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Sechs Ecken
ОглавлениеHelen kann den Ofen, der hinter der Tür steht, nicht heizen; der Rauch kröche zwischen den zerbrochenen Kacheln hervor, und da das Zimmer im Ganzen einen recht höflichen Eindruck macht, würde es sich nicht gegen den Rauch zur Wehr setzen, wie es sich auch nie gegen die Küchendämpfe empört hat, als Wendelin – Helens Mann – noch seine Mahlzeiten in der Küche nebenan kochte und die Tür offenstehen ließ.
Die Tür steht immer noch offen; meist vergisst Helen auch, die Wohnungstür zu schließen, denn an die Leute, die dort draußen vorbeigehen und den Türspalt ins Auge fassen, verschwendet sie keinen Gedanken. Sie sind ihr gleichgültiger als der ausgestopfte Rabe, der auf der Lehne des Kanapees steht und seine Füße betrachtet. Vielleicht träumt er von der Sonne, die ihre flammenden Wangen hinter Schleiern verbirgt und immer tiefer in den Winterhimmel sinkt.
Die Wohnung liegt im Parterre; da die Rollläden morsch und auseinandergefallen sind, schützen nur isabellfarbene Vorhänge vor der Nähe der unverständlichen Tage. Eine runde Lampe – in einer Ecke des Zimmers – schwimmt im Fensterglas, schwebt zwischen innen und außen wie ein starrer, gelber Fisch. Wendelin ist nicht mitgekommen ins Neue Jahr; er ist irgendwo im Alten geblieben – dort draußen. Helen glaubt, es sei in andern Zeiten gewesen, als er sang: «Ein Fräulein freut sich im Freuhling»; Helen saß auf dem Stuhl in der Ecke, hielt ihre Brille in den Händen, hatte das gedunsene Gesicht einer kranken Füchsin darübergebeugt und putzte die Gläser mit dem Saum ihres Kleides; sie sah das Muster des Teppichs verschwommen. Schon seit einiger Zeit kann sie nicht mehr vordringen; sie bleibt an Ort, spürt Angst, auch dieser Ort beginne wegzurücken.
Helen atmet mit geöffneten Lippen; ihre Füße sind immer kalt. Sie isst sehr viel, häuft Berge von Esswaren um sich und in sich. Sie ist eine Abtrünnige, sie versteht die andern dort draußen – auch Wendelin – nicht. Sie will nichts wissen von Schlüsseln, mit denen man an Türschlössern manipuliert, um endlich die Tür aufstoßen zu können, die den Weg versperrt hat, der wegführt. Alle wollen weg, alle gehen weg – sie bleibt. Sie hat seit einiger Zeit alle Spuren zugedeckt, alle Wegkreuzungen vergessen. Sie glaubt nur an Ecken; in einer Ecke lässt sie sich nieder, den Rücken geschützt, und kann alle andern Ecken im Auge behalten. Dieses Zimmer ist sechseckig; jeden Tag rettet sie sich in die gleiche Ecke; die Zimmerecken sind Bestandteile ihres Widerstandes.
Autos stehen mit erfrorenem Motor längs der Straßen, und der Januar pumpt kalten Atem ins Zimmer. Die Vorhänge zittern, und Helen glaubt, der Rabe habe den Käse gestohlen, denn nichts Essbares ist mehr zu finden. Sie wird verhungern in ihrer Ecke und erfrieren, aber sie bleibt sitzen, holt keine Wolldecke, füllt keine Wärmeflasche und braut keinen Tee. Eine Stimme verliert sich hinter den sechs Ecken: «Ein Fräulein freut sich im Freuhling …»
Stumm hält der Rabe den Kopf gesenkt; Helen sieht sein Gesicht nicht – nur den Nacken und die Stirn. Vielleicht träumt er, die Sonne dränge sich aus den Schleiern, und das Regenwasser blitze zwischen den Pflastersteinen und funkle, als tummelten sich Tausende von Edelsteinfüßlern, Goldflöhen und Diamantkäfern in den Straßen der Stadt.