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Der ungewöhnliche Junge und das besondere Mädchen

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Wenn der Abend sich hinter den Tannen aufschichtete, die nasse, spiegelnde Eisfläche weiß und hart wurde und die Schlittschuhläufer wie Schwalben umherflitzten, wunderte ich mich, dass sie nie aneinanderstießen. Ich lauschte ihren hohen, spitzen Schreien und beobachtete die kleinen Kinder, die wie junge Bären zu tanzen anhoben. Rolf zog seine Kreise immer noch sorgfältig und sein Gesicht blieb unnahbar. Ich selber wagte mich nie aufs Eis; ich hinkte wegen einer Schwäche in den Gelenken von Tag zu Tag stärker. Ich schämte mich deshalb, denn ich wäre gerne gewandt aufgetreten wie meine Freundin, die ich bewunderte – oder wie Rolf.

Ich sah Rolf auch, wenn er am Montagabend mit einer schwarzen, henkellosen Tasche unter dem Arm in die Ballettschule ging. Vor der Tür hockten die Bühnenarbeiter, rauchend, schwatzend oder lesend; sie musterten die kleinen Mädchen, und wenn sie unter ihnen den streng blickenden Jungen sahen, lachten sie und grüßten spöttisch; «Ballettmaus» nannten sie ihn. Sie verstummten, wenn ein Schauspieler die wenigen Stufen mit einem federnden Sprung hinter sich brachte, in gerader Haltung und mit gesammeltem Ausdruck die Ballettschülerinnen im Korridor überholte und hinter einer Tür verschwand.

Im Theater wurde irgendwo abgehackt Klavier gespielt; mir schien, die Töne flögen wie die Zacken eines Kammes auf die Straße oder sie würden ausgespuckt wie Zähne – und mir böswillig an den Kopf gespickt. Ich zählte vierzehn Jahre wie Rolf und besuchte am Montag einen Abendkurs der Kunstgewerbeschule, wo ich mich in einem Zeichensaal abmühte, einen Hobel oder Schuh auf ein Papier zu stricheln; ohne Gummi, mit viel Ausdruck und einigem Temperament. Ich kannte niemanden und verließ den Saal nach der Stunde beinah fluchtartig; auf der Traminsel wartete Rolf wie ich, statt der Zeichenmappe die Stofftasche unter dem Arm – auch er war allein, hatte seinen Kurs vermutlich ebenfalls mit Fleiß durchgestanden und wollte nun nach Hause, wo seine Mutter vielleicht für den strebsamen Sohn den Kakao warmgestellt hatte.

Eine Strähne seines rötlichen Haares lag über der farblosen Wange. Noch nie hatte ich Rolf sprechen gehört, nie ihn lächeln gesehen. Was dachte er, allein auf dieser Insel im abendlichen Verkehr und wartend auf ein Schiff, das ihn sicher durch alle Gefahren, den Lärm und die hin- und herzuckenden Lichter nach Hause führen sollte?

Klopfte sein Herz wie meines angesichts der fremden Gesichter und der Nacht, die überall davor und dazwischen stand, als fordere sie Rücksicht und Nachsicht, Geduld und Mut? (Eigenschaften, an die man in der Helle des Tages nicht dachte, da man jedes Ding klar zu erkennen glaubte; als sei man sicher, dass Licht ein selbstverständlicher, natürlicher Rahmen und Hintergrund sei für alles und alles erkläre, bloßlege und anbiete. Damals kamen mir zum ersten Mal Zweifel – vielleicht sah und fühlte man in der Dunkelheit klarer, richtiger, direkter? Meine Sinne waren überwach; ich reagierte auf die kleinste Bewegung Rolfs, betrachtete zum ersten Mal seine Hand, die von Scheinwerfern bestrahlt und von huschenden Reklamelichtern angeleuchtet wurde.)

Wenn ich einige Zeit später im Bett lag und das Licht schnell ausknipste, da ich plötzlich gerne Abschied nahm von dem allzu Sichtbaren, Vordergründigen, von den störenden, ablenkenden, zu offensichtlich konstruierten, zu zweckbe­wussten Dingen, ließ ich mich fallen – ich fiel Stunde um Stunde zurück und wurde immer wacher dabei; Farben und Düfte erregten mich, die ich nie bewusst wahrgenommen hatte, und dabei wusste ich, dass ich mit den Augen Rolfs sah und mit seiner Nase roch und dass er mich schon längst durchschaut hatte und sich nur stumm und steif stellte, um mich nicht zu erschrecken. Dann nahm ich mir vor, ihn das nächste Mal im Restaurant der Kunsteisbahn, wo er vor einem Teller Pommes frites und einem Glas Coca saß, oder auf der Traminsel anzusprechen.

Manchmal gebärdet sich der Oktober, als sei er ein Bote des Frühlings; er lässt den Föhn tanzen und Rosawolken über den Himmel streuen, dann werden die Menschen unruhig, küssen zur Unzeit den Falschen oder stürzen sich von einer Brücke; manche verunglücken aus lauter Verwirrung oder zünden ein Haus an. An einem solchen Tag bin ich immer auf der Hut und bemühe mich, am Morgen nicht unbändig zu lachen, sonst weine ich am Abend. Damals ging Rolf vorbei, und da fiel mir ein, dass ich mir vorgenommen hatte, ihn an­zusprechen. Ich wollte ihm sagen, er sei anders als die gewöhnlichen Jungen, wie auch ich mich als besonderes Mädchen fühlte, das von niemandem verstanden wurde. Meine Schulkameradinnen zogen übermütige Buben den stillen, braven Schülern vor; mich aber interessierte Rolf, weil er mir geheimnisvoll schien. Ich ärgerte mich, weil ich eine ziemlich altmodische Windjacke trug, die meiner älteren Schwester gehört hatte, doch dann trat ich ihm in den Weg. Seine Nase war vom Wind gerötet, seine moosfarbenen Pupillen sahen durch mich hindurch. Ich grüßte hastig, verzog meine plötzlich starren Lippen zu einem Lächeln, drehte mich um, hinkte an seine Seite und bliebt dort plappernd, schnaufend und immer verlegener werdend, denn er schritt weiterhin wacker aus, ohne zu nicken oder mich wegzujagen oder auch nur anzusehen. Er hatte Brot eingekauft, das in ein weißes Papier gewickelt war, und trug das gleiche schäbige Jäckchen wie immer. Seine von Ballett und Eislauf stark gewordenen Beine steckten in zu großen Schuhen. Was hatte ich eben zu ihm ge­sagt? Ich wusste es nicht mehr, nahm aber an, ich hätte mich vorgestellt mit Namen, Alter, Klasse, Beruf des Vaters, Adresse und Referenzen, wie es sich gehörte. Wir waren doch keine kleinen Kinder mehr, die im Park Fangen spielten und nach zwei oder drei Stunden begeistert auseinandergingen, ohne den Namen des Spielkameraden erfragt zu haben. Kleine Kinder interessieren sich für Nebensächlichkeiten wie Namen, Beruf des Vaters, Wohnquartier und Schultyp nicht; es ist ihnen gleichgültig, aus welchem Milieu ihre Spielge­fährten stammen; nur den Menschen an sich stellen sie auf die Probe und fällen über ihn ein Urteil, das nicht gültig bleiben muss.

Diesem glücklichen Alter war ich seit einigen Jahren entwachsen, und Rolfs Schweigen verstörte mich. Ich lobte mit flach gewordener Stimme seine exakt gezogenen Kreise auf dem Eis und erkundigte mich, welche Klasse des Ballettkurses er besuchte; wollte er Tänzer werden? Ich begann zu schwitzen – interessierte es ihn denn gar nicht, was ich tat? Welchen Kurs ich besuchte? Welchen Beruf ich erlernen wollte? Welche Interessen ich hatte? Wut ergriff mich und Mitleid mit mir selbst, mit meinem mutigen, verkannten Ich, meiner Offenherzigkeit diesem hochmütigen Jungen gegenüber, hinter dessen Schweigen sich vielleicht nur Dummheit und Leere verbargen. Vermutlich besaß er kein Hundertstel meines Gefühls und hegte nur banale Gedanken; ich war nun fast sicher, dass er noch nie ein Buch gelesen hatte, von Psychologie und Jugendproblemen einen Dreck verstand und hartherzig und eingebildet war.

Der Oktober, der den Frühling vorwegnahm, verdross mich; all die Leute, die ihre Mäntel aufknöpften, kicherten und kopflos und mit glänzenden Augen über die Straßen liefen, um unnützes Zeug einzukaufen oder in der Erwar­tung, auf dem andern Trottoir sei das Licht noch lieblicher, noch süßer und weicher. Es war gewiss faltenlos und ohne Narben wie eine junge Haut, die über den Himmel gespannt war, aber auch dünn und zart wie eine solche; bald würde es zerreißen und die klare Nacht würde herunterfallen und die schönen Gefühle zerschlagen.

Plötzlich strebte Rolf von mir weg; mit offenem Mund blieb ich stehen und sah, dass er geradewegs auf einen Herrn zulief; es war der Herr, der seit einigen Tagen auf den Plakaten des Theaters seine erstaunlich schönen Zähne bleckte. Mit der einen Hand schüttelte er nun Rolfs Hand, mit der andern tätschelte er seinen Rücken – mit einer dritten hätte er ihm das Brot abgenommen, eine vierte ihm auf den Kopf gelegt und ihn mit der fünften an sich gedrückt … «Wenn er ihn nur nicht noch ableckt», dachte ich und machte auf dem Absatz kehrt.

Nun lag über der Straße ein Schatten und die Leute gingen gebückt, so dass ich nur ihre Scheitel und Hüte sah; ihre Zuversicht schien erloschen – ob sie nicht am liebsten geweint hätten wie kleine Kinder, die man an einem fremden Ort vergessen hat? Papiere, Tramkarten und Zigarettenschachteln flatterten um die Ecke. Meine Beine waren schwach wie nachlässig geknetetes und geformtes Plastilin; ich kam kaum vom Fleck und hätte mich am liebsten an den Straßenrand gesetzt. Ich hinkte stärker als vorher und meine Schulmappe war schwerer als die Aktentaschen der Herren, die in die Straßenbahnen sprangen. Sicher war Rolf ein ungewöhnlicher Junge; er würde ein berühmter Tänzer, ich aber endete als Krüppel. Mein Hals schien anzuschwellen von Tränen und ich sah die Welt auf dem Grund eines tiefen Wassers, zitternd, verschwommen und unscharf; ich mochte ihr gar nicht mehr angehören. Heute Abend im Bett würde ich so lange weinen, bis der Schlaf mich in tausend Decken gewickelt hatte und davontrug – wenn er mich wieder auswickelte, war ich in einer farbigeren, glanzvolleren Welt, in der den Kranken Flügel wuchsen und wo sie mit lächelnder Nachsicht empfangen wurden von den Schmetterlingen und Engeln, die sich manchmal auch in jenen Gegenden aufhielten.

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