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Französischstunden

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Die Herbstblätter vollführen auf dem Trottoir einen verrückten Reigen der Greise. Andreas weicht ihnen aus und geht weiter die lange Straße entlang, an deren Ende er wohnt. Im Vorgärtchen kleben vergilbte Blätter wie wertlose Briefmarken, ein Zigarettenstummel rollt über die unterste Stufe der Treppe, und ein älteres, angetrunkenes Ehepaar schwankt über den Platz, aus dessen Mitte eine verkümmerte Linde ragt. Das Zifferblatt einer Uhr blickt aus einem geöffneten Fenster und erinnert Andreas an seine Kindheit; er befand sich immer auf der Flucht: auf der Flucht vor dem Stundenruf der Standuhr mit dem pflichtbewussten Gesicht, das dem Gesicht seines Vaters ähnlich war. Im Uhrenbauch sah er eine kreisrunde Scheibe, durch die er jeweils neugierig starrte und wo ein Messingherz hin- und herschwang und an zwei Schnüren andere, abscheuliche Organe hingen.

Andreas’ Herz benimmt sich auf eine peinliche Art und Weise anders, als man es von einem korrekten Herzen erwarten darf; er schämt sich seiner, und wenn er es schont, seinetwegen den Kaffeekonsum einschränkt und sich das Rauchen verbietet, ergreift ihn Unbehagen; er hasst und liebt sein Herz in einem, und sein verschwollenes Gesicht nimmt dabei einen strengen Ausdruck an; im Spiegel sieht er, dass er seinem Vater gleicht, und spürt ein ertrinkendes Untier, das seine Luftröhre umklammert und sich mit heftigen Klimmzügen nach oben arbeiten will; immer schluckt er es hinunter.

Andreas schließt die Haustür auf und tritt in den Korridor. Sein Zimmer liegt zu ebener Erde; er hat die Wände wasserblau gestrichen, und in einem Blumenständer hocken Blattpflan­zen, die das Aussehen von erstarrten Riesenheu­schre­cken haben. Statt des üblichen Vorhangs verhüllt ein dunkelblaues Tuch aus zerschlissenem Samt das große Bogenfenster. Die Möbel sind hässlich und billig. Neben dem Bett steht der Plattenspieler. Andreas bevorzugt «tropfende» Musik, wie er sie bei sich nennt: keine Blas- und Streichinstrumente, sondern Harfe, Gitarre und Cembalo. Musik hüllt ihn in Regenschauer, plätschert in Gossen, sprudelt in Bechern, strömt durch resedagrüne Täler, singt in Dachtraufen. Dem Gasofen des Zimmers ist ein immerwährender Pfeifton eigen, so hoch, dass er durchs Ohr bis zur Schädeldecke sticht und sie durchbohren will. Andreas hat sich an den Ofen gewöhnt; er überhört und übersieht ihn beinah, begegnet überhaupt der Außenwelt übertrieben höflich und weicht ihr nach Möglichkeit aus. Wenn sie ihn zu stark beeindruckt oder erschreckt, scheint sein Inneres einstürzen zu wollen.

Andreas war Lehrer, doch da die Kinder ihm jeden Tag fremder erschienen – sie veränderten sich jeweils über Nacht; selbst ihre Sprache wurde unverständlich, und sie missverstanden auch ihn öfter –, atmete er auf, als ihm gekündigt wurde. Er erteilt nun jeden zweiten Abend einem Fräulein, das er im geheimen «Blattlaus» nennt, da es sich mit Vorliebe grün kleidet, eine Französischstunde; es hat ein neugierig spähendes Gesicht und einen Körper, der nur mit dem Wort «dumm» treffend charakterisiert werden kann; er ist nicht nur plump, sondern wirkt steif und gefühllos.

In einer Vase auf dem Tisch befindet sich ein Geschenk der Blattlaus: Plastiktulpen. Als trüge sie ein in eine Decke gewickeltes, frierendes Kind, versuchte sie das zu kleine Sei­denpapier während des Gehens durch den weißen Novembernebel immer wieder über den leblosen, grellfarbenen Blumenstrauß zu ziehen.

Andreas knipst die Ständerlampe an, lässt den Rollladen herunter, zieht die Schuhe aus und stellt sich unter die Gipsscheibe, die, in der Mitte der Zimmerdecke, eine Sonne darstellt. Er wartet, dass Segen auf ihn fiele wie Manna, wie der Heilige Geist, wie Schneeflocken, wie Samen, den der Wind in die sich öffnende Erde streut. Bald wird die Hausglocke schrillen, und die Blattlaus wird ihren stumpfen, fremden Körper in seine Einsamkeit schieben und sich am Tisch nie­derlassen und dort wie die Plastiktulpen thronen. Während sie französische Sätze herunterleiert, fließen die wasserblauen Wände auseinander, die Blattpflanzen, die sich vor der Blattlaus fürchten, richten sich auf, schlenkern ihre langen Arme und Beine und galoppieren davon auf einem schmalen, weißen Weg zwischen den Wassern.

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