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«Luzia mit vierzehn Jahren»

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Luzia erwachte und setzte sich im Bett auf; ihre Augen zwängten sich wie neugierige, schwarze Köpfchen durch zu kleine Fenster, wo sie stecken blieben. Sie bürstete ihr wirbliges, blassrotes Haar; als sie noch gehen konnte und die Schule besuchte, hatten die Kinder sie «Meerschweinchen» genannt. Nicht nur ihr Haar, vor allem ihr Gesicht erinnerte an diese kleinen Tiere; wenn sie aß, zog sie die Oberlippe hoch, auch schien sie immer zu schnüffeln. Seit einem Jahr war sie krank; zum Geburtstag hatten ihr die Schulkame­radinnen einen Rollstuhl gekauft; sie hatte geweint.

Es schneite; wie tote Schmetterlinge fielen die Flocken zur Erde. Ob der Vater noch schlief? Er kam nie, wie Luzia, in Verlegenheit, ob man «Institution» oder «Instutition» sagte. Luzia stellte sich vor, es gebe Blumen-, Stängel- und Wurzelmenschen. Wenn sie die Blume war, war der Vater der Stängel; sie brauchte ihn, aber es beunruhigte sie, dass er sie nicht wirklich nötig hatte; er schien ganz zufrieden zu sein als grüner, schmuckloser Halm. Doch gestern hatte er ihr eine junge Frau in einem glitzernden Kleid vorgestellt; Luzia war zumute wie damals, als sie zum ersten Mal jene Bahn sah, die man «Roter Pfeil» nannte, und entdecken musste, dass sie die Geschwindigkeit dieses Pfeils überschätzt hatte – ihre kindliche Phantasie hatte ihr vorgegaukelt, er würde engelschnell davonrasen, in der Weise, dass das Auge ihn gar nicht mehr erkennen konnte. Oder wie damals, als sie sechs Jahre alt war und ihrer Mutter entgegenlief, als die von einem Spitalaufenthalt zurückkehrte; statt ihr Kind zu umarmen und zu küssen, hatte sie barsch gefragt: «Wie siehst du auch aus? Ungekämmt, und diese schmutzigen Hände!» Einige Wochen später war die Mutter im Auto tödlich verunglückt; der Vater, der zu schnell auf der regennassen Straße gefahren war, hatte nur geringfügige Verletzungen erlitten. Luzia hatte die Freundin des Vaters nicht begrüßt, nur mit starrem Gesicht Unverständliches gemurmelt und in ihrem Tierbuch weitergelesen. Für Tiere interessierte sie sich; sie hätte gern einen Hund besessen, doch der Vater liebte Hunde nicht. Die Frau sah bleich und böse aus, als ob sie «aus der Fremde» käme, wo Männer kleinen Mädchen übelwollten, alle Leute nur ans Geldverdienen dachten und man ausgelacht wurde, wenn man nicht war wie sie. «Die Fremde» war auch unpraktisch! Wer garantierte, dass dort das Badewasser, das in die Wanne plätscherte, die richtige Wärme hatte? Und dass sich ein Stecker für die Nachttischlampe im Schlafzimmer befand? Und dass man die Geräusche in der Nacht richtig deuten konnte?

Dann hatte sich noch etwas ereignet, das Luzia aufwühlte; sie war der Meinung gewesen, sie habe ihre Mutter nie geliebt. Gestern las sie in einem ihrer alten Aufsatzhefte, als Zehnjährige hatte sie dort unter dem Titel: «Meine liebe Mutter» erzählt, wie die Mutter mit der kleinen Luzia Tierchen und Männchen aus Kastanien gebastelt, ihr vorgelesen und für sie gar Spiele erfunden hatte; an all dies hatte sie sich nun als Vierzehnjährige nicht mehr erinnert; erst beim Lesen des Aufsatzes waren Bilder wie vom Ende des Himmels zu ihr gekommen, um sich wieder in ihr niederzulassen. War es möglich, dass sie viel später auch nicht mehr wusste, wie sie den Vater jetzt liebte? Luzia mochte Erinnerungen nicht; sie waren imstande, Schönes hässlich und Hässliches schön zu machen. Eigentlich wäre es ganz gut zu sterben, dachte sie, wenn noch keine neuen Bilder die alten zu stark verfälschen konnten; aber die Bilder durfte man ja nicht mitnehmen, wie man auch sich selber nicht mitnahm: Man blieb, auch als Erinnerung, die durch spätere Erlebnisse der Hinterbliebenen verändert werden konnte, in den Menschen zurück, die einen gekannt hatten. Und wenn sie über einen zu andern Menschen, die man nicht gekannt hatte, redeten, wurde das Bild des armen Toten, der man nun war, wieder anders; so veränderte man sich ständig, lebte weiter als Splitter in immer mehr Menschen, bis die Splitter kleiner und kleiner und sich so fremd wurden, dass sie sich selber nicht mehr entsinnen konnten, von welchem teuren Toten sie abstammten. Luzia seufzte. Bald würde Regine kommen, Vaters Schwester, die den Haushalt besorgte. Sie würde vor der Tür den Schnee vom Mantel klopfen, über Rheuma jammern und Milchkaffee kochen. Sie sah aus wie eine ständig schwangere Frau; Luzia konnte ihr aufgedunsenes, fleckiges Gesicht und die Art, wie sie sich mit gespreizten Beinen hinsetzte, nicht leiden. Luzia hatte einen Cousin, der erklärt hatte, er müsse erbrechen, wenn er Leute wie Regine sähe. Luzia war von ihm sehr beeindruckt, aber er war ein armer Junge, der von seinen Eltern oft geschlagen wurde. Er schrieb Gedichte, die niemand verstand, auch Luzia nicht.

Sie schaute in den Spiegel: «So wie ich es bestimme, so bin ich», dachte sie und betrachtete sich genau, doch verwirrte sie die Vorstellung, es blicke ihr da ein Gemisch von zurückgelassenen Erinnerungen an verstorbene Tanten, Onkel, Großtanten, Großväter und andere meerschweinähnliche Verwandte entgegen. Sie streckte sich die Zunge heraus und sagte laut: «Was kümmert mich das; ich, Luzia, werde mich schon durchsetzen.» Heute noch würde sie eine Liste aufstellen mit allen Eigenschaften, die momentan und vorläufig die Luzia, die da in den Spiegel guckte, auszeichneten. Sie würde alles, was sie hasste und liebte, samt ihren Plänen und Niederlagen niederschreiben und über das Ganze die Überschrift: «Luzia mit vierzehn Jahren» setzen. Aber vielleicht war sie weder so, wie sie sich, noch so, wie ihr Vater sie sah? Gab es Menschen, die ihr ganzes Leben lang niemand richtig kannte, nicht einmal sie selbst? Man bestand aus tausend Bildern; wenn einen ein Greis, die Mutter, der Geliebte, ein kleines Kind oder ein Hund betrachteten, wurde man zu fünf verschiedenen Personen; und wenn einen jemand aus der Höhe anschaute, oder aus der Ferne, oder durch ein riesiges Mikroskop … Und es gab Geisteskranke, die sich selber als Tier sahen, oder als eine Berühmtheit, oder als Gott, oder als Teufel. Waren sie es nicht? Für die andern nicht, aber für sich selber gewiss; wie ein Reicher, der sich einbildete, verarmt zu sein, tatsächlich arm war … Ihre Wangen wurden rot, ihre Augen glänzten; wenn sie «spintisierte», wie ihr Vater es nannte, fühlte sie sich frei, als wäre die Welt durchsichtig, als würden Vergangenheit und Zukunft zu wunderbaren, klaren Bildern verschmelzen, die in Eiern darauf warteten, dass ein freier Mensch sie erlöse; mit einem Stab in der Hand würde sie durch ein weißes Eierland schreiten und die Eier, die vor Verlangen, geöffnet zu werden, zu glühen begannen, erlösen; ein Bild nach dem andern würde ihr Stab hervorholen, her­vorzaubern und auf den Eierschalen tanzen lassen. Sie würde singen mit ihrer zarten Stimme und dirigieren mit ihrem Stab; auch der Vater träte aus einem Ei und würde auf seinen steifen Beinen umherhopsen und sie wüsste alles über ihn: es gäbe ihn wirklich …

Als der Vater zögernd die Tür öffnete und sie sein ratlos lächelndes Gesicht über dem zerknitterten Kragen des Schlafanzugs sah, ertappte sie sich dabei, dass sie versuchte, ihn mit den Augen der jungen Frau im Flimmerkleid zu sehen; sie erschrak. Vaters Gesicht war weich und weißlich-grau. Als wen sah er sich wohl? Als Mörder seiner Frau? Ganz plötzlich klebte dieser Einfall wie ein breites Band auf ihrem Hirn, so dass sie Vaters Frage, ob sie gut geschlafen habe, nicht aufnehmen konnte; das Band verdeckte jeden Eingang und ließ auch keine andern Gedanken heraus als: «Vater, du bist schuld, dass meine Mutter tot ist.» Er starrte sie an. Hatte sie diesen Satz wirklich gesagt? Mit einer ganz harten, trockenen Stimme, die nicht aus ihm zu sprechen schien, nicht aus Luzias Vater, wie sie ihn kannte und liebte – vielleicht aus Mutters Mann? Oder aus dem Geliebten der Flitterfrau? Oder aus dem Vertreter für Kunstbücher? – antwortete er: «Du bist eifersüchtig. Kannst du nicht einsehen, dass ich es schwer habe? Bist du so auf dich selber konzentriert, dass du mir mein Glück nicht gönnen kannst? Meine Frau ist tot, meine Tochter ist ein Krüppel – das habe nicht ich verschuldet: den Ursprung dieser mysteriösen Krankheit wird der Arzt noch aufklären. Was kann mir Freude bereiten? Auch ohne deine Einwilligung werde ich Brigitte heiraten.»

Hätte er in ergreifendem, weichem Ton zu ihr geredet, wäre sie in Tränen ausgebrochen, hätte die Arme nach ihm ausgestreckt, um Vergebung gebettelt und um Verständnis gebeten, doch als der Türrahmen leer war, als ob jemand ­Vaters Bild herausgebrochen hätte, schienen alle Farben dieses Morgens erloschen; wie in einem steinernen Gefängnis blickte sie sich um.

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