Читать книгу Schattenfehde - Alf Leue - Страница 10

IV. Kapitel

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Am nächsten Tag ritt er gegen Mittag vom Hof des Gutes in Richtung des Feldes oberhalb des alten Steinbruchs. Schon immer war Berthold gern hierher gekommen, wenn er allein sein oder sich heimlich mit Katharina treffen wollte. Ein alter Pfad führte durch den Forst und nach etwa einigen hundert Schritten gaben die Bäume den Blick auf eine Lichtung frei, an deren rechter Seite sich ein steiler, fast turmhoher Abhang befand. Direkt oberhalb des Abhangs lag ihre Wiese. Berthold liebte diesen Ort. Immer war es hier ruhig und einsam, ganz gleich, zu welcher Stunde man herkam. Er stieg von Calamus und band ihn an einen Baum am Rand der Lichtung. Die Wiese war nicht groß, nur etwa einhundert mal fünfzig Schritte. Das Gras wuchs auch in den Sommermonaten nicht hoch, da der Boden mit kleinen Steinen besetzt und außerdem sehr lehmig war. Nur die saftigen Ränder der Lichtung wurden spätestens ab Ende Mai von zahlreichen Wildblumen und blühenden Gräsern eingefasst. Genau gegenüber erhob sich der knorrige und morsche, aber immer noch stattliche Stumpf einer Eiche, die Sturm und Blitz vor vielen Jahren gefällt haben mussten. Er ragte etwa zehn Ellen aus dem Boden und war an seinem oberen Ende zerfranst und zersplittert, so als hätte ihn ein wütender Riese abgebrochen wie einen trockenen Zweig. Zwei erwachsene Männer hätten Mühe gehabt, ihn zu umfassen. Der Rest des mächtigen Baumes lag, von der Natur längst mit Moosen und Kräutern zugedeckt, etwas abseits am Waldrand.

Berthold setzte sich ins Gras und schloss die Augen. Ihm war übel und ihm graute davor, Katharina seine Entscheidung mitzuteilen. Das Knacken eines Zweiges riss ihn aus seinen Gedanken. Als er sich umwandte, sah er Katharina durch den Waldweg auf die Lichtung treten. Wie hübsch sie doch war. Es schnürte ihm die Kehle zusammen, als er an den Abschied dachte.

Katharina war erst fünfzehn, ein Jahr jünger als Berthold. Ihre Mutter hatte die Geburt nicht überlebt, aber ihr Vater hatte sich trotz seiner guten Stellung als offizieller Schreiber nie wieder eine andere Frau genommen, obwohl es an entsprechenden Angeboten nicht mangelte. Es schien, als habe er das Interesse am anderen Geschlecht zusammen mit seiner Frau begraben. Daher fehlte auch ein männlicher Nachkomme, denn Katharina war das einzige Kind geblieben. So erlernte sie stattdessen das Handwerk des Schreibens, auch wenn ihr Vater sich anfangs gegen diesen Gedanken gewehrt hatte. Doch schließlich wurde er von Katharina mit Bitten, Betteln und Argumenten überzeugt. Sie sagte, dass man zum Stemmen von Federkiel und Schreibzeug keine großen Kräfte brauche, sondern nur einen gesunden Verstand.

Katharina setzte sich zu Berthold.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte sie.

„Nicht allzu lange“, antwortete Berthold kurz, sah aber nicht auf dabei. Er riss einen Grashalm aus und zerrieb ihn zwischen seinen Fingern.

„Es ist etwas, nicht wahr?“, fragte Katharina.

Berthold riss den nächsten Grashalm aus.

„Ja. Es ist etwas.“

„Ich habe es gewusst. Schon seit gestern Abend. Ich kenne dich lange genug. Vor mir brauchst du dich nicht zu verstellen.“

Katharina nahm Bertholds Kopf sanft in beide Hände und drehte sein Gesicht zu ihr. Sie blickte in traurige Augen.

„Du wirst fliehen, oder?“, fragte sie leise.

Berthold fiel einerseits ein Stein vom Herzen, weil sie nun selbst ausgesprochen hatte, wovor er sich so sehr fürchtete. Andererseits tat es ihm so unendlich weh, seiner geliebten Katharina die Wahrheit sagen zu müssen.

„Du hast es gewusst?“

„Nein, Berthold, nicht gewusst. Aber ich bin nicht dumm und kann eins und eins zusammenzählen. Nach den Drohungen von Etzelroth gestern beim Maigeding und nachdem ich deine Augen gesehen hatte, habe ich es mir schon gedacht. Und was bleibt dir anderes übrig? Ich halte dich nicht. Ich kann es verstehen.“

Entgeistert schaute Berthold sie an.

„Du bist mir nicht böse? Du bist nicht einmal traurig?“

Katharina blickte Berthold ihm fest in die Augen: „Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich? Ich werde nämlich mit dir kommen.“

Berthold sprang aus dem Gras auf.

„Nein, das wirst du nicht! Bist du verrückt? Weißt du denn nicht, was dir blühen kann? Ich bin dann vogelfrei! Jedermann kann mich gefangen nehmen und töten, ganz wie es ihm beliebt. Oder mich an den Vogt verkaufen. Du würdest dieses Schicksal mit mir teilen. Monate oder vielleicht gar Jahre auf der Flucht. Immer die Angst vor den Verfolgern im Nacken.“

Katharina blieb ganz ruhig. Sie hatte mit Bertholds Gegenwehr gerechnet und sich ihre Worte bereits sorgsam zurechtgelegt.

„Ja, das mag stimmen. Aber dann müssen wir eben so weit weg ziehen, dass uns der Vogt nicht mehr finden kann.“

„Und dein Vater?“, rief Berthold. „Was ist mit ihm? Willst du ihn einfach im Stich lassen?“

„Es ist mir egal, ob ihm das gefällt!“, entgegnete Katharina bestimmt, „es ist schließlich mein Leben.“

Mit Frauen zu diskutieren, soviel hatte Berthold bereits früh erkannt, hatte wenig Sinn. Darum sagte er nun etwas, wofür er sich eigentlich hasste. Aber er sah keinen anderen Ausweg mehr.

„Nein, Katharina. Wenn du wirklich darauf bestehst, mich zu begleiten, dann sehe ich nur einen Weg, um dich davon abzubringen. Ich werde mich Vogt Etzelroth stellen. Gleich morgen früh gehe ich nach Dreieichenhayn und begebe mich in seine Hände. Ich kann wohl über mein eigenes Leben bestimmen, aber wenn dir etwas zustieße, das würde ich niemals vor mir und dem Allmächtigen rechtfertigen können. Ich spaße nicht. Es ist mir ernst!“

Jetzt war es an Katharina, aufzuspringen.

„Du verdammter Dickschädel! Tu mir das nicht an! Lass mich nicht allein! Wie soll ich denn ohne dich leben?“, schrie sie und Tränen liefen aus ihren Augen. Berthold wollte sie in die Arme nehmen, doch sie stieß ihn weg und wandte sich ab. Ratlos und mit hängenden Armen stand Berthold hinter der Frau, die er liebte.

„Es geht nicht anders. Ich kann nicht. Es ist meine Schuld.“

Katharina drehte sich wütend um und fuhr ihn an: „Hör auf, von Schuld zu faseln! Es ist nicht deine Schuld! Du kannst nichts dafür, dass es so gekommen ist. Und ich bin deine Verlobte, deine zukünftige Frau. In guten wie in schlechten Zeiten, hast du das schon vergessen? Oder liebst du mich nicht wirklich und willst mich deshalb nicht bei dir haben?“

Berthold fasste Katharina an den Schultern.

„Auch wenn es nicht meine Schuld ist. Deine ist es erst recht nicht! Aber der Grund für alles, das bin ich. Das kannst du nicht leugnen. Versteh mich doch bitte. Du bist alles, was ich wirklich liebe. Aber genau deshalb darfst du nicht mit mir kommen. Ich liebe dich von Herzen und ich werde wiederkommen. Frage mich nicht, woher ich das weiß, aber ich fühle es.“

Katharina fiel Berthold weinend um den Hals, der nun auch nicht mehr länger gegen seine Tränen ankämpfen konnte und ihnen freien Lauf ließ.

Als sich Katharina ein wenig beruhigt hatte, fragte sie: „Wenn es denn nicht anders sein soll, dann sage mir wenigstens, was du vorhast-. Wo gehst du hin?“

Berthold schwieg und sah betreten zu Boden.

„Auch das nicht? Nicht einmal so viel vertraust du mir?“, schluchzte sie verzweifelt. Berthold hob seinen Blick und sah sie an.

„Nein, Katharina, das ist es bestimmt nicht. Aber was du nicht weißt, kann man nicht aus dir herauspressen. Daher ist es besser, wenn du es nicht erfährst, zumindest jetzt noch nicht.“

Katharina versuchte sich zu beherrschen.

„Ich verstehe das, aber es wäre doch besser, wenn ich …“

„Nein, genug damit!“, unterbrach sie Berthold. „Mein Entschluss steht fest. Ich will und werde dich nicht in Gefahr bringen. Du kommst weder mit mir, noch werde ich dir sagen, wohin ich gehe. Jeder, der mir nahe steht und um meinen Aufenthaltsort weiß, wäre mit Sicherheit das nächste Opfer von Vogt Etzelroth. Es fällt mir nicht leicht, das kannst du mir glauben, denn ich will alles, nur dich nicht verletzen, aber ich muss es so halten. Bitte verstehe mich.“

Katharina verstand Bertholds Beweggründe, aber sie wollte all das einfach nicht wahrhaben. Die Wut über all die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr, raste in ihr wie ein wildes Tier. Ein Leben ohne Berthold und in der ständigen Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein, ohne zu wissen, wo er war, ohne auch nur die geringste Möglichkeit zu haben, ihn wiederzusehen oder mit ihm Kontakt aufzunehmen. Nein, das konnte und wollte sie nicht zulassen. Sie grübelte fieberhaft. Es musste doch einen Weg geben, der diese Lage erträglicher machte. Dann kam ihr ein Gedanke.

„Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken“, sagte sie plötzlich gefasst und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. „Ich weiß, dass du vielleicht nicht wiederkommen kannst, solange Wolfram Etzelroth hier Vogt ist. Aber dich so ziehen zu lassen, ganz ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen und sei es in zwanzig Jahren, das kann ich nicht. Warum verabreden wir uns nicht einfach an einem bestimmten Tag, jedes Jahr zur gleichen Zeit, an einem Ort, der nur uns beiden bekannt ist? Derjenige von uns, der an diesem Tag Zeit hat und kommen kann, wird sich dort einfinden. Kommt der andere nicht, weil er vielleicht den Zeitpunkt nicht einhalten konnte, so kann er trotzdem eine versteckte Nachricht hinterlassen.“

An so etwas hatte Berthold überhaupt nicht gedacht. Diese Idee gefiel ihm, denn das war wenigstens ein Hoffnungsschimmer.

„Oh, meine Katharina“, sagte er stolz. „Eine sehr gute Idee! Was haben wir zu verlieren? So Gott will, werden wir so zumindest Kontakt halten und Neuigkeiten austauschen können. Aber wo wollen wir uns treffen? Wo sollen wir unsere Nachrichten verstecken?“

Katharina dachte nach und sah sich um. Dann lächelte sie und nickte der alten Eiche zu.

„Wo, wenn nicht hier? Lass uns diese Lichtung hier, unseren geheimen Platz, als den Ort wählen, an den wir jährlich zurückkehren wollen, wenn es nur irgend möglich ist. Und dort im hohlen Astloch des alten Baumes, dort werden wir unsere Botschaften verstecken, sollten wir uns nicht antreffen“.

Berthold sah zur Eiche hinüber und nickte: „Ja, genau so machen wir es. Und es gibt nur einen schicksalhaften Tag, den wir beide niemals vergessen werden. Den Tag, an dem mit Franz ein Stück von mir selbst verbrannt worden ist, den Tag, der schuld daran ist, dass ich nun fliehen muss. Wir machen den Tag des Maigedings, den ersten Freitag im Mai, als unseren Tag aus und werden uns hier in den Stunden nach dem Mittag treffen.“

„Ja, so werden wir es machen“, bekräftigte Katharina und fing wieder an zu weinen. Die beiden fielen sich in die Arme und hielten sich fest umschlungen. Dann liebten sie sich ein letztes Mal im Gras ihrer Lichtung, wie sie es schon so oft getan hatten. Lange lagen sie noch zusammen, bevor Berthold sich erhob.

„Ich muss gehen. Ich würde dich nach Langen bringen, aber es ist besser für dich, wenn wir nicht mehr zusammen gesehen werden. Leb wohl, meine große Liebe. Nein, nicht Leb wohl! Auf Wiedersehen! Du wirst auf ewig in meinem Herzen sein.“

Katharina kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an und konnte nicht antworten. Ein allerletztes Mal umarmten sie sich so fest, dass es fast weh tat. Sie wollten einander nicht loslassen. Doch dann löste sich Berthold von Katharina, ging zu Calamus, stieg auf und ritt davon, ohne noch einmal den Kopf zu wenden. Katharina sollte seine Tränen nicht sehen.

Katharina stand verloren da und blickte ihrer Liebe nach. Sie wusste nicht, ob sie Berthold jemals wiedersehen würde, aber sie wusste eines ganz gewiss: dass sie Jahr für Jahr hierher kommen würde, zur verabredeten Stunde am Tag des Maigedings. Selbst wenn sie schon alt und gebrechlich geworden wäre. Dann würde sie sich eben tragen lassen, aber sie würde kommen. Dann brach sie schluchzend und tränenüberströmt zusammen. Sie ließ ihrer ganzen Wut und Trauer freien Lauf und riss das junge Gras büschelweise aus dem Boden.

Schattenfehde

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