ebenfalls kein Problem, es kam mit dem Geld gratis mitgeliefert.
Dennoch nahm der Druck gegen das Glas zu und verwundert stellte er fest, dass sein Arm vor Anstrengung zu zittern begann, die Haut seiner flach gepressten Hand weiß angelaufen war.
Das Glas hielt.