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Aufbruch mit drei Plüschaffen

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Über Nacht ist die Welt reif geworden; ein zarter, weißer Schimmel ist auf ihr gewachsen – Frühlingsschnee. Auf den Dächern gibt’s keine Spuren von Füßen und Rädern; dort oben ist die Welt jenseits der Angst. Hier unten zählen Menschen ihre Schritte, passen Stimmen sich den Stimmen an; es gibt aber Menschen, die sich nicht an das Hiersein gewöhnen können.

Im Innern der Häuser sind die Paradiese und Höllen der Menschen aufgebaut, mit Lampenlicht beleuchtet und vor Neugierde abgeschirmt. Auf der Lampe im Wohnzimmer von Tante Martha schaukeln drei Plüschaffen, die Daniel von seiner Mutter geschenkt erhalten hat; hier wohnt auch Onkel Benno. Onkel Benno ist Gitarrenlehrer; seine Vogelbeine stecken stets in weißen, mit Benzinseife gewaschenen Hosen. Der achtjährige Daniel sagt zu ihm beispielsweise: «Du bist eine schiefhängende Hausnummer» und wartet dann ab. Onkel Benno lächelt und säuselt: «Du träumst.»

Daniels Mutter hat vor einigen Jahren Selbstmord verübt; sie sprang mit dem Fotoalbum unter dem Arm aus einem Fenster, was ein peinlicher Tod ist, den man Daniel verheimlicht, doch er weiß alle Einzelheiten, als ob er ihn inszeniert hätte. Die Türpfosten von Onkel Bennos Haus sind rosa gestrichen; oben steht «guitar shop», und im Schaufenster warten die Instrumente in Reih und Glied auf Käufer.

Daniel kommt aus der Schule; die getönten Brillengläser werfen einen gelben Schatten auf seine Wangen. Die Bläue des Himmels ist zwischen die Häuser gesunken, und von den Dächern tropft Wasser. Fremd sind die Leute, die sich auf der Straße bewegen, und fremd ist Daniel; wenn ihn Tante Martha einlässt, büßt er ein wenig von seinem Fremdsein ein. Sie öffnet sonst niemandem ihre Tür; sie hat nichts zu geben und erwartet nichts.

Heute geht Daniel an den rosa Türpfosten vorbei und weiter die Straße entlang; seine Augen sind plötzlich mit grellem Sonnenlicht gefüllt. Er hat den Eindruck, sein Gesicht habe sich in diesem beißenden Licht verunstaltet; er bedeckt es mit den Händen, um die Leute nicht zu erschrecken. Alles ist in Auflösung begriffen. Er denkt, dass Tante Martha im Bett liege und über den Föhn klage, der ihr Herz zusammenpresst, während Onkel Benno mit seinen Schülern ein Frühlingslied übt. Daniel will fortgehen, um auf einem Dach zu leben; auf dem höchsten Dach der Stadt. Als seine Mutter tot war, hatte er den Eindruck, jemand habe ihn losgeschnitten, wie man die Fäden einer Marionette durchschneidet, so dass sie leblos zu Boden fällt. Er wurde liegengelassen. Nun trägt er die drei Plüschaffen in seiner Schulmappe mit sich; er wird für sie ein Reich gründen; er wird ihr Herrscher und der Herrscher der Vögel sein, die mit den Wolken über sein Dach fliegen und grüßen.

Tante Martha kommt ihm entgegen; sie geht schief, weil sie eine schwere Einkaufstasche trägt, und wirkt wie ein drohender Schatten im Gegenlicht. Daniel versucht, seinen Unterkiefer nach hinten zu drücken, um ihr nicht zu gleichen; es ärgert ihn auch, dass er wie sie einen kleinen Buckel hat, und er bemüht sich um eine aufrechte Haltung. «Wo gehst du hin?», fragt Tante Martha; ihre haferfarbenen Au­gen blicken durch ihn hindurch. Daniel lässt die Schultern nach vorn fallen und gibt seinem Unterkiefer die alte Form.

«Du hast die Affen von der Lampe genommen», sagt Tante Martha, «in der Schule spielt man nicht mit Affen.» – «Du bist ein ausgetrocknetes Tintenfass», antwortet Daniel und wartet ab, doch Tante Martha lächelt und säuselt nicht, sondern setzt ihren Weg mit kaltem Gesicht fort; er folgt ihr.

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