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IX. Kapitel
ОглавлениеBerthold erwachte erst ungefähr zwei Stunden vor Mittag. Der Schlaf hatte sich ausgezahlt. Er fühlte sich tatsächlich erholt und spürte wieder einen Anflug von innerem Frieden und Lebensmut in sich. Das Erlebte war nicht vergessen, aber er hatte wenigstens einen kleinen gefühlsmäßigen Abstand zwischen sich und die Vorfälle der vergangenen Tage bringen können. Berthold erhob er sich von seinem Lager, schüttelte sich das Stroh aus den Kleidern, kletterte die hölzerne Leiter vom Heuboden nach unten herab und begab sich in die Küche des Hauses. Die Tür auf der anderen Seite in Richtung des Kräutergärtchens stand offen und so konnte er Irmgard von hinten in gebückter Haltung sehen, wie sie einige Kräuter von einem Strauch zupfte.
„Hallo, Irmgard, Guten Tag!“
Irmgard Köppler drehte sich um und erhob sich.
„Hallo, Berthold! Na, gut geschlafen? Lass dich ansehen. Ah, du gefällst mir heute schon viel besser als gestern! Du siehst erholt aus.“
„Ich danke euch sehr für eure Gastfreundschaft und möchte wirklich gern meinen Teil dazu beitragen, dass ich euch nicht zur Last falle.“
„Gut“, sagte Irmgard, die mittlerweile mit einem Bund intensiv duftender Kräuter zur Tür gekommen war, „dann steh nicht herum, sondern nimm dir einen Kanten Brot und ein Dünnbier und frühstücke erst einmal. Wenn du damit fertig bist, kannst du die Pastinaken für das Mittagessen schälen und die Kräuter fein hacken.“
Berthold ging mit ihr ins Haus und setzte sich an den Küchentisch. Er musste für einen Moment wieder an seine Familie denken und seufzte. Irmgard tat so, als hätte sie es nicht bemerkt und schnitt ihm einen dicken Kanten Brot vom Laib und schenkte einen Krug Bier ein, das sie mit etwas Wasser verdünnte. Beides stellte sie vor Berthold auf den Tisch.
„Iss etwas“, sagte Irmgard, und Berthold griff zunächst zögerlich zu. Appetit verspürte er anfangs keinen, aber nach den ersten Bissen stellte er sich doch ein. Als er mit dem Bier fertig war und auch den Kanten Brot bis auf den letzten Krümel vertilgt hatte, räumte Irmgard ab und stellte ihm wortlos ein Holzbrett, ein Messer, und die erdigen Wurzeln vor die Nase. Berthold sah sie verständnislos an.
„Schon vergessen? Du wolltest dich doch nützlich machen.“
Berthold lächelte und begann mit der Arbeit. Irmgard half ihm dabei, sonst hätte es zum Mittagessen wahrscheinlich mehr Schalen als Pastinaken gegeben. Danach musste Berthold die Kräuter hacken. Irmgard ließ ein wenig Schweinefett in dem schweren gusseisernen Topf am Haken über der Feuerstelle aus und gab die Pastinaken und die Kräuter hinein.
„Ich denke, dass das Essen genau gut ist, wenn Walther und Petz mit ihrer Arbeit fertig sind“.
„Wo sind sie denn?“, wollte Berthold neugierig wissen.
„Die beiden sind hoch zum Schloss, um dem Schmied zur Hand zu gehen und um Material hinaufzufahren. Das Burgtor muss repariert werden“, erklärte Irmgard.
„Welchen Beruf hat Walther eigentlich? Mein Vater erzählte mir nur, dass er für Graf Philipp von Hanau-Lichtenberg als Baumeister arbeitet.“
„Na, da will es jemand aber ganz genau wissen“, scherzte Irmgard. „Also eigentlich ist Walther Zimmermann, aber als wir damals aus Frankfurt wegmussten, hatte er Streit mit der Handwerksgilde und die hohen Herren haben ihm seinen Meisterbrief entzogen. Damals haben wir dich und deine Eltern auch zum letzten Mal gesehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir kamen also eines Abends vor über zehn Jahren hier in Babenhausen an, kurz bevor die Stadttore geschlossen wurden. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Es tobte ein furchtbarer Herbststurm, der reihenweise die Häuser abdeckte, Zäune umriss und sogar einige Menschen mit herumfliegenden Ästen und Ziegeln erschlug. Am nächsten Tag sah es aus, als wäre ein Riese mit seinem Besen durch den Ort und das Schloss gefahren. Alles war beschädigt und es fehlten reichlich Handwerker, die den Schaden wieder hätten richten können. Da kam Walther gerade recht und konnte sich durch Fleiß und Können schnell einen Namen machen. Davon hörte auch Graf Philipp, der sich seinerzeit auf der Burg aufhielt, und beauftragte ihn mit der Reparatur des Zeughauses. Nachdem es nach nur einer Woche wieder hergerichtet war, und zwar besser als zuvor, bot der Graf Walther an, Baumeister bei ihm zu werden. Dass Walther in Frankfurt seinen Meisterbrief verloren hatte, schien ihn nicht weiter zu stören. Graf Philipp ist ein Mann der Tat. Und wie du siehst, es geht uns jetzt wieder ganz gut.“
„Ja, das ist doch wirklich ein schöner Beruf mit sicherem Einkommen. Und vor allem ist man immer …“
Berthold konnte den Satz nicht mehr beenden, denn ihm wurde plötzlich schwindelig. In einem Schwall aus Bier und Galle erbrach er das halbverdaute Brot auf den Küchenboden. Er wand sich in Krämpfen und hatte Schaum vor dem Mund. Erbrochenes und Speichel troffen von seinem Kinn über seine Kleidung. Sein ganzer Mund und der Hals waren taub und schmeckten gallig bitter. So heftig wie bei Franz’ Verbrennung in Langen. Berthold versuchte sich am Tisch festzuhalten, glitt aber ab, riss die Schüssel mit den Gemüseschalen mit sich und landete gekrümmt auf dem Boden, wo er inmitten der Küchenabfälle und des Erbrochenen die Besinnung verlor.
Gleißendes Licht aus dem Zentrum einer Art Tunnel blendete ihn. Zuerst konnte er nichts sehen, doch dann wurden die schemenhaften Umrisse von Menschen sichtbar. Gegen das helle Licht konnte Berthold die Gesichter nicht erkennen, aber er fühlte, wer sie waren: seine Eltern und sein Bruder Robert. Die Tunnelwände stürzten in das helle Licht – und nun konnte er deutlich sehen, was geschah. Seine Familie stand auf einem sandigen Hügel inmitten eines tosenden Flusses, an dessen Ufern die Gischt zu staubfeinen Nebelwolken zerstob und giftiggrün gegen die Böschung brandete. Diese war mit verdorrten, blütenlosen, ginsterartigen Dornengewächsen überwuchert. Seine Eltern hielten sich und Robert in Panik umklammert und schrien Bertholds Namen lautlos gegen die tosenden Fluten an. Sie blickten sich suchend und nervös um, so als erwarteten sie eine Gefahr, aber wussten nicht aus welcher Richtung. Berthold spürte deutlich ihre Angst.
Plötzlich wurde der Himmel in ein blutrotes Farbenspiel getaucht. Dunkle, schwarzviolette Wolken umgaben einen vollen, blutigroten Mond und wurden immer wieder von gleißenden Blitzen zerschnitten. Brüllend rollte der Donner. Dann war es plötzlich still, so als wäre Bertholds Trommelfell zerrissen.
Stille. Die Eltern und Robert blickten mit angsterfüllten Augen nach links und kauerten sich auf dem Boden zusammen. Etwas Böses raste auf sie zu. Berthold versuchte zu erkennen, was dort vor sich ging. Doch so sehr er sich auch bemühte, nach links zu schauen, er konnte aus den Augenwinkeln den linken Rand seines Sichtfeldes nur erahnen. Sein Kopf war starr und wie gelähmt und er als stummer, verzweifelter Zeuge dazu verurteilt, dem Geschehen beizuwohnen, ohne etwas tun zu können. Nun konnte er sehen, was seiner Familie so furchtbare Angst einzuflößen schien: Von links kam ein Reiter auf einem pechschwarzen Pferd herangeritten. Der Umhang des Reiters schlug flatternd im Wind. Es war das einzige Geräusch, was Berthold wahrnehmen konnte. Der Reiter sprengte, unbeeindruckt von den Naturgewalten, über den tosenden Fluss, als wäre dieser eine sanfte Weide. Berthold spürte es genau – es war derselbe dunkle Reiter, den er schon einmal gesehen hatte. Jetzt hörte er auch dessen Stimme, die sich langsam und immer lauter werdend ausbreitete und alles ausfüllte, bis schließlich nur noch sie in Bertholds Kopf dröhnte. Und immer wiederholte der Reiter nur diesen einen Satz: „Vergehen wird, was vor mir steht, steh’n bleibt nur, was nie vergeht!“
Immer und immer wieder rief er diese Worte, während er mit gezogenem Schwert auf Bertholds Vater zugaloppierte und diesem mit einem Schlag den Kopf abhieb. Der getroffene Körper sackte auf dem Sandhügel in sich zusammen. Der Kopf, der vom Schwerthieb ins Wasser geschleudert wurde, trieb, sich um seine eigene Achse drehend, noch einige Meter im grünen, schlammigen Fluss, bevor er versank. Kaum waren die Worte des Reiters verklungen, kamen plötzlich alle anderen Geräusche so unerwartet zurück, das Bertholds Herz krampfte. Seine Mutter schrie gellend gegen den Sturm und das laute Getöse der Wassermassen an, Robert weinte und ein Rabe zog schaurig krächzend vor dem blutroten Himmel vorbei. Der Schattenreiter zerrte Margarethe und Robert auf sein Pferd und band sie in Windeseile mit Ketten. Er schaute herausfordernd zu Berthold herüber und begann dröhnend zu lachen. Dann rief er mit hohler Stimme: „Berthold! Berthold! Berthold! Berthold …“
Plötzlich erhielt Berthold einen Schlag ins Gesicht. Er kam zu sich und bemerkte, dass er auf dem Boden der Küche lag. Die besorgten und erschreckten Gesichter von Irmgard, Walther und Petz beugten sich über ihn.
„Ich hole den Medicus“, sagte Walther.
„Nein, Meister Köppler“, entgegnete Petz sabbernd, „er braucht keinen Medicus. Ihm wird es bald wieder besser gehen. Er braucht keine Hilfe, zumindest nicht diese, nicht wahr, Berthold?“