Читать книгу Privatdetektiv Tony Cantrell Sammelband #4 - Fünf Krimis in einem Band - A. F. Morland - Страница 37

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Melissa Remsberg weinte auch am offenen Grab ihres Bruders nicht. Kerzengerade stand sie da. Ihr bleiches Gesicht schimmerte durch den schwarzen Schleier, den sie trug.

Sie wurde von ihrem alten gramgebeugten Vater auf der einen und von Jack O'Reilly auf der anderen Seite gestützt. Jeder Schritt kostete sie viel Kraft.

Über den Friedhof wehte ein kühler Wind. Am Himmel hingen graue Wolkensäcke.

Viele Trauergäste waren gekommen. Das ganze Personal des Tanzlokals. Freunde. Bekannte. Aus vielen Bundesstaaten waren sie angeflogen, um ihrem Donald die letzte Ehre zu erweisen.

Jeder warf ein Schäufelchen Erde auf den schwarzen Eichensarg.

Dann kondolierten die Trauernden dem Vater des Ermordeten und Melissa. Sie nahm die Beileidsworte mit einem Kopfnicken entgegen.

Butch blickte zum Himmel hinauf. Es war ein Tag, an dem viele Menschen Selbstmord begingen. Ein Tag, der einem schwer auf der Seele lag.

Als die Zeremonie vorbei war, bot sich Butch an, Melissa und ihren Vater nach Hause zu bringen.

Der alte Mann blickte Jack unendlich traurig an.

„Er war ein so guter Junge, Jack. Sie haben ihn gut gekannt. War er nicht ein guter Junge?“

Butch schluckte.

„Oh ja, Mr. Remsberg. Das war er wirklich.“

Sie verließen den Friedhof.

Jack fuhr zu dem Haus, in dem Melissa und Donald gewohnt hatten. Ein Einfamilienhaus, mit einer hellen, freundlichen Fassade. Mit einem schiefergrauen Dach. Umstanden von Douglasfichten.

Als sie im hellen großen Wohnzimmer saßen, sagte der alte Remsberg mit seiner brüchigen Stimme: „Warum hat ihm das passieren müssen?“ Der alte Mann konnte es einfach nicht begreifen.

Melissa saß steif im Fauteuil. Sie hatte die gefalteten Hände zwischen die Knie geklemmt und sagte nichts.

„Mein Junge“, sagte Remsberg verzweifelt. „Mein armer Junge.“

„Vater!“, sagte Melissa plötzlich scharf. Sie hatte den schwarzen Schleier abgenommen und blickte den alten Mann erregt an. „Bitte, hör auf damit, ja?“

Der alte Mann schwieg.

„Möchtest du einen Drink, Jack?“, fragte Melissa.

„Ja, bitte“, sagte Butch.

Melissa erhob sich steif. Sie ging mit eckigen Bewegungen zur Hausbar und füllte drei Gläser. Sie füllte eines davon fast bis zum Rand. Es war ihres.

Nachdem sie ihrem Vater und Butch die Drinks gereicht hatte, trank sie ihr Glas auf einen Zug aus.

„Melissa“, sagte Butch. „Ich würde an deiner Stelle mit dem Zeug etwas vorsichtiger sein.“

Das Mädchen zuckte die schmalen Schultern.

„Vielleicht hast du recht, Jack. Aber ich brauche es jetzt. Sonst breche ich zusammen.“

Sie setzte sich und entnahm einer kleinen Intarsienschatulle eine Zigarette. Butch gab ihr Feuer. Sie rauchte nervös und mit zitternden Fingern.

Ihr Vater erhob sich, ohne etwas zu sagen. Er stakte zum Fenster und blickte unbeweglich nach draußen.

„Der arme alte Mann“, sagte Melissa mit einem verzweifelten Seufzer. „Dass er auf seine alten Tage noch so etwas Schreckliches erleben muss. Manchmal teilt das Schicksal schon verdammt schmerzhafte Tiefschläge aus, Jack.“

Butch leckte sich über die trockenen Lippen. Ihm war heiß.

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Melissa. Wenn du etwas brauchst ...“

Melissa schüttelte unendlich langsam den Kopf.

„Ich brauche nichts, Jack. Du bist sehr nett. Wirklich. Aber ich glaube, mir kann jetzt niemand helfen. Das muss ich allein durchstehen.“ Sie seufzte und atmete schwer. Ihre Lippen zuckten kurz. „Wie heißt es doch so schön: Das Leben geht weiter. Mein Gott, was sind das für trostspendende Sprüche! Es ist zum Heulen. Alles ist zum Heulen, Jack. Verstehst du das?“

„Ihre ganze Verzweiflung, ihr ganzer Schmerz, ihre ganze Bitterkeit lagen in diesen Worten.

„Natürlich, Melissa. Ich verstehe das sehr gut. Donald war mein Freund. Was wirst du tun?“

Melissa strich sich zitternd über die Augen. Dann schüttelte sie kurz den Kopf.

„Nichts. Nichts werde ich tun.“

„Wirst du das Tanzlokal allein weiterführen?“

Melissa nickte entschlossen.

„Auf jeden Fall. Ich gebe es nicht her. Es ist das Einzige, was mir auch jetzt noch das Gefühl gibt, Donald wäre nur für ganz kurze Zeit verreist. Nach Europa. Um ein neues Stripgirl zu engagieren. Oder um Kostüme für unsere Mädchen zu kaufen.“

Sie schwiegen eine Weile.

Melissa rauchte eine Zigarette nach der anderen. Sie trank auch noch einmal die gleiche Menge Whisky.

Ihr Vater wandte sich vom Fenster ab und setzte sich wieder zu ihnen. Er trank sein Glas aus und fragte: „Kann ich noch einen Whisky haben?“

Butch erhob sich und füllte ihm das Glas. Der alte Mann hob sein Glas. Die dürren abgearbeiteten Finger zitterten, und er verschüttete einen Teil des Drinks.

Butch hatte noch mit keinem Mann mehr Mitleid gehabt als mit ihm. Er wandte sich an das Mädchen.

„Melissa ...“

„Ja, Jack?“

„Verzeih, wenn ich gerade jetzt damit anfange ...“

„Was ist, Jack?“

„Ich weiß, dass es besser wäre, ein paar Tage zu warten ...“

„Rede, Jack. Du willst etwas wissen. Es ist bestimmt sehr wichtig für dich, die Antwort jetzt schon zu erfahren.“

„Allerdings“, sagte Butch und nickte.

„Dann frage. Du brauchst auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Ich glaube, es gibt nichts mehr, was mich jetzt noch erschüttern könnte.“

Butch sagte: „Wir haben uns die Frage gestellt, wieso sich die Gangster ausgerechnet Donald als Geldboten ausgesucht haben. Hast du dafür vielleicht eine Erklärung?“

„Eine Erklärung ...“ sagte Melissa Remsberg nachdenklich. Der Whisky begann zu wirken. Ihre bleichen Wangen färbten sich rosig.

„Hattest du das Gefühl, dass dein Bruder in letzter Zeit von jemandem beobachtet wurde? Kann ihn jemand unauffällig auf seine Eignung als Geldbote geprüft haben?“

Melissa schüttelte den Kopf.

Doch plötzlich blitzte es in ihren grünen Augen. Sie sagte beinahe schrill: „Bibi Garner! Mir fällt nur Bibi Garner ein.“

„Wer ist Bibi Garner?“, fragte Butch.

„Ein durch und durch verkommenes Mädchen. Sie hat Donald den Kopf verdreht. Nachdem er sie kennengelernt hatte, war er an manchen Tagen wie ausgewechselt. Nicht zu ertragen. Ich mochte sie von Anfang an nicht. Ich versuchte, ihn zu warnen. ,Hör mal, das ist kein Mädchen für dich‘, habe ich gesagt. Aber er hat mich ausgelacht. Er dachte, ich wäre eifersüchtig auf dieses Flittchen. Einmal sagte er sogar, ich wäre wohl auf jedes Mädchen eifersüchtig, für das er sich ernsthaft interessieren würde.“

„Hatte er denn bei dieser Bibi Garner ernste Absichten?“, wollte Jack O'Reilly wissen.

„Er hatte jedenfalls Feuer gefangen.“

„Wann ist sie aufgetaucht?“

„Vor ungefähr drei Wochen.“

„Erst vor drei Wochen?“

„Ich bin sicher, sie beherrscht alle Tricks, um einen Mann herumzukriegen“, sagte Melissa verächtlich. „Und ich bin sicher, dass sie alle Tricks bei Donald angewandt hat. Sie war schlecht, Jack. Durch und durch schlecht. Das haben mir ihre Augen verraten. Ich habe einen Blick für so etwas. Einmal habe ich Donald darauf aufmerksam gemacht. Er hat mir eine Szene gemacht ... Verrückt war er. Und völlig blind.“

„Er war eben verliebt“, sagte Jack zu Donald Remsbergs Entschuldigung. Er kannte dieses Gefühl. Man war taub für alles gute Zureden von Freunden und Verwandten. Man sah alles durch eine rosarote Brille, wollte nichts Schlechtes wahrhaben, war glücklich und wollte sich sein Glück unter keinen Umständen zerstören lassen. Von niemandem. Die anderen waren ja doch nur neidisch.

„Weißt du zufällig, wo Bibi Garner wohnt?“, fragte Butch.

„Donald hat es mir mal gesagt“, erwiderte Melissa nachdenklich. „Gladys Street 936.“

Butch wiegte den Kopf.

„Diese Bibi Garner scheint es wert zu sein, dass man sie sich einmal aus der Nähe ansieht.“

Privatdetektiv Tony Cantrell Sammelband #4 - Fünf Krimis in einem Band

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