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Die goldene Naht

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Hannes steht am Fenster. Heute feiert er seinen vierten Geburtstag; die Mutter hat den gestern gebackenen Kuchen am Nachmittag, als Robert kam (ein magerer, kraushaariger Mann, den Hannes nicht mag), auf den Tisch gestellt. Doch Robert aß nichts davon, sondern sagte drohend zur Mutter: «Wenn du deine Meinung nicht änderst, bin ich heute zum letzten Mal hier – und das schwöre ich.» Dann tätschelte er ihren seit einiger Zeit merkwürdig vorstehenden Bauch und ging.

Der Wind zerrt eine finstere Wolke auseinander, und Hannes sieht für einen Augenblick die Sonne, die einbusige Mutter, deren warme Milch in die Erde sickert und flimmernd über den Asphalt fließt; die Sonne ruht auf hellen Kissen und wird geliebt, ohne es zu ahnen, denn sie ist blind, taub und ohne Gefühl.

Hannes stellt sich vor, die Wohnung sei ein Blumenkelch, die Mutter eine Wespe und er ein Bienchen; schläfrig krabbelt er über den Teppich, rollt sich auf den Rücken und blinzelt in einen süßen, weichen Bilderbuchhimmel, der die Lampe mit den falschen Kerzen verdeckt.

Die Mutter geht durchs andere Zimmer; er hört ihren nervösen Schritt – nun bleibt sie stehen. Bald wird die Nähmaschine surren; neugierig dreht er den Kopf und sieht durch die geöffnete Tür, wie sie nach der Schere greift; sie hält inne und starrt gegen die Wand. Lange Sekunden steht sie so; das tut sie oft, dann hat Hannes Angst und verhält sich still. Nach einer Weile setzt sich die Mutter auf den Stuhl neben der Schneiderpuppe. Fassungslos betrachtet sie wieder die Wand, vor welcher Hannes überlebensgroß zu sehen gewesen war – ein verstörtes, kniendes Kind, über dessen Stirne Blut rann.

Sie entgeht ihm nicht; wenn sie sich von ihm abwendet, holt er sie ein wie eben jetzt, und in der Nacht rollt er aus ihr als endloser Filmstreifen; anhand der Bilder kann sie seine schlaftrunkenen Seufzer und sein leises Aufschluchzen deuten.

Das Bild vor der für einige Augenblicke aufgelösten Wand ist in sie hineingesunken.

Hannes schläft im Esszimmer auf der Couch, wo er seine Welt, der ihren gegenüber, hütet. Wenn er die Puppe mit dem Stoffbauch schlägt oder liebkost, wenn er verträumt über den Bilderbüchern sitzt oder zornig sein sorgsam aufgebautes Schloss zerstört, möchte sie aufschreien; die Zärtlichkeit und das verzweifelte Sichwehren des einsamen kleinen Menschen tun ihr weh, die Bilder in den Büchern aber entführen ihn; fern von ihr hüllen sie ihn ein mit einer Liebe und Güte, wie sie vielleicht Engel kennen. Immer wieder erinnert sie sich an jenen Tag, als Hannes beinah zwei Jahre alt war und Robert am Telefon gesagt hatte: «Er oder ich. Gib den Bastard in ein Heim, dann wird alles gut. Wir werden heiraten, und du wirst von mir einen Sohn haben, mit dem sich dieser widerliche Balg nicht wird messen können.» Sie antwortete nicht und hängte den Hörer auf, doch einige Minuten später, als sie die Windeln des Kleinen in der Küche wusch, wurde sie von einem sonderbaren Krampf geschüttelt. Sie rannte mit tropfenden Händen ins Zimmer und sah den leeren Blick des Kindes, in dem sich Erstaunen, dann ein Lächeln ausbreitete, als sie ihr Entsetzen und ihre Wut hinausschleuderte, wie man einen Stein in ein ruhiges Wasser wirft. Hannes verstand den Sinn ihres zur Fratze verzerrten Gesichts noch nicht, hielt ihre Raserei vielleicht für Scherz und schmun­zelte, wie er es beim Anblick eines unbekannten Tieres getan hätte. Eine unschuldige, ihr unverständliche Heiterkeit, ein fremdes Paradies leuchtete in seinen Augen. Außer sich schlug sie zu; sein Kopf stieß gegen den Türrahmen. Als er sich weinend an ihr Bein klammerte, riss sie ihn weg und warf ihn in eine Ecke, wo er wimmernd liegenblieb. Sie fühlte ihre Knochen wie zu einem Brei auseinanderfließen, und der Geruch und die grobe Wolle des Teppichs füllten ihren Kopf, dann wurden diese Empfindungen kleiner und verschwanden – als sie zu sich kam, lag sie auf dem Rücken und blickte in entsetzt aufgerissene Augen; das bleiche Gesicht des Kindes war nass von Tränen und aus seinem Haar sickerte Blut.

Hannes steht auf und geht leise zum Fenster. Der Wind hat die Wolke wieder zusammengefügt; sie kommt näher und verdunkelt die Straße. Hannes fröstelt und wendet sich um. Auf dem Tisch stehen die Schuhe der Mutter; das Leder ist alt und rissig, aber Hannes hat es heute eingefettet und mit einem Lappen so lange gerieben, bis es wunderbar glänzte. Er möchte der Mutter eine Freude machen. Plötzlich fährt er zusammen; die Mutter schreit: «Nimm die Schuhe vom Tisch!» Zitternd vor Wut steht sie unter der Tür; ihre rechte Hand, mit der sie sich leicht gegen den Türrahmen lehnt, zuckt. Dann starrt sie auf seinen von Schuhwichse verschmierten Pullover, sieht die geöffnete, fast leere Dose am Boden, kommt näher und packt das Kind, das sich duckt und schützend die Arme über den Kopf hält. Ohne den Blick zu heben, weiß Hannes, dass ihre Augen zustechen wie zwei Messer; sein Herz wird vor Angst kalt. Bevor die Schläge auf ihn niederprasseln, fällt ihm ein, dass durch die schwarze Wolke, in welche sich die Sonne hüllt wie in einen zottigen Pelz, eine goldene Naht läuft; dort schimmert ihr heißer Körper durch.

Fern von hier

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