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IV. Verfassungsrechtliche Konzeption der europäisierten nationalen Verfassung

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Es gibt unterschiedliche Ansätze, die europäisierte nationale Verfassung verfassungsrechtlich zu konzeptionalisieren. Der britische Ansatz ist in erster Linie in der Abstimmung unserer auf der Souveränität des Parlaments beruhenden verfassungsrechtlichen Tradition mit der europäischen Ordnung zu sehen. Dies bezieht sich vor allem auf zwei Aspekte: die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und die Inkorporierung der Europäischen Konvention für Menschenrechte durch den Human Rights Act 1998. Beides hatte enorme Wirkungen auf unsere Rechtsordnung. Hier waren sie deutlicher zu spüren als auf politischer Ebene.[166] Unsere Verfassung ist politisch fundiert, sieht sich aber zunehmend gerichtlichen Rechtmäßigkeitsanforderungen ausgesetzt. Dies wäre ohne die geschilderte Europäisierung nicht möglich gewesen. Diese Europäisierung der Verfassung gelang im Vereinigten Königreich möglicherweise einfacher als in anderen Mitgliedstaaten, da Großbritannien keine geschriebene Verfassung besitzt. Die verfassungsrechtliche Entwicklung Großbritanniens vollzieht sich vor diesem Hintergrund heute mehr denn je von einer politischen zu einer normativen Verfassungskonzeption.

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Wie dargestellt, hat die europäische Integration das britische Verfassungsrecht entscheidend geprägt. Dies hat die Entwicklung hin zu einer Verfassung mit rechtlicher Bindungswirkung beschleunigt. Das Verhältnis zwischen der Judikative und der Legislative ist durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und durch den verstärkten Schutz der Menschenrechte verändert worden. Aufgrund dieser Faktoren musste das Prinzip der Parlamentssouveränität neu überdacht werden. Durch Gesetzgebung ist dieser Entwicklung Geltung verliehen worden und die Gerichte sind nun in der Lage, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht oder Menschenrechtsgarantien hin zu überprüfen.

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Großbritannien hat lange die Reputation eines schwierigen Partners in Europa gehabt. Dies liegt unter anderem daran, dass sich aus verfassungsrechtlicher Sicht die „Mentalität“[167] des britischen Rechtssystems nicht so leicht in die Europäische Verfassungskonzeption einfügen lässt. Es ist daher für viele britische Juristen und Politiker schwierig, die verfassungsrechtliche Konzeption einer europäisierten nationalen Verfassung zu analysieren. Die theoretische Aufarbeitung des Einflusses der Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf das Prinzip der Parlamentssouveränität ist von den Gerichten nur vereinzelt vorgenommen worden. Dies entspricht der langjährigen Tradition der britischen Verfassungslehre, zumindest im Bereich der Parlamentssouveränität.[168]

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Die Gerichte haben ihr Äußerstes getan, der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und den Auswirkungen derselben im Rahmen eines modifizierten Verständnisses der Parlamentssouveränität gerecht zu werden. Unterschiedliche Ansätze in der rechtstheoretischen Behandlung dieser Fragen sind auf die grundsätzlich unterschiedlichen Verfassungstraditionen in Großbritannien und Staaten mit geschriebenen Verfassungen zurückzuführen. Bereits der technisch anmutende Unterschied in der Zitierweise von Urteilen in Großbritannien und Deutschland weist auf tiefer liegende Unterschiede in der Verfassungsstruktur hin. Dies veranschaulicht die Übersetzung der deutschen Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes[169] in der Common Market Law Review als Brunner v. European Union Treaty.[170] Das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit in England erklärt den traditionell persönlicheren Stil, der die Aufgabe des Richters als Schlichter eines Rechtsstreites zwischen zwei Parteien widerspiegelt.

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Die Entscheidung im Fall Thoburn v. Sunderland hingegen ist außergewöhnlich, weil das Gericht hier erstmalig eine abstrakte Analyse der Auswirkungen des Europarechts auf die britische Verfassung vornimmt. Insgesamt gesehen hat das britische Verfassungsrecht Anpassungsfähigkeit bewiesen; es wird jedoch weiterhin in materiellrechtlichen und stilistischen Fragen Einfluss ausüben. Der Einfluss des Common Law-Systems auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wird erheblich sein.[171]

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Der Urteilsstil der britischen Richter, die die Parameter der britischen Verfassung verfeinern, ist viel bewundert worden: Die analytische und induktive Technik des Richters im Common Law-System könnte eine Bereicherung für den kontinentalen Rechtsstil sein.[172]

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Die Haltung der britischen Regierung zum Europäischen Verfassungsvertrag ist positiv, und in ihrem White paper on the Treaty establishing a Constitution for Europe (Informationsbericht) werden denn auch dessen Vorteile in einer allgemein zugänglichen Form dargestellt.[173] Das Vorwort des Außenministers reflektiert diese positive Stimmung: Die Verfassung reformiert die erweiterte Union, um sie effizienter, effektiver und offener zu gestalten. Dies soll es der EU ermöglichen, sich auf Themen zu konzentrieren, die für die Unionsbürger wichtig sind, vor allem Wohlstand und Sicherheit auf unserem Kontinent. Der VVE macht andererseits deutlicher als je zuvor, dass die EU eine Union souveräner Staaten ist, die nur die Kompetenzen ausübt, die sie von ihren Mitgliedern erhalten hat (Art. I-11 Abs. 1 VVE).[174] Im April 2004 verkündete Tony Blair, dass es ein Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag geben werde, so dass es eine Entscheidung des Parlaments und des Volkes geben soll. Das Parlament muss auch den European Communities Act 1972 abändern. Es ist gleichwohl fraglich, ob der VVE der Mehrheit der Menschen in allen Details zugänglich ist. Der Ratifizierungsprozess im Vereinigten Königreich läuft dabei – unabhängig von den in Frankreich und den Niederlanden aufgetretenen Schwierigkeiten – in besonderer Weise Gefahr, von einer europafeindlichen Presse und politischen Gegnern durch Fehlinformation und Fehlinterpretationen überschattet zu werden.[175] Es bleibt daher eine schwierige Aufgabe für die Regierung, das Volk zu einer Zustimmung zu bewegen. Da es jedoch eine wichtige verfassungsrechtliche Entwicklung betrifft, erscheint es legitim, das Volk nach seiner Meinung zu fragen.

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Zurzeit liegt die Behandlung all dieser Fragen noch vor uns. Großbritanniens Zugehörigkeit zu Europa und der Einfluss der europäischen Rechtsordnung auf unser Rechtssystem ist unbezweifelt. Die Prinzipien unseres Rechts sind durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union stark beeinflusst worden – die Vorteile einer flexiblen Common Law-Verfassung sind jedoch weiterhin spürbar.

Erster Teil Offene Staatlichkeit§ 17 Offene Staatlichkeit: Großbritannien › Bibliographie

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