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VII. Kapitel
ОглавлениеNachdem Berthold die erste Strecke im gestreckten Galopp zurückgelegt hatte, bis er außer Sichtweite des elterlichen Guts gekommen war, verlangsamte er Calamus’ Tempo ein wenig, ritt aber ohne Pause bis zum Sonnenaufgang. Von Zeit zu Zeit blickte er nervös über seine Schulter, doch niemand schien ihn zu verfolgen. Er durchquerte den Forst, der noch zum Wildbann Dreieich gehörte, möglichst auf Nebenwegen. Hier kannte er sich gut aus, zumindest bis zur Grenze des Banns. Auch wenn das Gebiet nicht mehr zur Hube seines Vaters gehörte, so war ihm die Umgebung doch vertraut, da er mit den Nachbarn und seinem Vater zusammen oft die angrenzenden Gemarkungen erkundet hatte. Sei es zur Vorbereitung einer fürstlichen Jagd oder auch nur, weil ein anderer Hübner um Hilfe gebeten hatte.
Berthold hielt sich in südöstlicher Richtung und so wurde er schon bald von der aufsteigenden Sonne geblendet, die ihre warmen roten Strahlen zuerst nur durch die Bäume warf, aber kurz darauf als goldener Hut über deren Wipfeln sichtbar wurde. Berthold brachte Calamus an einem Grenzstein zum Stehen. Hier begann das Gebiet Graf Philipps von Hanau-Lichtenberg, des Herrn von Babenhausen.
Mit dem Überschreiten der Grenze würde er sich in unbekanntes Gebiet begeben, aber auch ein weiteres Stück fort von der drohenden Gefahr. Dennoch wusste Berthold, dass es keinen Grund gab, sich bereits in Sicherheit zu wähnen. Zwar stellte die Grenze der Gemarkungen unter Umständen ein Hindernis für die Erhebung von Steuern oder den Handel mit Waren dar, jedoch würde Etzelroth keinesfalls davor zurückschrecken, seinen Arm auch über diese Linie hinaus nach ihm auszustrecken. Bei der Verfolgung von Übeltätern nahmen es die Fürsten und deren Statthalter nicht so genau, wenn es um den exakten Grenzverlauf ging. Sie waren manchmal sogar froh, wenn ein anderer sich derer bemächtigte, die Gesetze übertreten hatten. Schließlich wollte keiner solches Volk im eigenen Herrschaftsgebiet wissen und sich damit herumschlagen müssen. Da war es durchaus willkommen, wenn ein Vogelfreier oder Gesetzloser von anderen dingfest gemacht wurde.
Also musste Berthold weiter zu Walther, in der Hoffnung, sich bei ihm verstecken zu können, zumindest für die erste Zeit. Das Risiko, auch hier noch von Etzelroths Leuten ergriffen und verschleppt zu werden, war einfach zu hoch. Vielleicht machten sie dann ja gleich kurzen Prozess mit ihm, ganz ohne Gerichtsverhandlung? Wer wollte Etzelroth einen Mord an Ort und Stelle beweisen und wer interessierte sich für Berthold? Sein Leben war völlig bedeutungslos. Also konnte er nur hoffen, dass der Freund seines Vaters ihm helfen würde.
Als Berthold sinnierend vor dem Grenzstein stand, genoss er für einen kurzen, aber intensiven Augenblick die Ruhe und den Frieden des Waldes. Die Sonne entlockte dem Boden die erste Feuchtigkeit und feine Nebelschwaden zogen wie freundliche Geister durch die Bäume. Die frühen Vögel des Tages begannen zu singen und lösten die Nachtigallen und Käuzchen ab. Berthold erspähte abseits des Weges einen kleinen Bachlauf, dessen klares Wasser leise plätschernd im Wald verschwand. Er stieg ab und führte Calamus dorthin, um wenigstens kurz zu rasten. Berthold kramte aus seinen Satteltaschen das Brot hervor, das ihm seine Mutter gebacken hatte, und brach ein Stück ab. Dann setzte er sich in das feuchte Gras und aß bedächtig.
Irgendwie war er doch frei. Hatte seine Flucht nicht wenigstens etwas Gutes? Er spürte, dass da draußen etwas auf ihn wartete – und es waren nicht nur Gefahren. Auch sein Leben lag da draußen. Voller Ungewissheit und Zweifel, aber ohne Verpflichtungen. Vogelfrei. Frei wie ein Vogel. Ein paar Monate lange durfte er nur nicht verhungern oder ergriffen werden, dann würde Gott ihm schon einen Weg weisen. Und Etzelroth konnte ja auch nicht auf ewig nach ihm suchen. Die Zeit war Bertholds Verbündeter, nicht sein Feind.
Als er mit dem einfachen Frühstück fertig war, stand er auf, streichelte Calamus über die Schnauze und sagte zu ihm: „Wir müssen weiter, wir dürfen noch nicht ruhen. Unser Weg ist noch weit. Aber ich verspreche dir den besten Hafer, wenn wir unser Ziel erreicht haben.“
Berthold führte das Pferd wieder auf den Weg zurück, schwang sich in den Sattel und trabte an. Jeder Hufabdruck im morgenfeuchten Boden brachte ihn einen Schritt weiter aus der Reichweite des Dreieichenhayner Vogtes. Die Schatten der Bäume verkürzten sich zusehends und die Gegend wurde hügeliger. Dies waren die Ausläufer des Odenwaldes, der seine felsige und baumbewachsene Hand aus südlicher Richtung bis in den Rodgau ausstreckte. Manchmal blitzen hellgrün betupfte Felder und Wiesen durch die Bäume.
Gegen Mittag lichteten sich die Bäume. Berthold verließ den Wald und gelangte auf offene, strahlend helle Felder und tiefbraune Äcker, die mit einem feinen grünen Flaum überzogen waren. Bald darauf konnte er schon die Mauern Babenhausens sehen. Die Stadt lag in einem kleinen Tal, durch das die Rodau floss, die später in den Main mündete. Beim Näherkommen sah Berthold, dass die Stadtmauer nicht so mächtig wie die von Dreieichenhayn war. Allerdings war Babenhausen auch bedeutend kleiner und politisch bedeutungsloser. Er ritt direkt auf die Mauern zu und gelangte schließlich ans Stadttor.
„Halt!“, rief ihm ein Wachsoldat entgegen und stellte sich in den Durchgang. „Wer bist du und was willst du?“
„Sehe ich etwa aus wie ein Lump?“, entgegnete ihm Berthold empört.
„Nein“, erwiderte der Soldat, „ich hatte auch nicht gefragt, für was du dich hältst, sondern wer du bist. Ich habe Anweisung, Fremde anzuhalten. Und wenn du dich nicht ausweisen kannst, kommst du nicht in die Stadt, außer vielleicht in den Narrenturm, wenn du dich weiterhin wie ein Narr benimmst. Also?“
Berthold begriff, dass dieser Mann nur seine Arbeit tat, und wollte Aufsehen vermeiden. Dennoch erinnerte er sich der Worte seines Vaters und log: „Ich bin Heinrich Brunner aus Frankfurt und soll einem Freund meines Vaters, dem Baumeister Walther Köppler, einen Brief übergeben, dessen Inhalt ich selbst nicht kenne.“
Zumindest letzteres stimmte, denn Berthold hatte tatsächlich keine Ahnung, was in dem Brief stand. Der Wachmann runzelte die Stirn und sagte skeptisch: „Nun, mein junger Freund, ich kenne Walther Köppler zufällig selbst recht gut, so wie jeder hier in Babenhausen. Wir wollen sehen, ob er sich an deinen Vater erinnert. Vielleicht weiß er selbst nichts von einem Freund aus Frankfurt und dessen Sohn und wir müssen ihm das schonend beibringen.“
Der Soldat lachte, griff mit der einen Hand Calamus am Zügel und winkte mit der anderen einen zweiten Bewaffneten herbei. Dieser kam auch sofort und senkte die Spitze seiner Hellebarde in Richtung Berthold.
„Gebt mir den Brief!“, befahl er barsch.
Berthold zögerte und überlegte blitzschnell, wie es wäre, wenn er den ersten Soldaten mit einem Fußtritt zur Seite befördern und den anderen einfach über den Haufen reiten würde, aber er verwarf den Gedanken wieder. Die Hellebardenspitze war nur etwa zwei Ellen von seinem Oberkörper entfernt. Und selbst wenn es geglückt wäre, hätte er die Stadtmannschaft auf den Fersen gehabt. Das konnte er immer noch versuchen, wenn es sein musste. Berthold nestelte den Brief seines Vaters unter dem Hemd hervor und gab ihn widerwillig dem Wachsoldaten. Dieser sah den Brief prüfend an, dann öffnete er ihn und las konzentriert. Berthold wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen.
„Was fällt dir ein, anderer Leute Briefe zu lesen?“, rief er empört, doch der Soldat ignorierte ihn einfach. „Holt den Baumeister und nehmt ihm diesen Brief mit!“, befahl er zwei weiteren Soldaten, die mittlerweile hinzugekommen waren, „wir wollen ihm den Sohn seines verlorenen Freundes zeigen!“
Es vergingen einige Minuten, bis Walther Köppler in Begleitung der entsandten Soldaten am Tor eintraf. Walther war groß und stattlich und schätzungsweise vierzig Jahre alt. Er trug gepflegte Kleidung, die ihn als durchaus gut verdienenden Mann auswies, und hielt den geöffneten Brief in seiner rechten Hand. Prüfend sah er Berthold an, ohne jedoch eine Miene zu verziehen. Berthold erschrak. Er hatte das Gefühl, diesen Mann zu kennen. Er hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen, konnte sich aber bei allen Heiligen nicht daran erinnern, wo das gewesen sein sollte. Die Wache riss ihn aus seinen Gedanken.
„Dieser junge Mann behauptet, der Sohn Eures Freundes zu sein und ich schätze, Ihr kennt ihn selbst nicht!“
„Nein“, sagte Walther zu Bertholds Entsetzen, „ich kenne ihn tatsächlich nicht.“
Der Soldat schaute Berthold grimmig an und packte ihn am Arm. Er wollte ihn schon vom Pferd ziehen, als Köppler sagte: „Halt, nicht so voreilig! Ich kenne ihn zwar nicht, aber einen Freund in Frankfurt habe ich trotzdem, zu dem dieser hier als Sohn passen könnte. Und dass ich diesen jungen Burschen hier nicht kenne, liegt wohl daran, dass ich meinen Freund seit einer Ewigkeit nicht gesehen habe, und da dürfte dieser junge Mann hier kaum älter als fünf Jahre alt gewesen sein. Also lasst ihn in Ruhe!“
Der Soldat ließ augenblicklich Bertholds Arm los und trat einen Schritt zurück. Auch der andere, dessen Hellebarde Berthold in Schach gehalten hatte, hob die Waffe und trat zurück.
„Nun“, sagte Walther Köppler an Berthold gerichtet, „sage du mir, warum du mich aufsuchst!“
„Steht das denn nicht in dem Brief?“, mischte sich der Wachsoldat skeptisch ein.
„Doch“, sagte Köppler streng, „aber zum einen geht dich mein Brief nichts an und zum anderen möchte ich das von ihm selbst hören. Und übertreib es nicht immer mit deiner Kontrolle, Harthmuth! Sei versichert, das nächste Mal, wenn du meine Briefe liest oder mich am heiligen Sonntag vom Mittagstisch wegholst, weil du selbst nicht imstande bist, Gut und Böse zu unterscheiden, werde ich dem Stadthauptmann Meldung machen!“
Der Soldat sah betreten zu Boden und rang sich ein „Ja, Meister Köppler“ ab.
Berthold war erleichtert. „Ich wurde von meinem Vater aus Frankfurt zu Euch gesandt. Den Inhalt des Briefes kenne ich nicht, der Mann dort“ – Berthold zeigte verächtlich auf den Soldaten – „hat ihn mir abgenommen und so konnte ich ihn Euch leider nicht persönlich übergeben, so wie ich es meinem Vater versprochen habe.“
Der Baumeister forderte Berthold daraufhin auf, mit ihm zu kommen. Dieser stieg aus dem Sattel, nahm Calamus’ Zügel aus der Hand des Soldaten und sah diesem dabei fest in die Augen. Dann ging er mit Walther in die Stadt. Als sie das Tor passiert hatten und einige Schritte zwischen ihnen und den Soldaten lagen, sagte Walther: „Du bist verlogen, eigentümlich und rätselhaft und kommst zu einer unpassenden Zeit, aber du hast Mut und einen klaren Blick, das gefällt mir, Berthold!“
Berthold sah Walther mit großen Augen an.
„Woher kennt ihr meinen Namen? Ich hatte ihn euch nicht genannt.“
„Stimmt“, entgegnete Walther, „aber er steht im Brief deines Vaters an mich.“
Berthold schaute ihn ungläubig an.
„Und warum hat der Soldat am Tor mir dann meine Lügengeschichte so einfach abgekauft?“
Walther lächelte verschmitzt. „Du meinst Harthmuth, diesen Aufschneider? Weißt du, Briefe aufreißen ist eine Sache. Aber um zu verstehen, was darin steht, müsste man auch lesen können.“
„Er kann gar nicht lesen und hat nur so getan?“
„Sicher. Meinst du, sonst hätte er uns die Geschichte ohne weiteres geglaubt?“, lachte Walther.
„Komm jetzt. Irmgard hat dich ja auch schon eine Ewigkeit nicht gesehen.“
Die beiden gingen schweigend in östlicher Richtung durch die verwinkelten Gassen von Babenhausen. Berthold hatte dabei Gelegenheit, Walther mal von der Seite, mal von hinten zu betrachten, während er mit Calamus am Zügel hinter oder neben ihm her hinkte. Er sah einen Mann in den besten Jahren, der trotz des schütteren Haares immer noch eine jugendliche Ausstrahlung hatte. Seine schwieligen Hände erzählten von harter Arbeit, obwohl sie aus gutem Zwirn hervorlugten. Ein kleiner Speckgürtel um die Hüften unterstrich Bertholds Vermutung, dass Walther einerseits gutem Essen nicht abgeneigt war und sich dies andererseits auch – zumindest dann und wann – leisten konnte.
Der Baumeister legte ein forsches Tempo vor und nahm keine Rücksicht auf Bertholds lahmes Bein. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf Bertholds Stirn. Sie waren vom Stadttor, das am westlichen Rand der Stadtmauer lag, schnurstracks in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Nun waren sie in der Mitte der Stadt angekommen, wo sich die Gasse zum Marktplatz hin öffnete und eine schlichte, aber einladende Kirche auf der linken Seite stand. Walther schwenkte jetzt nach rechts und ging mit Berthold durch eine schmale Seitengasse. Fachwerkhäuser flankierten die Seiten, fast so wie in Langen. Nach etwa zweihundert Schritten blieb Walter stehen. Das Wohnhaus des Baumeisters war aus rotem Bruchstein gebaut und anderthalb Stockwerke hoch. Die Stallungen und das Lager, die linker Hand an das Gebäude grenzten, waren aus Holz und ruhten ebenfalls auf einem Fundament aus Bruchstein.
„Da sind wir“, sagte Walther, „hier bin ich zu Hause. Ich hole Petz, damit er dein Pferd versorgt.“
Doch Petz hatte die Ankömmlinge bereits gesehen und öffnete das angelehnte Stalltor mit einem knarrenden Geräusch. Plötzlich stand er vor ihnen. Berthold musste im ersten Moment furchtbar erschrocken aus der Wäsche geschaut haben, denn Petz grinste breit. Es war für ihn nicht das erste Mal, dass sein Gegenüber bei seinem Anblick erschrak.
Petz war ein wirklich hünenhafter Mann, der den auch nicht gerade kleinen Berthold um mehr als eine Kopflänge überragte. Er trug ein zerschlissenes, schmutziges Arbeitshemd aus grobem Leinen, das bis zum Bauch geschlitzt war und leidlich durch Lederriemen zusammengehalten wurde. Durch den Ausschnitt sah man das dichte, krause Brusthaar, das fast bis unters Kinn wuchs und in einen wilden Bart überging. Das Erschreckendste an seiner Erscheinung war jedoch die fingerbreite Narbe, die sich von der linken unteren Gesichtshälfte über beide Lippen, die Nase und das zugewucherte rechte Auge hinauf bis zum Haaransatz zog. Es musste die klaffende Wunde eines Schwerthiebs gewesen sein, die ihn so zugerichtet hatte. An seiner linken Hand fehlte ihm zudem der kleine Finger.
Doch trotz seiner nicht zu verleugnenden äußerlichen Hässlichkeit war Petz ein Mann, von dem auf den zweiten Blick etwas Warmes, Beschützendes ausging. So wie eine alte, wehrhafte Burg, dachte Berthold, als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte. Allerdings wünschte er auch keinem, sich mit diesem Mann schlagen zu müssen, denn Petz sah aus, als könne er einen Apfel mit einer Hand zerquetschen. Und treffender hätte man seinen Namen wahrlich nicht wählen können, schmunzelte Berthold, denn er erinnerte tatsächlich an einen Bären.
„Ah, da bist du ja!“, rief Walther. „Nimm Berthold das Pferd ab und versorge es. Und wenn du fertig bist, dann bring Brennholz in die Küche. Irmgard wird uns etwas zubereiten, schließlich haben wir einen Gast.“
Dann stutzte er und sah abwechselnd Petz und Berthold an. Beide standen sich mit offenen Mündern und starrem Blick völlig entgeistert gegenüber.
„Alles in Ordnung?“, fragte Walther erstaunt.
„Ja, Meister Köppler“, erwiderte Petz, der sich wieder gefangen hatte, mit einer tiefen, sabbernden Stimme, ohne den Blick von Berthold zu wenden. Dieser stand noch immer wie angewurzelt da und starrte den Hünen an. Als ihm dieser die Zügel von Calamus aus der Hand nahm, durchzuckte Berthold mit einem Mal ein Blitz und es lief ihm siedend heiß die Wirbelsäule herunter. Er hatte einen Anflug von Bitterkeit in seinem Mund. Petz lächelte kurz, wandte sich um und führte das Pferd in den Stall. Das Gefühl war weg. Ebenso schnell, wie es gekommen war, hatte es sich aufgelöst. Berthold konnte sich keinen Reim darauf machen, wusste aber von diesem Augenblick an, dass Petz etwas Besonderes war und dies nicht nur wegen seiner Gestalt.
„Berthold, alles in Ordnung?“, wiederholte Walther seine Frage etwas lauter.
„Ja, ja“, stammelte Berthold, „entschuldige, aber ich bin nur etwas erschrocken, wegen …“ Er hustete verlegen.
„Ja, ich verstehe, das ist normal, da bist du nicht der Erste!“ Walther musste lachen. „Für einen Augenblick hätte ich schwören können, dass ihr euch kennt. Aber Petz hat schon so manchen braven Mann zu Tode erschreckt wegen seines Äußeren, ganz zu schweigen von den Weibern. Doch glaub mir, er ist lammfromm und eine gute Seele, zumindest, solange man ihn nicht ärgert oder betrügt. Lass uns ins Haus gehen. Sicher hast du Hunger und auch Durst. Heute ist zwar Sonntag, aber der Herrgott wird uns einen Krug Bier sicher nachsehen.“
Walther öffnete die Tür zum Haus und trat in einen kleinen Vorraum. Eine weitere Tür trennte den Eingang von der großen Wohnküche. Diese war sehr geräumig, fast ebenso groß wie die auf Hofgut Graychen. Im Herd, der auch gleichzeitig den Raum beheizte, knisterte ein schwaches Feuer. Am Ende des Raumes befanden sich zwei Türen, eine zur rechten und eine zur linken Seite. Genau vor Berthold führte eine steile Stiege, mehr Leiter als Treppe, in das obere Geschoss. Unterhalb der Stiege lag der Speisekeller, zu dem steinerne Stufen hinabführten. Seine Tür stand auf, ein schwacher Lichtschein und leise Geräusche schlichen sich von dort nach oben. Gerade als sich Berthold an die wohlige Atmosphäre gewöhnt hatte, betrat Petz den Raum durch die linke Tür am Ende der Küche. Mit der einen Hand schloss er sie hinter sich, während er in der anderen einen riesigen Korb mit Holzscheiten trug. Berthold war sich sicher, dass er den Korb mit beiden Händen nur mit Mühe hätte heben, geschweige denn tragen können. Bei Petz wirkte es, als trüge er ein Körbchen, in dem man Pilze sammelt.
„Da bist du ja schon, Petz“, sagte Walther lächelnd, „du scheinst auch Hunger zu haben. Komm Berthold, setz dich.“ Dann rief er laut in den Speisekeller hinab: „Irmgard, wir haben Besuch. Du errätst nie, wer uns da beehrt. Komm schnell und bring etwas von dem guten Würzbier mit.“
Berthold stellte Bogen, Köcher und Tasche neben die Bank und setzte sich an den Küchentisch. In der Kellertür erschien eine wohlproportionierte Frau von etwa fünfunddreißig Jahren. Sie hatte ihre Haare zu einem Dutt zusammengesteckt, was ihrem fast noch mädchenhaften und hübschen Gesicht ein älteres und strenges Aussehen gab. Ihre Augen waren warm und herzlich. Sie trug einen Krug unter dem Arm, dessen schäumende Krone das Geheimnis seines Inhalts preisgab.
Nachdem Irmgard Köppler die Kellertür verschlossen hatte, kam sie zum Tisch, stellte den Krug krachend darauf und sagte, zu Walther gewandt, recht ruppig: „Nun, welchen heiligen Grund haben wir heute, um am Sonntag zu saufen, Meister Köppler? So kommst du nicht ins Paradies, magst du auch noch so oft in die Kirche gehen. Ich bin auf deine Erklärung gespannt. Und du“, sie wandte sich an Petz, „bring drei Becher. Sicher möchtest du auch etwas trinken. So kommt ihr wenigstens beide zusammen ins Fegefeuer, auf dass ihr euch nicht zu Tode langweilt, während ihr schmort.“
Berthold war überrascht. Solche Umgangsformen mit der heiligen Lehre war er von zu Hause nicht gewohnt. Außerdem hätte seine Mutter niemals so mit seinem Vater gesprochen. Walther war die Situation sichtlich peinlich.
„Irmgard, ich bitte dich!“ Er zeigte er auf Berthold. „Das hier ist Heinrich, der eigentlich Berthold heißt und der Sohn meines Freundes Peter ist, der nicht in Frankfurt wohnt. Kennst du ihn noch?“
Irmgard schaute etwas verdutzt und musterte Berthold auffällig, so als suchte sie krampfhaft nach Erinnerungen. Dann erhellte sich plötzlich ihre grübelnde Miene und strahlend drückte sie den überraschten Berthold an sich.
„Berthold! Mein Gott, du bist ja ein richtiger Mann geworden! Ich hätte dich im Leben nicht wieder erkannt. Lass dich ansehen. Gut siehst du aus, aber dein Gesicht gefällt mir nicht. Zu viele Sorgen für einen jungen Mann. Was ist geschehen? Warum bist du alleine gekommen? Wo sind deine Eltern und Robert?“
Walther winkte beschwichtigend ab.
„Langsam, langsam, Irmgard! Lass ihn doch erst einmal Luft holen. Er soll uns das alles in Ruhe erzählen. Peter bat mich in seinem Brief nur, ihn für eine Zeit aufzunehmen, da es Probleme geben würde. Der Rest ist mir nicht bekannt. Aber ich schlage vor, dass du uns zuerst einen Teller Eintopf gibst, damit wir uns stärken können, und dann soll Berthold seine Geschichte erzählen.“
Irmgard schien einverstanden, denn sie drehte sich wortlos um und stellte einen Topf auf die Feuerstelle des Herdes. Sie öffnete die Ofentür und legte ein paar Scheite nach. Nach wenigen Sekunden flackerten die Flammen auf und begannen sich auszubreiten. Berthold- musste unweigerlich an Franz denken. Hastig wischte er die Gedanken weg, doch Walther hatte seinen plötzlichen Stimmungswandel bemerkt.
„Du musst einiges durchgemacht haben, dass dich Peter zu uns schickt. Aber hier bist du in Sicherheit“, sagte er und legte beruhigend seine Hand auf Bertholds Schulter.
Dieser sah Walther dankbar an und wünschte sich, dass er recht behalten würde. Aber er wusste es besser. Nichts war sicher. Er kannte seinen weiteren Lebensweg nicht. Und wie sehr sehnte er sich schon jetzt nach Hause zurück, nach der gewohnten Sicherheit des Hofes seiner Eltern. Aber das war nicht mehr die Welt, in der er lebte.
Nach wenigen Minuten war der Eintopf erwärmt und Irmgard nahm den Topf vom Herd, füllte drei Schalen mit dampfendem, in Brühe schwimmendem und mit Mehl angedicktem Gemüse und stellte sie vor die Männer auf den Tisch. Sie wies Petz an, Bier in die Becher zu gießen. Dann begannen sie zu essen. Berthold schlang das Essen regelrecht hinunter, solch einen Hunger hatte er. Irmgard gab ihm schmunzelnd einen Nachschlag.
Als das Essen beendet war, sagte Berthold: „Ich danke euch für alles. Nun ist es an mir, euch meine Geschichte zu erzählen. Auch wenn es mir schwer fällt.“
Und so begann Berthold zu erzählen. Von Franz’ Verbrennung, Etzelroths Drohungen, seinen Eltern, Katharina und der Flucht. Alle am Tisch hörten schweigend und bewegt zu. Irmgard Köppler musste sich sogar ab und an eine Träne aus den Augen wischen. Alles, was seine seltsamen Ahnungen betraf, ließ Berthold jedoch aus. Er wollte keine Angst verbreiten. Auch wenn die Köpplers allem Anschein nach nicht tiefgläubig waren und seiner Familie freundschaftlich verbunden, so hätte er doch verstanden, wenn sie ihn als vermeintlichen Ketzer oder Hexer nicht hätten beherbergen wollen, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Darum erwähnte er bloß, was zwingend notwendig war, um die Beweggründe seiner Flucht glaubhaft zu machen. Als Berthold geendet hatte, schwiegen alle betroffen.
Nach einer Weile sagte Walther: „Du hast Schreckliches erlebt und wir werden einen Weg finden, wie du dauerhaft in Sicherheit bleibst. Bis dahin bist du selbstverständlich unser Gast. Es gibt noch viel zu erzählen, auch von deinem Vater und mir. Wir waren ja auch einmal jung“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Dann erzählten Walther und Irmgard allerlei aus Babenhausen und Umgebung. Von den Burgherren, den Wäldern, den Arbeiten am Wasserschloss, die erst letztes Jahr aufgenommen worden waren, dem kalten Winter und vielem mehr. Sie wollten Berthold sichtlich auf andere Gedanken bringen, doch es gelang ihnen nicht besonders gut, auch wenn sie sich redlich mühten. Berthold dankte es ihnen ab und zu mit beiläufigen Fragen und einem aufgesetzten Lächeln, aber er musste sich zwingen.
So saßen sie bis in die Abendstunden gemeinsam in der Küche. Und obwohl Berthold nicht nach Reden zumute war, genoss er doch die familiäre Geborgenheit dieser Stunden und hörte einfach zu. Als er dann kurz nach Sonnenuntergang das erste Mal gähnen musste, sagte Walther zu seiner Erleichterung: „Du kannst bei Petz in der Scheune schlafen, er wird dir jetzt dein Lager zeigen.“
Berthold war erschöpft von den Erzählungen, der Flucht und auch einigen Krügen Bier. Ein guter Schlaf würde die Welt am nächsten Tag sicher wieder in anderen Farben zeigen. Berthold umarmte Irmgard und Walther, bedankte sich nochmals für die freundliche Aufnahme und wünschte eine gute Nacht. Er folgte Petz durch den hölzernen Gang, der vom Haus aus in die Scheune führte.
„Hier unten schlafe ich“, sagte Petz und zeigte auf einen kleinen Verschlag, der mit Stroh ausgelegt war. „Du kannst nach oben auf den Heuboden gehen, es sei denn, du hast das Bedürfnis, mit mir das Lager zu teilen.“ Dabei lachte er dröhnend und ein Speicheltropfen kletterte an einem dünnen Faden seinen Mundwinkel hinab.
Berthold musste grinsen. „Das hat man mir schon oft angeboten und mich dann doch nicht gelassen. Nein, Petz, diese Schmach erspare ich mir.“
Es tat gut, wenigstens einen Augenblick lang unbeschwert zu sein. Berthold stieg die Leiter zum Heuboden hinauf. Als er oben angekommen war, bemerkte er, dass Petz ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. Berthold hielt inne und fühlte wieder den bitteren Geschmack in seinem Mund.
Petz sah ihm in die Augen und sagte: „Berthold, ich kenne dich nicht – und doch bist du mir eigentümlich vertraut, so wie ein alter Freund. Dir geht es genauso, nicht wahr? Wir werden herausfinden, warum das so ist. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir einiges zusammen erleben werden, wenn das stimmt, was mir vorhergesagt wurde, auch wenn ich nie daran geglaubt habe. Und hab’ keine Sorge heute Nacht. Ich werde über dich wachen. Schlaf gut!“