Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 10
Schritte
ОглавлениеNur Anna, das Jüngste der Kinder, hatte sich vor der Stiefmutter verschlossen; später erinnerte es sich aber an den eigenartigen, selten und überraschend aufleuchtenden Humor und an die schweigsame Güte der Frau, die sich ihren Platz in der Mitte nicht erkämpfen musste; er wurde ihr geschenkt.
Als Anna einen Sohn geboren hatte, brachte sie ihn der alt und müde gewordenen Mutter, Anna besuchte das Kind selten, denn sie war in eine große Stadt gezogen und bewohnte zwei Leben zur gleichen Zeit, bewegte sich in der lichten Welt ihrer Vorstellungen und in der harten, grauen Welt außerhalb. An Sonntagen reiste sie aber manchmal mit dem Zug und ging aufrecht, fast steif zu Fuß vom Bahnhof zum Elternhaus.
Heute trug Anna in einem Korb ein junges Kaninchen für Paul, den Sohn. Paul gehörte zur Welt ihrer Vorstellungen; sie sah ihn hochmütig, mit nachtkühlen Augen und Händen, die nichts halten konnten. Nun, da die alte Mutter gestorben war, musste Anna das Kind zurückholen. Hinter der baufälligen Kirche, in der Annas matte Kindersonntage gefangen gehalten wurden, stieg sie über ausgetretene Stufen auf den Platz hinunter, wo Leute sich um einen Brunnen scharten und über die Erklärungen eines Reiseführers lachten. Plötzlich sah sie ihr Kind: Vor der Glasfassade des neuen Hotels übte es selbstvergessen Tanzschritte, während bunte Fahnen den Takt klatschten. Paul begann immer wieder an der gleichen Stelle, bewegte sich wiegend vorwärts, streckte die kurzen Arme waagrecht auf beide Seiten und betrachtete sich im spiegelnden Glas, ohne der schwarz gekleideten Frau Beachtung zu schenken, die er nicht erkannte.
Anna ging dem Kanal entlang, stieß eine schwere Tür auf, von der jemand die Farbe notdürftig abgekratzt hatte, und betrat den halbdunkeln Raum, in dem ein Greis wie ein Pilz in einem Lehnstuhl wucherte. Als Kind hatte sie vor vielen Jahren mit dem Finger «Mutter» auf den schmutzigen Spiegel geschrieben, der am Boden stand; die Schrift war noch da. Anna bemerkte durch das Fenster an der hintern Wand den verkrüppelten Baum, der mit hellgrünen Wimpeln die Sonne begrüßte, die wie eine Wunderblume aus dem steinernen Himmel schoss; eine an einem dünnen Ast aufgespießte Vogelfeder zitterte im Wind.
«Paul weiß nicht, dass es das Wichtigste ist, den Erwartungen zu entsprechen», flüsterte der alte Mann und befeuchtete mit der Zunge die Lippen.
«Er begreift nicht, weshalb jemand sich anmaßt, ihn zu bewerten. Bald wird er seine erwartungsvolle Haltung verlieren, wird sich ungesellig und abweisend gebärden.» – «Hab keine Angst, Vater; ich hole meinen Sohn und werde ihn alles lehren», sagte Anna; ihre Stimme klang sonderbar klar, so dass sie erschrak, und gleichzeitig spürte sie, wie eine unbekannte Freude ihren Körper erwärmte. Als die Tür sich bewegte und Licht durchs Zimmer sprang, wandte sie sich um. «Du bist so schwer und so leicht wie mein Herz», dachte sie und betrachtete das Kind, das zögernd mit kurzen Schritten näherkam und verständnislos zu ihr aufblickte. Als sie Paul den Korb mit dem Kaninchen zeigen wollte, versteckte er beide Hände hinter dem Rücken, streckte den Kopf vor und schnupperte.