Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 6

Das Getüm

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Durch die offene Balkontür, vor der Wotanek am Tisch sitzt, sehe ich am Geländer einen zusammengeklappten, gelben Plastikliegestuhl. Wotanek massiert mit dem kleinen Finger der linken Hand seinen abgebrochenen Schneidezahn mit einer Inbrunst, die vermuten lässt, dass er sich von dieser Massage eine Wirkung erhofft. Ich kenne Wotanek schon lange; die zusammengekrümmte Haltung ist für ihn typisch. Als er ein kleiner Springumsquartier war, wollte niemand mit ihm spielen, da er den Ball immer fallen ließ. «Bewe­gungs­trottel» nannte ihn, später, seine Gattin Helga, eine wahre Eisheilige; am Hochzeitstag küsste sie ihn auf die Nasenspitze, worauf diese erfror. Helga kenne ich erst seit kurzem, weiß also nichts über ihr früheres Leben; sie ist eine großgewachsene Frau mit behaarten Beinen, die stets weiße Turnschuhe trägt.

Wotanek streikte als Kind mit einer Ausdauer, die erstaunlich ist; seine Absage an die Spielregeln unserer Welt bewirk­te, dass sogar seine Gesichtsmuskeln den Dienst versagten; so kam es, dass er gleichsam zugemauert, unerkannt, ganz im Verborgenen lebte. Ich vermute, diese Daseinsart entwickelte sich aus einer außerordentlichen Empfindsamkeit. Er war Heimzögling und hatte seinen Vater nicht gekannt, einen Apotheker, der in seiner Freizeit kilometerlange Papierstreifen mit Lösungsversuchen eines mathematischen Pro­blems vollschrieb und schließlich, sich den Misserfolg seiner Bemühungen zu Herzen nehmend, Selbstmord verübte. Die Mutter war schon vorher aus Gram über diesen Mann gestorben. Da Wotanek den Tod seiner Eltern nicht beweinen konnte, trauerte er heimlich beim Anblick kahler Äste, die der Wind wie Teile eines zerrissenen Netzes vor dem Himmel schwang – um nichts zu fangen; gab es eine Beute außer dem kleinen Wotanek? Auch die immerwährende Melancholie der Katze, die zum Heim gehörte, verstörte ihn, und es gab niemanden, den er an seinen Seelenschmerzen teilneh­men ließ.

Des Knaben scheinbar steinerne Gelassenheit reizte seine Erzieher; er begriff ihr Unverständnis, betrachtete sie aber mit Wonne als seine Feinde und vermochte sie insgeheim zu hassen. Manchmal verließ ihn aber diese einzige Freude, dann glaubte er, er sei eine Warze, die man wegätzen müsse.

Als Helga, die junge Erzieherin, ins Heim eintrat, hatte Wotanek sich eben in seinem Innern ein zärtliches Getüm erschaffen, das ihn zu Tode biss, ein Loch für seinen Leichnam grub und aus Verzweiflung über seinen Tod die Nächte mit Geheul sprengte. Wotanek war reif für die Liebe und beinah glücklich, was sich nicht änderte, als Helga ihn am Tage seiner Volljährigkeit heiratete. Sie hatte zwar ihre Stelle als Erzieherin verloren, doch da sie tüchtig war, arbeitete sie in verschiedenen Berufen zur Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber. Sie verwöhnte und demütigte Wotanek, der nun kränkelte und in wenigen Jahren zu einem schönen Skelett wurde, das meist lesend in einem Lehnstuhl kauerte. Wenn Helga nach der Arbeit mit strammen Schritten die Wohnung durchmaß, summte sie: «Auf, du junger Wandersmann», was aber Wotanek nicht zu irritieren schien. Er lebte nun sozusagen hinter doppelten Mauern; hinter der Wand seines Gesichts und hinter den Deckeln der Bücher – und auch vor sich selber hatte er sich versteckt: So gestand er sich nicht ein, dass er von seiner Gattin, die er in jugendlicher Verstiegenheit mit dem Getüm verwechselt hatte, enttäuscht war; er verstummte, führte nicht einmal mehr Selbstgespräche.

Ich trete im Zimmer des Kurhauses, in dem Wotanek nach einer Operation die letzten Tage seines Lebens verbringt und mit den Boten des Todes, den Schmerzen, geduldig umgeht, leise näher. Jenseits des Balkons sehe ich Wiesen, auf denen sich wie Reste einer Krankheit Schneegeschwulste erheben, und über einem Abgrund, die Füße von Stechpalmen bewachsen, einen Nadelbaum, der sich streckt, um den verschlossenen Himmel zu berühren. Weit unten bewegt sich die Schuppenhaut des atmenden Sees. Ich neige mich über Wotaneks kurzes, bleifarbenes Haar und flüstere: «Wotanek, ich, das Getüm …» Er wendet mir langsam das starre Gesicht mit der Nase ohne Spitze zu; sein Blick, nur bereit für das geschriebene Wort, buchstabiert mich mühsam, dann öffnen sich die Augen weit. Ich lege die Hände an seine Ohren, verbeuge mich tief und durchbeiße seine Kehle. Nun werde ich ein Grab schaufeln und schreien.

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