Читать книгу Schattenfehde - Alf Leue - Страница 8

II. Kapitel

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Der lahme Franz war im gesamten Wildbann und der weiteren Umgebung der Stadt bekannt. Er hatte vor vielen Jahren eine windschiefe, halb verfallene Kate bezogen, die etwas außerhalb der Stadtmauern im Wald lag und durch deren pechverschmierte Fugen stets der Wind pfiff. Doch im Unterschied zu vielen anderen Tagelöhnern und Besitzlosen, die sich ihren Unterhalt zusammenbettelten oder -stahlen und dabei auch vor Schlimmerem nicht zurückschreckten, war er etwas Besonderes. Man sagte ihm nach, er entstamme eigentlich einem alten Rittergeschlecht und dass seine Vorfahren sogar an den Kreuzzügen gegen die Ungläubigen teilgenommen hätten. Diese Gerüchte erhielten auch dadurch Nahrung, dass Franz ein gebrochenes und fremdländisch klingendes Deutsch sprach. Seinem Aussehen nach zu urteilen, musste er um die sechzig Jahre alt sein. Doch auch wenn sein hagerer Körper etwas gekrümmt war, er stets ein Bein mühsam nachzog und sein Gesicht von unzähligen Falten und Runzeln zerfurcht war, blickten seine Augen stets so wach und glänzend, als sei er noch ein junger Mann.

Darüber hinaus hatte Franz auch die seltene Gabe, selbst unbedeutende Zeichen einer Krankheit, wie kalten Schweiß oder Krämpfe, richtig deuten und die passenden Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Da Franz sich auch mit Heilkräutern bestens auskannte und zudem noch ein großes Herz und für jedermann ein offenes Ohr hatte, konnte man mit seinen Sorgen sogar dann zu ihm gehen, wenn man nicht erkrankt war, sondern einfach nur Rat suchte. Aus Franz’ Worten sprachen Weisheit und Güte und fast etwas Heiliges. Dies gefiel weder dem Priester, der sein Beichtmonopol in Gefahr sah, noch dem Bader, dessen Absatz selbstgebrauter Mixturen in Langen und Umgebung stark nachgelassen hatte, seitdem der lahme Franz vor rund zwanzig Jahren aufgetaucht war. Auch dem Vogt Etzelroth war Franz schon immer ein Dorn im Auge gewesen.

Doch das Volk wandte sich weiterhin an ihn. Denn Dinge, die man dem Priester besser nicht sagte, weil man nicht wollte, dass Gott sie erfuhr – zumindest nicht aus erster Hand –, konnte man Franz getrost anvertrauen und dabei gleichzeitig sicher sein, dass das Gesagte den verräucherten, niedrigen Raum mit dem verwanzten Strohlager nicht verließ. Berthold empfand Franz gegenüber seit jeher eine tiefe Bewunderung und Verbundenheit. Die beiden kannten sich schon seit Bertholds siebtem Lebensjahr. Ihr Umgang wurde indes von manchen Leuten, allen voran Vogt Etzelroth, mit Argwohn beobachtet, weshalb sie sich meist heimlich trafen. Doch trotz aller Vorsicht wusste bald jedermann von ihrer Freundschaft.

Und nun war Franz wegen angeblicher Zauberei und Ketzerei zum Tode verurteilt worden. Katharina sagte einmal zu Berthold, kurz nach dem Ende des elenden peinlichen Verhörs und dem Urteilsspruch vor zwei Wochen, dass fast jeder der anwesenden hochedlen Herren, die den Stab über Franz gebrochen hatten, ihn schon selbst besucht und ihm auch sicherlich persönliche Geheimnisse anvertraut hatten. Vielleicht, so meinte Katharina, habe er am Ende zu viel oder das Falsche erfahren und musste deshalb geopfert werden. Wer wisse das schon? Ein Ketzer und Zauberer sei er jedenfalls nicht. Das wusste auch Berthold. Warum aber der Vogt des Dreieichenhayner Wildbanns Franz töten lassen wollte, war ihm unklar.

Nun wurde Franz im blutverschmierten Büßerhemd und in enge Ketten gezwängt auf dem vergitterten Henkerskarren zum Richtplatz gefahren. Die Menge derer, die von außerhalb Langens eigens wegen des Ereignisses angereist war, johlte. Viele der Langener hingegen betrachteten das Spektakel stumm und mit gemischten Gefühlen. Sie waren nur erschienen, damit ihnen nicht nachgesagt werden konnte, sie würden das Urteil nicht gutheißen oder gar anzweifeln. Sie alle kannten Franz und waren einhellig der Meinung, dass solch ein gütiger alter Mann wohl kaum mit dem Teufel im Bunde stehen konnte.

Weil man versucht hatte, seine Würde herauszuhungern, war Franz völlig abgemagert und vor Schwäche kaum noch in der Lage zu stehen. Mit geistesabwesendem Blick schwankte er auf dem schäbigen Holzkarren im Rhythmus, den die mit schmutzigem Wasser gefüllten Kuhlen und Löcher im Weg vorgaben, hin und her. Oft spritzte das Wasser unter den Rädern so hoch, dass Franz schließlich über und über mit Schmutz und seinem eigenen Blut besudelt war.

Während des peinlichen Verhörs hatten ihm die Folterknechte den rechten Arm gebrochen, der nun verdreht und scheinbar unbeteiligt an ihm herunterhing, so als gehöre wenigstens er nicht zu diesem schuldigen Wesen. Franz’ Gesicht war von den Torturen, den Fußtritten und Schlägen mit Fäusten und Stöcken geschwollen, und auf der an etlichen Stellen aufgeplatzten und vom Blut verkrusteten Haut schimmerten schwärzlich-blaue Flecken. Die einstmals vollen Haare hatte man ihm abgeschnitten und die Zähne ausgeschlagen.

Der Wagen blieb schließlich am Fuße des sorgsam mit Birken- und Buchenholz geschichteten Scheiterhaufens auf dem Schinderhügel stehen, der sich in einigem Abstand zur Stadtmauer befand. Zwei grobschlächtige Henkersgehilfen lösten die Ketten und schleppten den lahmen Franz unter Pfiffen, Spucken und Faulobstwürfen einiger Schaulustiger zum Pfahl, der mitten aus dem Scheiterhaufen in den Himmel ragte. Franz’ hilfloser Körper wurde fest daran gebunden. Der Kopf hing auf seine Brust hinab und seine Augen waren geschlossen. Vogt Wolfram Etzelroth trat vor ihn.

„So sollst du, der du von allen der lahme Franz genannt wirst und dessen wahrer Name nur Gott im Himmel bekannt ist, abschwören dem Teufel, deine Sünden im Angesicht deines Todes und Gottes bereuen und um Vergebung bitten. Dann soll dein Urteil nicht das läuternde Feuer sein, sondern sollst du hoch aufgehängt werden am Langener Galgen. Schwörst du ab und bittest um Vergebung?“

Erwartungsvoll und stumm blickte die Menge auf den Verurteilten. Nur der Wind und das heisere Bellen eines weit entfernten Hundes störten die Stille. Franz öffnete mühsam die Augen, hob angestrengt den Kopf und sah den vor ihm stehenden Vogt verständnislos an.

„Schwöre ab und du wirst gnädig sterben“, wiederholte Wolfram Etzelroth eindringlich. Plötzlich erkannte ihn Franz. Er hob seinen Kopf mit unermesslicher Anstrengung noch ein Stück höher und bekam einen klaren Blick. Dann schrie er mit lauter, sich überschlagender Stimme, sodass es alle hören konnten: „Was soll ich gestehen? Dass ich sehe, was du vorhast und wer du wirklich bist, Etzelroth? Vielleicht fahre ich tatsächlich einmal aus der Hölle als ein gefallener Engel herauf und verrichte des Teufels Werk an dir. Es wird mir eine Freude sein! Verdammt sollt ihr sein, ihr alle, die ihr mit Lügen über mich gerichtet habt! Doch du wirst deinen Lohn erhalten, Etzelroth. Dein Schicksal ist besiegelt, du weißt es nur noch nicht!“

Franz bespuckte den Vogt mit blutig-schaumigem Auswurf und lachte das Lachen eines Irren. So düster und bedrohlich, dass die Menge der Schaulustigen unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Selbst der Vogt bewegte sich etwas nach hinten. Doch Etzelroth fasste sich schnell, wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel seiner Jacke ab und bekreuzigte sich. Dann schritt er die Stufen vom Scheiterhaufen hinab und rief an die Menge gewandt: „Verbrennt den Hexer! Ihr habt es selbst gehört. Er ist vom Satan besessen und scheut sich nicht, selbst ehrenwerte, fürstliche Amtmänner zu beleidigen und zu versuchen, sie in seinen Bann zu ziehen. Verbrennt ihn, damit die gottlosen Flüche endlich ein Ende haben und wir wieder in Frieden leben können!“

Der Pöbel johlte, pfiff und klatschte in die Hände. Auf einen Wink Etzelroths hin entzündete der Henker den Scheiterhaufen ordnungsgemäß an jeder Seite. Die Flammen tanzten von seiner Pechfackel auf das Stroh und von dort auf das Holz, auf dem sie sich rasch vermehrten und größer wurden.

Berthold stand währenddessen wie benommen. Er ertrug es nicht. Etwas geschah mit ihm. So sehr er sich auch vorgenommen hatte, seinem Freund Franz gefasst die letzte Ehre zu erweisen – er musste fort. Schnell. Er drängte sich durch die grölende Menge und humpelte hastig vom Richtplatz weg, wieder in Richtung des östlichen Stadttores. Katharina, die dies bemerkt hatte, versuchte ihm zu folgen, doch sie kam kaum hinterher. Berthold hatte den Menschenhaufen gerade hinter sich gelassen und war nun etwa zwanzig Schritte entfernt, da musste er innehalten. Plötzlich konnte er nämlich das sehen, was der mittlerweile ohnmächtige Franz nicht mehr zu sehen brauchte. Immer höher rankten sich die Flammen wie ein giftiges Gewächs um Bertholds Beine. Wie sie atmeten, wenn ein Windstoß in sie fuhr! Die enorme Hitze war auch rund um den Scheiterhaufen zu spüren und einige der Gaffer mussten zurücktreten. Die Flammen erfassten Franz’ Kleider. Sie erfassten Berthold. Die Hitze nahm ihm den Atem und seine Lungen waren voll von beißendem Rauch. Bertholds Hemd leuchtete kurz auf und war schon im selben Augenblick nur noch zerfallende Asche. Seine Haut begann zischend zu verbrennen und sich krümmend vom Fleisch zu schälen. Er hörte, wie seine Haare unter der Hitze der Flammen zusammenschnurrten und sich auflösten. Er verbrannte und aus seinem aufgeplatzten, schwarz versengten Fleisch traten die Knochen hervor. Mit widerlichem Gepfeife und Gezische zerriss es die Gedärme in seinem Körper und sein Blut begann zu kochen. Dann übergab er sich und brach zusammen.

Als er wieder zu sich kam, hielt Katharina seinen Kopf in ihren Händen.

„Berthold, Berthold! Was ist mit dir?“

Berthold schlug die Augen auf und sah zunächst nur verschwommene Gesichter. Brandgeruch lag in der Luft und der bittere Geschmack auf seiner Zunge wollte nicht verschwinden. Da teilte sich die gaffende Menge und Vogt Wolfram Etzelroth, gefolgt von seinem Sohn Hermann, betrat den Kreis.

„So, so, Berthold Graychen. Mich hätte es auch gewundert, wenn du nicht gekommen wärst. Konntest es wohl nicht ertragen, dass wir deinen Hexerfreund den reinigenden Flammen übergeben haben?“ Ein herausfordernd höhnisches Lächeln spielte um den Mund des Vogtes.

Berthold wischte sich die Reste des Erbrochenen von den Lippen und spuckte aus.

„Ihr habt ihn getötet. Ein Mörder seid Ihr, nicht mehr!“, hauchte er mit schwacher Stimme und voller Zorn.

Hermann Etzelroth schoss nach vorne. „Was fällt dir ein, du Lump? Zweifelst du etwa das Urteil der Gerichtsbarkeit meines Vaters an? Ein Ketzer bist du und ein Hexer obendrein, mit deinen bösen Träumen. Wir werden dich …“

Er wollte sich auf den am Boden liegenden Berthold stürzen, doch sein Vater hielt ihn zurück und grinste dämonisch.

„Warte, Hermann. Wir wollen uns doch nicht gesetzwidriges Handeln nachsagen lassen, nicht wahr? Doch eines ist klar, Graychen. Dass muss untersucht werden. Du schuldest uns Erklärungen für das Vorgefallene. Doch bevor ich eine Anklageschrift verfasse, werden wir dich verhören. Das wird sicher äußerst aufschlussreich. Also halte dich bereit. Und hiermit ist es dir bei Androhung des Todes untersagt, Langen oder gar den Wildbann zu verlassen, bis wir zu einem Beschluss gekommen sind. Hast du das verstanden oder willst du lieber gleich in den Turm?“

Mit kalten Augen blickte Vogt Etzelroth auf Berthold herab. Katharina sprang auf.

„Nichts dergleichen werdet Ihr tun! Ihr habt nicht das Recht dazu!“

Der Vogt wandte seinen Blick zu Katharina.

„So, das habe ich nicht? Meint ihr? Das werden wir sehen. Wagt es nur nicht, meine offiziellen Anordnungen anzuzweifeln, ihr würdet es bitter bereuen. Oder möchtet ihr, dass ich euren Vater und euch ebenfalls verhöre? Anscheinend steckt ihr doch im wahrsten Sinne des Wortes des Öfteren mit diesem Mann unter einer Decke!“

Alle verstanden die eindeutige Anspielung, doch nur Hermann lachte gekünstelt und dummdreist, um seinem Vater zu gefallen. Der Vogt wandte sich zu seinem Wagen, an dem bereits vier Berittene als Eskorte warteten, und gab seinem Sohn ein Zeichen, ihm zu folgen. Doch Hermann Etzelroth blieb stehen und sah herablassend auf Berthold und Katharina herab.

„Nun, Jungfer Kufner, ihr seht, es steht nicht gut um euren Verlobten. Vielleicht solltet ihr auf ein besseres Pferd setzen. Dass ihr mit diesem Kerl verbandelt seid, stört mich wenig. Es gibt nichts, was man nicht lösen könnte. So ein hübsches Weib hat etwas Besseres verdient.“

Hermann wollte Katharina unter das Kinn greifen, doch sie schlug seine Hand weg und zischte: „Fass mich nicht an, du dreckiger Büttel!“

Hermann lachte: „Wir sprechen uns noch, Katharina.“

Berthold versuchte aufzustehen und Katharina zu verteidigen, doch Hermann verpasste ihm einen Tritt, sodass er stöhnend zurückfiel. Er starrte Hermann hasserfüllt an.

„Wage es nicht, sie anzufassen, Hermann Etzelroth, oder …“

„Oder was? Willst du mir drohen?“ Hermann stemmte die Hände in die Hüften und grinste dreckig. „Warte nur, bis wir mit dir fertig sind, dann drohst du niemandem mehr!“

„Hermann! Komm jetzt!“, rief Wolfram Etzelroth gebieterisch, der dem Treiben von seinem Wagen aus zugesehen hatte.

„Ja, Vater, ich komme“, entgegnete Hermann widerwillig und sagte, an Berthold gewandt, verächtlich: „Und wir sprechen uns auch noch einmal, Krüppel!“

Dann warf er Katharina noch eine Kusshand zu und ging zu seinem Vater. Die umstehende Menge schwieg betroffen. Sie hatte auch geschwiegen, als Franz verurteilt wurde. Die Menge schwieg immer. Doch Berthold wusste nun, was zu tun war. Dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.

Schattenfehde

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