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Wolf Rossberg lief ziellos durch die Stadt. Gott, er hätte so glücklich sein können – und war so unglücklich. Er wollte nicht, dass man Christine weh tat.

Er wollte nicht, dass man sie seinetwegen operierte und ihr eine gesunde Niere herausschnitt. Man durfte sie nicht seinetwegen verstümmeln.

Sie musste bleiben, wie sie war: Schön und makellos. Und er würde weiterhin zur Blutwäsche gehen, und wenn er dieses Dialyseleben nicht mehr ertrug, konnte er es beenden, indem er sich einfach nicht mehr an die künstliche Niere hängen ließ.

Er blickte auf und hatte keine Ahnung, wo er war. Die Häuser, die ihn, grau und unansehnlich, umgaben, waren ihm fremd. War das auch noch sein München? Die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war?

Szenen aus seiner Kindheit fielen ihm ein. Wieso gerade jetzt? Wenn man ihn gefragt hatte, was er mal werden wolle, hatte er stets wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Pilot! “

Und was war er geworden? Textdichter. Man mag das Schmalz aus meiner Feder, ging es ihm durch den Sinn. Es wird ihnen fehlen. Die Leute werden es vermissen, wenn ich die Dialyse eines Tages satt habe.

Er versank wieder in tiefes Grübeln. Wie wundervoll wäre es gewesen, wenn Christine mir gesagt hätte, dass sie mich liebt, als ich noch gesund war, dachte er. Vielleicht wären meine Nieren dann nicht krank geworden.

Unsinn, meldete sich eine andere Stimme in ihm. Das hat nichts mit Christine zu tun. Du wärst auf jeden Fall krank geworden. Es war dir vorherbestimmt, krank zu werden. Es ist alles Bestimmung. Unser ganzes. Leben. Vom Anfang bis zum Ende. Von der Geburt bis zur Verweigerung der Dialyse.

Ein junges Pärchen kam ihm eng umschlungen entgegen. Liebe ist etwas Wunderbares, dachte Wolf. Vor allem dann, wenn man Zeit hat, sie voll auszuleben, wenn einem von einer schweren Krankheit kein Limit gesetzt wird.

Er merkte, dass ihm Tränen über die Wangen rannen, und wischte sie schnell weg. „Ein Junge weint nicht“, hatte sein Vater immer gesagt.

Verflucht nochmal, warum nicht? Warum durften Jungen nicht weinen? Warum durften sie keine Gefühle zeigen? Warum mussten sie in jeder Lebenslage die Harten spielen, obwohl das Schicksal sie weich geprügelt hatte?

Mein Vater ist schuld daran, dass ich mich heute meiner Tränen schäme, dachte Wolf, während er sein Gesicht von dem verliebten Pärchen abwandte.

Wohin laufe ich eigentlich?, fragte er sich nach geraumer Zeit. Was hat das denn für einen Sinn? Wann wird mir endlich klar werden, dass ich vor mir selbst nicht davonlaufen kann? Und auch nicht vor meinen Problemen, denn sie gehören zu mir, sind in mir drin, sind ein Teil von mir, machen erst den Menschen Wolf Rossberg in seiner Gesamtheit aus.

Den kranken Menschen Wolf Rossberg. Den kranken Menschen Wolf Rossberg, der wieder gesund werden könnte, der sich aber nicht helfen lassen will.

Warum eigentlich nicht? Ist er zu feige? Zu stolz? Warum lässt er sich nicht helfen? Warum ist er so versessen darauf, die Frau, die ihn liebt, vor den Kopf zu stoßen, ihre Hilfe zurückzuweisen?

Wenn du ihre Hilfe nicht annimmst, lehnst du auch ihre Liebe ab, machte ihm seine innere Stimme klar. Findest du das in Ordnung? Wie sehr hast du dir immer gewünscht, dass Christine deine Liebe erwidert, und jetzt, wo sie es endlich tut, bist du im Begriff, zwischen ihr und dir einen unüberwindbaren Graben aufzureißen.

Er fand sich irgendwann in einem stillen, spärlich beleuchteten Park wieder. Erschöpft setzte er sich auf eine Bank. Seine Füße taten ihm weh. Wie viele Kilometer mochte er gelaufen sein? Hatte er eine Marathondistanz zurückgelegt? Der Abend war kühl. Ich sollte hier nicht sitzen, sagte sich Wolf. Ich könnte krank werden. Krank werden! Ein Witz. Ich bin ja schon krank. Todkrank.

Ein Spielplatz befand sich in seiner Nähe. Obwohl er leer war, vermeinte er ausgelassenes Kindergeschrei zu vernehmen. Und fröhliches Kinderlachen. Und Auszählreime. Und er sah sich selbst mit seinen Freunden herumtollen – mit Helmut Rassinger, mit Werner Moskal, mit Manfred Trampos, mit Günter Unger, mit Peter Neunteufel …

Die Namen waren noch da, aber die dazugehörigen Freunde waren aus seinem Leben verschwunden. Was war aus ihnen geworden? Wohin hatte es sie verschlagen?

Lebten sie noch alle in München? Dachten sie noch manchmal an ihn, wie er jetzt an sie?

Fragen, auf die es im Moment keine Antwort gab.

Auf dem Spielplatz stand jemand – zwischen Rutsche und Wippe. Er kniff die Augen zusammen. War das Christine, die dort stand? Wie kam sie hierher? Wie hatte sie ihn gefunden, wo er nicht einmal selbst wusste, wo er war?

Sie muss ein Trugbild sein, dachte er. Eine Halluzination.

Das Trugbild setzte sich in Bewegung, kam näher. „Darf ich mich zu dir setzen, Wolf?“

Er nickte.

Christine setzte sich neben ihn. „Du bist sehr weit gelaufen. “

„Bist du mir gefolgt?“

„Wäre ich sonst hier? Mir tun die Füße weh.“

„Mir auch“, gestand er.

„Ich möchte, dass du nach Hause kommst, Wolf“, sagte Christine leicht fröstelnd. „Hier ist es ungemütlich.“

Er schaute sie lange von der Seite an und sagte schließlich: „Du scheinst mich wirklich zu lieben.“

Ihre Blicke hielten den seinen fest. „Ich möchte ohne dich nicht leben.“ Sie nahm seine Hand. „Komm“, sagte sie leise. „Komm heim. Wir haben morgen sehr viel vor.“

Er nickte, sie standen auf, und er ging mit ihr nach Hause. Plötzlich war es für ihn kein Problem mehr, sich von ihr helfen zu lassen.

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