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XI. Kapitel

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Früh am nächsten Morgen – es war Montag, der siebte Mai im Jahre des Herrn 1461 – begab sich Stadtschreiber Ambrosius Kufner auf den Weg zum Hofgut Graychen. Er hatte seine aus Rindsleder gefertigte Mappe mit Papier und Schreibzeug über die Schulter gehängt, sodass dies eine gute Erklärung für seinen Besuch gewesen wäre, hätte ihn denn jemand danach gefragt. Gedankenversunken ging Ambrosius Kufner an den Stadtwachen vorbei durch Langens Osttor hinaus in Richtung des Hofgutes Graychen. Der frühe und außergewöhnlich warme Mai, der auf den langen Winter gefolgt war, hatte einige Wiesenblumen bereits zum Blühen und die Bäume zum Ausschlagen gebracht. Es duftete frisch und feucht nach Tau und Blüten. Die vom blauen Himmel mit seinen weißen Federwölkchen strahlende Sonne tat ein Übriges, eine heitere, frühlingshafte Stimmung zu erzeugen. Diese erschien Ambrosius Kufner jedoch allzu trügerisch, denn auch das beste Wetter konnte ihn nicht über die Gefahr hinwegtäuschen, in der er und alle, die ihm etwas bedeuteten, sich befanden.

Er wanderte den sanft ansteigenden Hügel zwischen den Wiesen und Bäumen in Richtung des Waldes hinauf. Nach etwa einer halben Stunde war er am Gut angekommen. Das Tor stand sperrangelweit offen. Im Hof konnte er seinen Freund Peter Graychen sehen, der gerade mit seinem Knecht Alwin die Winde des Brunnens begutachtete. Eine Magd mit einem Weidenkorb kam ihm entgegen und deutete einen Knicks an, bevor sie an ihm vorbeiging und in Richtung Wiese lief. Sicher sollte sie Kräuter für die Küche oder als Medizin holen. Der Stadtschreiber trat durch das Tor auf den Hof. Als Peter Graychen, der gerade ins Haus gehen wollte, ihn sah, hellte sich sein Gesicht auf. Er kam Ambrosius Kufner entgegen und streckte einladend die Hand aus.

„Ambrosius! Was, um alles in der Welt, verschafft mir die Ehre deines Besuchs? Wir wohnen nicht einmal einen Steinwurf auseinander und doch sehen wir uns kaum. Was für eine Überraschung. Komm herein!“

Die Freunde umarmten sich herzlich.

„Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen, Peter“, erwiderte Ambrosius Kufner den Gruß. „Eine Schande, dass man heutzutage schon einen Vorwand braucht, um seinen alten Freund zu besuchen“, dabei deutete er auf seine Tasche mit dem Schreibzeug.

Peters Miene verfinsterte sich. Missmutig sagte er: „Ja, eine Schande. Aber nun lass uns hineingehen. Reden können wir besser im Haus.“

Sie betraten zusammen die Stube und Peter rief: „Margarethe, komm und sieh, wer uns einen Besuch abstattet! Und bring uns gleich zwei Krüge Bier mit!“

Das Gesicht von Bertholds Mutter erschien für einen kurzen Moment in der Tür zur Küche. Als sie Ambrosius Kufner erblickte, lächelte sie und nickte ihm zu. Dann verschwand sie wieder, nur um einen Augenblick später mit zwei randvollen Krügen warmen Würzbieres im Zimmer zu erscheinen. Sie kam an den Tisch und stellte die Krüge vor die beiden Männer. Ambrosius nahm ihre Hand.

„Margarethe, was für eine Freude, dich zu sehen. Und welch traurige Umstände, dass wir uns so wiedertreffen müssen!“

Margarethes Augen wurden augenblicklich feucht. Sie drückte fest Ambrosius Kufners Hand. Dann ließ sie los, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und sagte: „Ich freue mich auch sehr, aber ich lasse euch jetzt besser allein. Ich habe zu tun.“ Dann blitzten ihre Augen schalkhaft und sie sagte mit einem verschwörerischen Lächeln: „Oder wolltest du etwa für ein Schäferstündchen zu mir kommen? Wenn ja, dann lass dir gesagt sein, dass das heute nicht möglich ist. Mein Mann ist zu Hause!“

All drei lachten laut und herzlich. Margarethe hat also trotz allem Kummer ihren Humor nicht verloren, dachte Ambrosius erleichtert. Sie lächelte noch einmal kurz und ging dann zurück in die Küche. Ambrosius sah ihr noch einige Sekunden nach und wurde von Peter Graychen aus seinen Gedanken geholt.

„Sie tut nur so. Sie ist in Wirklichkeit todtraurig, so wie wir alle.“

„Ich weiß das, mein Freund. Daraus könnt ihr keinen Hehl machen. Das ist auch der Grund meines Kommens, wie du dir unschwer vorstellen kannst. Aber bevor wir über ernste Dinge reden, lass uns auf dich, deine Familie und vor allem Berthold anstoßen.“

„Ja, das wollen wir tun. Prost! Auf uns – und vor allem auf meinen Sohn!“

Sie hoben die Krüge, stießen an und tranken einige Schlucke. Dann wurde Ambrosius Kufner ernst und sah seinem Freund tief in die Augen.

„Peter, du weißt, ich bin kein Freund langer Reden, vielleicht auch, weil ich diese immerfort zu Papier bringen muss. Darum frage ich dich frei heraus: Wo ist Berthold?“

Peter Graychen schwieg und sah auf die Tischplatte.

„Peter, ich bin dein Freund, vielleicht der letzte, der dir geblieben ist. Raus mit der Sprache! Wo ist er und wie geht es ihm?“, bohrte Ambrosius Kufner nach.

Peter Graychen zögerte. Dann jedoch sagte er: „Ambrosius, ich zweifle an vielem, aber sicher nicht an dir. Du bist mein Freund, aber ich kann es dir nicht sagen. Es ist nur zu deinem Besten.“

„Zu meinem Besten? Wie das?“

„Alles, was du weißt, kann dich Kopf und Kragen kosten. Besser, du weißt von nichts, glaube mir.“

Ambrosius Kufner lehnte sich zurück. „Also das ist es. Du denkst, du kannst mich schützen, indem du mir die Wahrheit verschweigst? Oder meinst du vielleicht, Berthold damit zu schützen? Glaubst du denn allen Ernstes, ein Wort käme über meine Lippen, wenn Etzelroth und seine Spießgesellen mich danach fragen würden? Das soll er mal versuchen, der Lump. Ich bin zwar nur Stadtschreiber, aber immerhin ein Amtmann. Und auch ich habe Beziehungen bis nach Mainz.“

„Nein, natürlich würdest du nichts verraten, das weiß ich!“, sagte Peter Graychen beschwichtigend, „aber wenn sie dich foltern und …“

„Mich foltern?“, fragte Ambrosius entsetzt. „Du denkst, so weit würden sie gehen? Ohne Grund und ohne Anklage? Wie wollten sie das der Obrigkeit erklären?“

„Sie müssen der Obrigkeit nichts erklären, Ambrosius. Verstehst du denn immer noch nicht? Sie sind die Obrigkeit! Etzelroth steht gewiss nicht allein, oder was glaubst du, wie es geschehen konnte, dass sie den armen Franz hingerichtet haben? Auch das war Unrecht – und alle wussten es. Doch niemand ist eingeschritten. Wer Etzelroth im Wege steht, wird von ihm weggefegt. So einfach ist das. Und dass du Stadtschreiber bist, wird dir nur wenig helfen. Sie werden schon etwas gegen dich konstruieren, wenn es sein muss.“

Peter Graychen war in Rage geraten und hatte die Stimme erhoben. Er war so laut, dass Margarethe Graychen um die Ecke aus der Küche lugte und ihren Zeigefinger auf die Lippen legte.

Nach einer Weile des Schweigens fragte Ambrosius Kufner ungläubig: „Du meinst wirklich, dass da mehr dahinter steckt, als nur die üblen Launen eines gottlosen Stadtvogtes?“

„Ja, ganz gewiss! Nur was es ist, dass wissen nur dieser Lump selbst und der Allmächtige. Genau deshalb kann und will ich es dir nicht verraten. Es ist nur, um dich und Katharina zu schützen. Gut, Berthold hat Katharina demnach auch nichts verraten, denn sonst wärst du wohl kaum hier, um mich zu fragen, oder?“

Ambrosius Kufner schüttelte den Kopf. „Ich hätte dich sicher auch so besucht, um dir beizustehen. Aber ja, du hast recht, auch Katharina weiß nichts. Berthold hat ihr nichts verraten. Wohl aus demselben Grund, aus dem auch du mir das Geheimnis nicht anvertrauen willst.“

„Siehst du, selbst mein Sohn hat darüber geschwiegen. Da kann ich mir als sein Vater wohl kaum erlauben, etwas zu verraten“, entgegnete Peter fast ein wenig triumphierend.

Der Stadtschreiber lehnte sich wieder zurück, trank in aller Ruhe einen Schluck Bier und schaute Peter Graychen einfach nur an. Nach einiger Zeit wurde dieser ungeduldig und fragte etwas grob: „Was glotzt du mich so an? Warum sagst du nichts mehr?“

Doch Ambrosius schwieg weiter. Erst nach einer geraumen Weile lehnte er sich wieder nach vorn und sagte mit leiser, konzentrierter Stimme: „Deine Motive sind edel, mein Freund, aber ich habe etwas dagegen vorzubringen, was ich nicht gerne sage. Es ist etwas Schlimmes. Dennoch muss ich es tun, weil ich fest daran glaube, dass es für Berthold besser ist, wenn ich weiß, wo er sich aufhält.“

Peter Graychen schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Ambrosius fuhr fort: „Was denkst du, Peter, wer ist in höherer Gefahr – du oder ich?“

Peter Graychen war mit einem Mal ganz still und senkte den Blick. „Ich“, gestand er schließlich leise ein.

Ambrosius nickte. „Und was glaubst du, wird geschehen, wenn sie dich verhaften? Soll ich es dir sagen? Sie werden mit allen Mitteln versuchen, aus dir herauszubringen, wo sich dein Sohn aufhält.“

„Von mir erfahren sie nichts! Nur über meine Leiche!“, fiel ihm Peter erregt ins Wort und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Ambrosius Kufner blieb jedoch ganz ruhig und sprach unbeeindruckt weiter: „Natürlich wirst du ihnen nichts sagen. Das traue ich dir zu. Bei mir wäre ich da nicht so sicher, denn ich bin nicht so stark wie du und nicht zum Helden geboren. Aber wie weit gehst du? Über deine Leiche? Über die Leiche deiner Frau? Über die Leiche deines letzten Sohnes, der dir noch geblieben ist?“

Peter war kreidebleich geworden, lehnte sich zurück und stammelte: „Sei ruhig, bei Gott, ich bitte dich!“

„Verzeih mir, Peter. Ich will dich sicher nicht noch mehr quälen; du bist schon gestraft genug mit dieser Situation. Aber ich kann nicht ruhig bleiben, denn wenn es so weit kommen sollte – was wir alle nicht hoffen und Gott verhüten möge –, welche Möglichkeit hat Berthold dann noch? Niemand weiß, wo er sich aufhält. Keiner kann ihn warnen, schützen oder ihm etwas mitteilen. Darum geht es mir und um nichts anderes.“

Peter Graychen stützte die Ellenbogen auf den Tisch, vergrub das Gesicht in seinen Händen und raufte sich verzweifelt die Haare. Er wusste, dass er jetzt eine Entscheidung treffen musste. Und er wusste auch, dass Ambrosius recht hatte. Er seufzte.

„Gut, du sollst es erfahren. Berthold ist zu meinem Freund Walther Köppler nach Babenhausen geritten, aber ich weiß nicht, ob er jemals dort angekommen ist. Walther ist dort Baumeister. Jeder kennt ihn, du kannst ihn nicht verfehlen.“

Erleichtert schaute Ambrosius Kufner seinen Freund an.

„Gut, Peter! Ich danke dir für dein Vertrauen und brauche wohl nicht nochmals zu betonen, dass meine Lippen versiegelt sind. Und dass ich mich im – Gott bewahre –“, er bekreuzigte sich, „schlimmsten Falle selbstverständlich deines Sohnes annehmen werde, als wäre er mein eigen Fleisch und Blut.“

Peter Graychen griff mit beiden Händen nach Ambrosius Kufners rechter Hand und drückte sie fest. Er schluckte und schwieg, aber seine Augen sagten in diesem Moment mehr, als Worte hätten ausdrücken können. Der Stadtschreiber erwiderte den Händedruck ebenso stumm und sah im fest in die Augen.

„Ambrosius, wie gerne würde ich dich bitten, mit uns zu Mittag zu essen. Doch geh jetzt besser. Es ist gesagt, was gesagt werden musste. Und wir wollen doch den Verdacht nicht unnötig auf dich lenken, denn zum Anfertigen einer Abschrift wird man wohl kaum so lange benötigen, oder?“ Peter deutete auf Ambrosius’ Tasche, die über dessen Stuhl hing.

„Ja, du hast recht. Besser ist besser, mein Freund. Und sei gewiss, in anderen Zeiten werden wir wieder öfter beisammen sein!“

Ambrosius Kufner griff nach seiner Tasche und stand auf. Er umarmte zuerst Margarethe Graychen, die wieder in die Stube getreten war, innig, dann verabschiedete er sich von Peter. Als er den Hof verlassen hatte und sich auf dem Rückweg befand, überkamen ihn jedoch düstere Gedanken. Inständig hoffte er, dass dies nicht das letzte Mal gewesen sein sollte, dass er seinen Freund lebend gesehen hatte.

Schattenfehde

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