Читать книгу Schattenfehde - Alf Leue - Страница 11
V. Kapitel
ОглавлениеBerthold ritt langsam auf dem verschlungenen Pfad durch den Wald, bis er an die Stelle kam, an der der Weg nach rechts zum Hofgut seiner Eltern abzweigte. Geradeaus führte er bergab direkt nach Langen. Berthold wusste, dass es riskant war, noch einmal durch die Stadt zu reiten. Er durfte sein Schicksal nicht allzu sehr herausfordern, aber er wusste auch, dass er Langen wohl für lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde. Die vertrauten Gassen, die Häuser und Gesichter, die ihn so lange Jahre begleitet hatten. Und eigentlich musste er ja nach Hause, sich von den Eltern verabschieden, ein letztes Mal gemeinsam mit ihnen und seinem Bruder Robert essen und sein Pferd versorgen. Viel zu tun und wenig Zeit. Berthold seufzte. Doch er hatte sich bereits entschieden. Mit einem sanften Schenkeldruck lenkte er Calamus geradeaus und trabte den Hügel in Richtung Langen hinab.
Die beiden Stadtwachen am Tor erkannten Berthold, der von Calamus abstieg und diesen an einen Pfosten band. Sie nickten ihm zu und tauschten einen verstohlenen Blick aus. Berthold wusste jetzt, dass sie zwar keine Anweisung hatten, ihn festzuhalten, aber dass in der Stadt bereits geredet wurde. Mit einem kurzem Gruß und festem Blick trat Berthold durch das Tor in die Stadt. Vor ihm eröffnete sich die Bachgasse, die von Fachwerkhäusern und Ställen gesäumt war. Er folgte ihr etwa fünfzig Schritte, bis er an Grubers Schänke angelangt war. Dann hielt er sich rechts, denn hier zweigte ein schmales Gässchen in Richtung eines weiteren Wachturmes auf der nordöstlichen Seite der Stadtmauer ab. Den hier fließenden Sterzbach überquerte er über eine kleine Steinbrücke und kam rechter Hand an dem Haus von Katharinas Vater mit der Schreibstube vorbei.
Berthold genoss für einen Augenblick die kleinen Gärten, die vor manchen Häusern zur Gasse hin lagen und trotz der frühen Jahreszeit schon prächtig blühten. Bereits nach wenigen Schritten sah er die befestigte Stadtmauer von innen, die sich in einiger Entfernung wie ein wehrhafter Arm nach Westen um die angrenzenden Häuser schlang. Er atmete den Geruch der Stadt tief ein und nahm ihn in sich auf – ganz wie ein Künstler, der sich ein Motiv einprägt, das er erst zu einem späteren Zeitpunkt malen möchte. Ich muss mir deinen Geruch bewahren, dachte Berthold wehmütig bei sich, deinen Duft nach Blumen, gebratenem Fleisch und Ungerechtigkeit. Ich werde dich vermissen.
Berthold hatte genug gesehen. Er wandte sich um und ging wieder zurück. Als er an Grubers Schänke schon fast vorbei war, hörte er plötzlich ein Geräusch hinter sich. So schnell es sein lahmes Bein zuließ, duckte er sich instinktiv. Nur einen Augenblick später krachte einer von Grubers massiven Holzschemeln, die in der Gaststube standen, an die Hauswand der Schankwirtschaft und zersplitterte.
„Entweder hast du unverschämtes Glück oder aber der Teufel hat dir wieder einmal beigestanden!“, hörte Berthold eine Stimme hinter sich sagen und drehte sich um. Es war Hermann Etzelroth, der Sohn des Vogts, der ihn mit versoffenem Gesicht ansah. Er musste schon seit Stunden in der Wirtschaft gewesen sein. Da Hermann von Haus aus über eine gut gefüllte Börse verfügte, war der ständige Genuss von Bier und Würzwein für ihn kein Problem. Es war bekannt, dass Hermann viel trank und ein höchst unangenehmer, brutaler Zeitgenosse war, vor allem, wenn er einige Bier zuviel getrunken hatte. Aber da er der Sohn des Vogtes war, wagte nur selten jemand, das Wort oder gar die Hand gegen ihn zu erheben.
„Ich werde dir deine Teufeleien schon austreiben, du Hexer“, lallte Etzelroth und stürzte sich auf Berthold, der vor ihn getreten war und nun mit dem Rücken zum Bachlauf stand. Rasch wandte er sich nach links und ließ den torkelnden Angreifer ins Leere schlagen. Mit einem Stoß, den er Hermanns Bewegung aus der Drehung heraus hinzufügte, beförderte er ihn in den Bach. Der Sohn des Vogtes schlug sich im Fallen das rechte Knie an der Sandsteineinfassung des Baches auf, prallte mit dem Gesicht hart gegen einen Holzpfahl, der sich auf der anderen Seite befand, und stürzte rücklings in den Sterzbach. Besinnungslos blieb er darin liegen, während das seichte Wasser fast friedvoll sein blutendes Gesicht umspülte. Schankwirt Gruber, der das Schauspiel von der Türschwelle aus beobachtet hatte, eilte zu Berthold.
„Rasch, verschwinde! Wenn er wieder zu sich kommt, darfst du nicht mehr hier sein!“
Berthold nickte: „Danke, Gruber. Du hast schon viel für mich riskiert.“
Der Schankwirt winkte jedoch ab: „Red’ kein dummes Zeug! Eine Hand wäscht die andere. Geh jetzt!“
Während sich Berthold, so schnell er konnte, in Richtung Osttor entfernte, zog Gruber den Ohnmächtigen aus dem Bach und legte ihn auf die Gasse. Berthold hatte ihm einmal aufgrund einer Vorahnung von einem unüberlegten Geschäft mit einem Händler abgeraten, der, wie sich kurz darauf herausstellte, schon etliche Bürger in der Gegend betrogen hatte und etwas später auch im Schuldturm endete. Das hatte ihm der Wirt nie vergessen und stand zu ihm, obwohl es auch für ihn nicht ungefährlich war.
„Was ist mit ihm geschehen?“, fragte ein Gast, der gerade aus Grubers Wirtschaft kam, um in den Bach zu pinkeln.
„Ich weiß auch nicht“, log Gruber, „der besoffene Kerl muss wohl in den Bach gestürzt sein und hat sich dabei das Hirn angehauen.“
Berthold beeilte sich, nach Hause zu kommen, erzählte aber niemandem davon, dass er in Langen gewesen und sich mit Hermann Etzelroth geschlagen hatte. Die Stimmung war traurig genug und er wollte seine Familie nicht noch mit weiteren Sorgen quälen. Das letzte gemeinsame Abendessen war sehr still, fast so, als ob man sich nichts zu sagen hätte, obwohl das Gegenteil zutraf.
Gesprächsstoff hätte es wahrhaft genug gegeben. Vergangenes, Gefühle, Gemeinsames und Zukünftiges – doch wer traute sich heute Abend, an so etwas zu denken? Wer wagte es, zu hoffen? Also blieben alle lieber still und in sich gekehrt. Wortlos ging das Essen vorüber. Berthold wünschte danach allen eine gute Nacht und begab sich auf sein Zimmer. Obwohl er die Nähe seiner Familie suchte, konnte er die gedrückte Stimmung nicht mehr ertragen.
Eine letzte Nacht auf unserem Gut, dachte Berthold, als er die steile Treppe zu seiner Kammer erklomm. Er öffnete die Tür, trat ein und schloss sie hastig hinter sich. Niemand sollte ihn so sehen. Dann warf er sich auf sein Strohlager und weinte hemmungslos. Er weinte so heftig, dass es ihn schüttelte. Er weinte alles aus sich heraus: die verlorene Liebe, die Einsamkeit, den Schmerz und die Furcht. Nachdem er keine Tränen mehr hatte und wieder klarer denken konnte, begriff er, dass es nun ganz in seiner Hand lag, wie sein Leben weiterging. Er war noch nie so einsam, aber auch noch nie so reif und erwachsen gewesen. Seinen eigenen Weg musste er finden und er wusste, dass das nicht einfach werden würde und auch keineswegs gefahrlos. Aber er hatte das Ziel klar vor Augen: seine Rückkehr und vor allem Gerechtigkeit.
Berthold verzichtete darauf, sich auszuziehen. Er drehte nur die tränenfeuchte Decke um, die er in warmen Nächten zusammenrollte und als Kopfkissen benutzte, und fiel völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
Ein schwarzer Reiter kam vom Horizont her angeritten. Er saß auf einem tiefschwarzen Hengst, dessen nass geschwitztes Fell in der untergehenden Sonne glänzte und unter dem die Muskeln spielten. Das Pferd ritt schnell und bewegte sich mit solcher Kraft, dass die Erde erzitterte. Obwohl Berthold noch einige hundert Schritte entfernt stand, konnte er es spüren. Aus den Nüstern des Pferdes stob schwefelgelber Dampf. Die Spur seiner Hufe hinterließ verbrannte Erde. Berthold kam es vor, als würde ihn der Hengst mit seinen glühenden Augen durchbohren.
Der Wind spielte schemenhaft mit dem Umhang des schwarzen Reiters. Berthold konnte ihn unmöglich auf diese Entfernung erkennen, doch er wusste, dass er das Böse war. Er kannte ihn. Er spürte ihn.
Der Reiter zog sein Schwert und hob es über seinen Kopf. Die blanke Klinge reflektierte zuerst nur die untergehende Sonne, die die Wolken von blutrot bis schwarz-violett entflammt hatte. Doch dann begann das Schwert zu singen. Ein hoher, schneidender Ton, der die ganze Luft mit seinen Schwingungen erfüllte. Berthold drehte sich um. Doch wohin er auch blickte, er sah nur Horizont. Als er an seinen Füßen herabblickte, bemerkte er plötzlich, dass er in Ketten lag und an einen Pfahl gebunden war, der aus einem Scheiterhaufen emporragte.
Zwei in dreckige Lumpen gehüllte Knechte mit warzigen, pockennarbigen Gesichtern und zahnlos grinsenden Mündern standen davor und hielten brennende Pechfackeln in den Händen. Das entflammte Pech tropfte auf ihre Arme und ihre Lumpen. Es stank bestialisch nach verschmortem Fleisch, doch das schienen sie gar nicht zu bemerken.
„Bereust du? Schwörst du ab, Berthold Graychen?“, schrie der Reiter dröhnend, als er näher kam. Seine Worte schienen von überallher zu kommen und gellten unerträglich in Bertholds Ohren.
„Was soll ich bereuen? Wem soll ich abschwören?“, rief Berthold und wand sich verzweifelt. Die Ketten, mit denen seine Arme hinter dem Pfahl gefesselt waren, schnitten sich schmerzhaft in sein Fleisch.
Inzwischen war der schwarze Reiter herangekommen und brachte seinen schnaubenden Rappen am Fuß des Scheiterhaufens zum Stehen.
„Du willst nicht?“, rief der Reiter und funkelte Berthold an. „Gut, dann sollst du brennen!“ Er lachte und befahl den beiden Knechten mit mächtiger Stimme: „Übergebt ihn den reinigenden Flammen!“
Die Knechte lachten irre und hielten ihre Fackeln an das trockene Holz, das sofort knisternd aufflammte. Angefacht vom Wind, schlugen die Flammen rasch höher, rasten auf Berthold zu und leckten mit gierigen Zungen nach ihm. Beißender Rauch stieg auf, nahm Berthold den Atem und drang in seine Augen. Kaum noch konnte er durch die beißenden Schwaden hindurch den Reiter erkennen, der nun von dem Rappen sprang und in eine der Satteltaschen griff.
„Sieh, was ich dir mitgebracht habe“, sagte er lachend zu Berthold und schleuderte einen großen dunklen Gegenstand zu ihm hinauf auf den Scheiterhaufen. Mit einem matschigen, dumpfen Knirschen schlug dieser vor Bertholds Füßen auf. Bertholds Augen quollen aus ihren Höhlen und er holte würgend Luft, als er erkannte, was da vor ihm lag: Es war der abgetrennte Kopf des lahmen Franz. Blicklos starrten seine toten Augen auf Berthold.
Berthold brüllte seine ganze Wut und Ohmacht heraus und zerrte aus Leibeskräften an den Ketten, die mittlerweile glühendheiß waren. Er wollte fort, doch er konnte sich kaum bewegen. „Mörder!“, schrie er den schwarzen Reiter hilflos an, doch seine Worte wurden von dessen höhnischem Gelächter übertönt, in das nun auch die beiden Knechte einstimmten.
Lachend riefen sie seinen Namen: „Berthold! Brennen sollst du, Berthold Graychen. Brennen!“
„Brenn, Berthold! Berthold!“