Читать книгу Auswahlband Krimi Winter 2020 - A. F. Morland - Страница 40
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ОглавлениеIch stieg aus. Die 10th Avenue am St. Luke’s zu überqueren ist normalerweise der reinste Selbstmord. Aber im Moment war das problemlos möglich. Allerdings war der Kerl, der für diese Verkehrsberuhigung gesorgt hatte, alles andere als ein Weltverbesserer oder jemand, der dem Auto aus edlen Motiven heraus den Krieg erklärt hatte.
Montgomery war einfach nur jemand, der Vergnügen dabei empfand, Menschen, die er fast wie in einer groß angelegten Versuchsanordnung in eine Krisensituation geführt hatte, dabei zu beobachten, wie sie reagierten. Wie sie litten, wie sich gegenseitig versuchten, aus den Unfallwagen herauszuholen, weil die Rettungsfahrzeuge einfach nicht bis zum Ort des Geschehens vordringen konnten.
Montgomery war jemand, der die Situation kontrollierte, während er sie gleichzeitig für andere völlig außer Kontrolle brachte.
Während mir das durch die Gedanken hing und ich mich zwischen den Stoßstangen der Wagen herdrückte, versuchte ich nicht daran zu denken, dass Montgomery wahrscheinlich sogar noch mildernde Umstände bekam, weil ein findiger Psychologe eine Persönlichkeitsstörung bei ihm diagnostizierte.
Vielleicht hatte er die sogar.
Allerdings war seine eigenartige Veranlagung, die sich allein schon aus seiner Vorgehensweise ergab, wohl nicht das einzige Motiv für ihn gewesen, seinem verspäteten Spieltrieb freien Lauf zu lassen und in mehr oder minder regelmäßigen Abständen für Chaos auf den Straßen des Big Apple zu sorgen.
Er machte auch Geld damit.
Um die schärferen Aufnahmen sehen zu können, musste man sich nämlich einloggen und ein paar Dollar auf ein Konto auf den Cayman Inseln überweisen. Der Weg der Daten war heutzutage so gut zu tarnen, dass man ihm kaum folgen konnte. Aber glücklicherweise war Geld da etwas schwerfälliger und vor allem hinterließ es deutlichere Spuren.
Und diese Spuren waren eines der Indizien gewesen, das uns auf Montgomery gebracht hatte.
Ein paar weitere Verhaftungen folgten zeitgleich oder würden noch folgen, denn ich nahm nicht an, dass alle aus dieser Gang einen Deal mit der Justiz gegen eine umfassende Aussage prinzipiell verweigern würden.
Ich erreichte schließlich die andere Straßenseite und versuchte den Ampel-Hacker aus meinem Bewusstsein zu verbannen. Wir hatten jetzt einen neuen Fall. Und das bedeutete, ich musste alles aus meinen Gedanken löschen, was mit dem altem zu tun hatte. Denn, dass es zwischen Hoffman und Montgomery einen Zusammenhang gab, war nun wirklich nicht anzunehmen.
Ich ging ziemlich schnellen Schrittes die Straße entlang. Auch hier stauten sich Autos wahrscheinlich auf über eine Meile. Die Kollegen der City Police, die schon am Tatort waren, mussten Glück gehabt haben und schon vor Montgomerys Aktion in der Gegend gewesen sein.
Ich hoffte, dass sie schon etwas herausgefunden hatten.
Schließlich stand ich vor der Adresse, die Mr McKee uns angegeben hatte. Es war ein gut erhaltener und gepflegter Brownstone-Bau.
Schon am Eingang begrüßte mich ein Officer des NYPD.
An seiner Uniform standen sein Name und sein Rang. Lieutenant O. McCafferty war da zu lesen.
„Sir, ich darf im Moment niemanden ins Haus lassen“, sagte er.
Ich zeigte ihm meine ID-Card. „Ich werde hier erwartet.“
„In Ordnung. Gehen Sie durch, dann drei Treppen hoch. Der Aufzug wird im Moment erkennungsdienstlich untersucht, den können Sie also nicht benutzen.“
„Naja, Bewegung tut gut“, seufzte ich.
Ich betrat das Haus. Es gab Videokameras und außerdem patrouillierte ein Mann in der Uniform eines Security Service auf und ab. Er schien ziemlich nervös zu sein. Er wollte mich schon ansprechen und wahrscheinlich hinauswerfen, als ich auch ihm meine ID-Card entgegenhielt.
„Nichts für ungut, Sir.“
„Sagen Sie, sind diese Kameras eigentlich in Betrieb?“, fragte ich.
„Sie sind doch wegen Mister Hoffman hier, oder?“
„Bin ich“, bestätigte ich.
„Sehen Sie, das ist ja gerade die Tragik! Mister Hoffman ist Computerspezialist und in unserer Überwachungsanlage war – wie soll ich sagen? – der Wurm drin. Das meine ich jetzt ganz wörtlich. Computerwürmer sind eine fiese Sache und ich habe bis heute keine Erklärung dafür, wie es soweit kommen konnte. Jedenfalls hat sich Mister Hoffman bereit erklärt, die Anlage wieder in Gang zu bringen. Leider war es dazu nötig, sie abzuschalten.“
„Jetzt sagen Sie nicht, Hoffman ist genau in dem Zeitraum ermordet worden.“
„Doch genauso ist es. Wer immer auch zu ihm in die Wohnung gegangen ist und ihn umgebracht hat, wir haben keine Bilder von ihm.“
„Vielleicht brauche ich nachher noch mal Ihre Hilfe“, sagte ich.
Nachdem ich die drei Treppen hinter mich gebracht hatte, gelangte ich zu Hoffmans Wohnung. Man ließ mich passieren, nachdem ich meine ID-Card noch ein paar Mal vorzeigen musste. Dann entdeckte mich der Einsatzleiter, ein grauhaariger, kleiner Mann mit krausen Haaren und einem breiten Gesicht. Ich schätze ihn auf nicht jünger als 45 und nicht älter als 55 Jahre ein. Dazwischen schien mir alles möglich zu sein.
„Ich bin Captain Josh Belcona von der Homicide Squad des zuständigen Reviers“, stellte er sich vor.
„Special Agent Jesse Trevellian. Mein Kollege wird nachkommen, sobald er einen Parkplatz gefunden hat.“
„Da draußen ist ja wirklich der Teufel los“, nickte Belcona.
„Das wird so schnell nicht wieder passieren.“
„Heißt das, Sie haben den Kerl, der sich einen Spaß daraus macht, Ampeln zu manipulieren?“
„Richtig.“
„Glückwunsch, Agent Trevellian! Die ganze Stadt wird dem FBI dankbar sein.“
Captain Belcona führte mich durch die Wohnung, wo bereits einige Kollegen der Scientific Research Division seit ein paar Stunden ihrem Job nachgingen. Die Wohnung beeindruckte zunächst mal durch ihre schlichte Größe.
„Ich schätze, das sind gut zweihundert Quadratmeter“, stellte ich fest.
„Zweihundertfünfzig“, korrigierte mich Captain Belcona. „Habe ich von der Hausverwaltung. Jedenfalls muss man schon einiges verdienen, um sich eine Wohnung dieser Größenordnung in New York leisten zu können.“
Belcona führte mich ins Wohnzimmer.
„Wir haben den Tathergang einigermaßen rekonstruieren können. Die Leiche trägt das charakteristische Brandmal eines Elektroschockers. Genau hier wurde Darren W. Hoffman damit außer Gefecht gesetzt.“ Captain Belcona streckte den Arm aus und deutete auf den Handlauf eines ziemlich klobigen Sessels. Der Handlauf war aus Holz. An der Kante klebte etwas Dunkelrotes. Getrocknetes Blut. „Dort ist er mit dem Kopf aufgekommen“, fügte Belcona hinzu.
Es gibt keine einzige anerkannte wissenschaftliche Veröffentlichung über die genaue Wirkung von handelsüblichen Elektroschockern. Genau das macht diese Waffe auch so umstritten, denn der Effekt scheint höchst unterschiedlich zu sein. Höllische Schmerzen und der sofortiger Verlust der Kontrollfähigkeit über die Muskulatur scheinen allerdings gesichert zu sein. Auf manche Personen wirkt die Waffe aber auch tödlich.
„Gab es Anzeichen für ein gewaltsames Öffnen der Tür?“, fragte ich.
„Nein“, sagte Belcona.
„Dann wurde der Mörder hereingelassen. Es muss also jemand sein, den Hoffman kannte“, schloss ich.
Captain Belcona nickte. „Das sehen wir genauso. Dafür spricht auch, dass der Mörder mit dem Schocker auf Armlänge an das Opfer heran musste. Es gibt keine Spuren eines Kampfes oder dergleichen.“
„Also Hoffman liegt kampfunfähig auf dem Boden. Was geschah dann?“, fragte ich.
„Ihm wurde eine Injektion verabreicht. Wir wissen noch nicht genau, was diese Injektion bewirkt hat. Dazu bedarf es weiterer Untersuchungen. Genauso wenig können wir sagen, welche Substanz benutzt wurde. Abgesehen davon waren es insgesamt zwei Injektionen. Aber dazu wird Ihnen Dr. Claus vielleicht Näheres sagen können. Er ist drüben im Schlafzimmer.“
Dr. Brent Claus von der Scientific Research Division, kannte ich sehr gut. Der Gerichtsmediziner in Diensten des von allen New Yorker Polizeieinheiten in Anspruch genommenen Erkennungsdienstes hatte bei zahlreichen Ermittlungen mit uns zusammengearbeitet und ich schätzte seine Arbeit sehr.
So manchen Fall hatten wir schon lösen können, weil die Untersuchungsergebnisse des Pathologen uns auf die richtige Spur gebracht hatten.
Ich folgte Captain Belcona ins Schlafzimmer. „Die Schleifspuren sind längst gesichert“, sagte er.
Im Schlafzimmer befand sich ein großes Doppelbett. Darauf lag der Tote. Dr. Brent Claus war bei ihm. Hoffman trug ein T-Shirt und eine Jeans. Die Schuhe, die er getragen hatte, standen fein säuberlich nebeneinander vor dem Bett.
Ich begrüßte Dr. Claus.
„Tja, im Moment komme weder ich hier weg, noch hat der Leichenwagen eine reelle Chance bis zu dieser Adresse vorzufahren“, stellte Dr. Claus fest.
Ich nickte. „Wem sagen Sie das!“
„Wie haben Sie es denn geschafft?“
„Ich bin zu Fuß hier!“
Dr. Claus lachte. „Anders ist es im Moment wohl auch gar nicht möglich.“
„Sie sagen es.“
„Naja, jedenfalls habe ich schon ein bisschen mit der Arbeit begonnen. Aufschneiden kann ich Mister Hoffman hier zwar nicht, aber der erste Schritt ist sowieso immer, dass man seine Augen benutzt.“
Ich deutete auf die Schuhe. „Haben Sie die so hingestellt, Dr. Claus?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Die Schuhe haben wir so vorgefunden. Das muss der Täter gewesen sein, nachdem er das Opfer auf das Bett geschafft hat.“
„So etwas habe ich ehrlich gesagt noch nie gesehen! Der Täter muss ganz schön kaltblütig sein“, ergänzte Captain Belcona. „Ich meine, dass er an so etwas wie die Schuhe überhaupt gedacht hat, nachdem er gerade einen Menschen umgebracht hat…“
Ich hob die Augenbrauen. „Dann scheinen wir es wohl mit einem sehr ordentlichen Menschen zu tun zu haben“, vermutete ich.
Dr. Claus stellte nun dar, wie seiner Meinung nach alles abgelaufen war.
„Der Täter hat zwei Injektionen gesetzt“, erklärte er. „Eine davon subkutan – also in den Muskel. Die andere intravenös.“ Claus zog das T-Shirt etwas hoch. Um einen kleinen roten Punkt hatte sich ein Hämatom gebildet. „Diese Spritze in den Muskel wurde vermutlich noch drüben im Wohnzimmer gesetzt, nachdem Hoffman kampfunfähig zusammengebrochen ist. Ich kann natürlich nur vermuten, wie sie gewirkt hat, aber…“
„Was vermuten Sie?“, hakte ich nach.
„Dass es sich um eine lähmende, extrem muskelentspannende Substanz gehandelt hat, die dafür sorgte, dass das Opfer paralysiert bleibt.“
„Und die zweite Injektion?“
„Ich vermute, deren Inhalt hat den Tod ausgelöst. Eine intravenös gesetzte Giftspritze.“ Dr. Claus deutete auf die Einstichstelle in der Armbeuge.
Ich kratzte mich am Kinn. „Eine ziemlich seltsame Vorgehensweise“, musste ich zugeben.
„Aber eine, die zu jemandem passt, der auf Nummer Sicher gehen will“, sagte Belcona. „Er wollte offenbar verhindern, dass es zu einem Kampf kommt…“
„Aber ganz hat er das nicht geschafft“, stellte Dr. Claus fest. „Das Opfer hat etwas unter den Fingernägeln der rechten Hand gehabt, das möglicherweise getrocknetes Blut und Hautpartikel des Täters enthält…“
„Er hat ihn gekratzt?“, fragte ich.
Claus nickte. „Ein Kollege von uns hat die Spuren schon gesichert. Sie müssen also nicht befürchten, dass ich durch meine Arbeit hier irgendetwas kaputtmache.“
Ich hob beschwichtigend die Hände. „Das hätte ich bei Ihrer Erfahrung ohnehin nie vermutet, Dr. Claus!“
„Es gibt noch einen interessanten Aspekt“, erklärte Captain Belcona.
Ich sah ihn an. „Ich bin ganz Ohr, Captain.“
„Kommen Sie. Das ist etwas, das in New York so exotisch geworden ist, dass man es schon mit eigenen Augen gesehen haben muss.“
Er führte mich zurück ins Wohnzimmer und von dort aus in die Küche. Dort befand sich ein Tisch, auf dem die Kollegen der SRD mehrere Proben sorgfältig in Plastik verpackt isoliert und abgelegt hatten.
Zwei dieser Tütchen enthielten tatsächlich etwas, dessen Anblick in dieser Stadt ausgesprochen selten geworden war.
„Zigarettenkippen“, stieß ich hervor.
„Lagen auf dem Boden verstreut herum. Außerdem war da noch etwas, das man als Sand bezeichnen könnte.“
„Long Island ist ein bisschen weit weg, um Sand vom Strand hier her zu tragen“, meinte ich.
„Der Sand hat etwas mit den Zigarettenkippen zu tun, denn er wurde nur dort gefunden, wo auch Kippen verstreut waren…“
„Sie sagten verstreut?“, fragte ich.
Captain Belcona nickte. „Genauso sieht es aus. Der Tote ist Nichtraucher gewesen. Und selbst bei oberflächlicher Prüfung sieht man schon, dass die Stummel von unterschiedlichen Zigarettensorten stammen…“
„Sollte der so auf Sicherheit bedachte Pedant, der Hoffman auf dem Gewissen hat, vielleicht eine schmutzige Seite haben?“