Читать книгу Die große Halloween Horror Sammlung November 2021 - Alfred Bekker - Страница 51
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Als ich das Foyer des King Edward Hotels betrat, brauchte ich nicht lange nach Gardner zu suchen. Er saß in einem der drehbaren Ledersessel und blätterte gelangweilt in einer Illustrierten. Als er mich sah stand er auf und kam auf mich zu.
"Hallo, Jessica", sagte er lächelnd und nahm meine Hand.
Wieder war er da, dieser Zauber, der von ihm ausging.
"Hallo, Curt."
"Darf ich Sie zu einem Drink in die Hotelbar einladen?"
"Gerne."
Gemeinsam gingen wir in die Bar, in der wir im Moment so gut wie die einzigen Gäste waren.
"Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Jessica. Um ehrlich zu sein, werden Sie vermutlich das einzige sein, was mir von dieser seltsamen VIP-Party in Erinnerung bleiben wird."
"Oh..."
"Für gewöhnlich mag ich solche Anlässe nicht. Aber mein britischer Verleger hat mir schon so manchen Gefallen getan, da dachte ich mir, dass ich ihm auch einen schuldig bin." Ein sympathisch wirkendes Lächeln ging über sein Gesicht, als er dann fortfuhr: "Wie man sieht, wird eine gute Tat auch belohnt. Schließlich habe ich Sie kennengelernt! Und auch wenn Sie vielleicht der Meinung sind, dass eine Flirt-Schule aus meiner Feder ein kompletter Flop wäre - ich halte Sie für eine ungewöhnlich faszinierende Frau..."
"...der Sie aber dennoch um keinen Preis der Welt etwas über das Projekt verraten würden, an dem Sie gerade arbeiten", erwiderte ich, woraufhin er mich ziemlich erstaunt ansah.
"Sie lassen nicht locker, was?"
"Dafür werde ich bezahlt."
Er zuckte die Achseln. "Und ich dachte, Sie wären meinetwegen hier."
"Das bin ich."
Ich nippte an meinen Glas und schluckte unwillkürlich, als der Blick seiner blauen Augen mich traf. Mein Herz schlug wie wild. Ich hatte den ganzen Tag sein Bild vor Augen gehabt, was einerseits daran lag, dass dieser Mann mich faszinierte.
Auf der anderen Seite hatte mich die Frage nicht losgelassen, was er mit der Toten in der MacMillan Street zu tun hatte.
Ich sprach ihn direkt darauf an.
Er wich meinem Blick aus, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und sagte dann: "Ich kann Ihnen nicht sagen, woran ich arbeite, Jessica. Eine Meldung in der Zeitung und alles wäre hin... Monate intensiver und gefährlicher Arbeit. Nein, das kann ich nicht riskieren."
"Sie sollten mir vertrauen, Curt."
Er hob die Augenbrauen.
Sein Blick war prüfend. Aber ich sah noch immer das Misstrauen in seinen Zügen.
"Jessica..."
"Es hat etwas mit diesen rätselhaften Todesfällen zu tun, nicht wahr? Ich weiß von dreien und alle liegen bislang als ungelöste Rätsel in den Aktenschränken von Scotland Yard. Ich glaube Sie wissen, was - oder wer – dahintersteckt. Zumindest haben Sie eine Vermutung..."
Sein Lächeln wirkte dünn.
Ich hatte das unbestimmte Gefühl, mit meinen Worten der Wahrheit sehr nahe gekommen zu sein. Aber ich stand jetzt vor einer Mauer, die ich ohne Gardners Hilfe nicht überwinden konnte.
"Und Sie haben eine lebendige Phantasie, Jessica."
"Braucht man die nicht, um der Realität auf die Spur zu kommen?"
Er zuckte die breiten Schultern.
"Ich fürchte, da haben Sie recht. Aber ich bin es leid, dass wir dauernd über mich sprechen, Jessica. Ich würde gerne mehr über Sie erfahren..."
Ich atmete tief durch.
Vielleicht musste ich ihm mehr Zeit geben.
"Wissen Sie schon, wie lange Sie in London bleiben werden?"
"Das hängt von den Umständen ab", wich er aus.
Leiser, gedämpfter Klavierjazz begann jetzt den Raum zu füllen. Ich blickte quer durch die Bar und sah, dass sich ein Mann im dunklen Anzug und kahlem Kopf an den Flügel gesetzt hatte, der dort stand. Er hatte ungewöhnlich große Hände, die mehr als eine Oktave greifen konnten.
"Das ist Billy, der Barpianist", erklärte Gardner. "Er hatte wohl gerade Pause... Ich habe ihm schon oft zugehört."
"Er spielt gut", musste ich zugeben, während ich fasziniert die Hände des Pianisten betrachtete, die mit ungeheurer Leichtigkeit über die Tasten glitten. Er spielte zunächst ein wirres Potpourri, so als könnte er sich nicht für ein Stück entscheiden, ehe er schließlich nach zahlreichen Appeggi ein Stück zu spielen begann, das ich nur zu gut kannte.
'As time goes by' aus Casablanca.
Eine Melodie, deren erste Akkorde mich bereits in eine romantische Stimmung versetzten.
Ich fühlte Gardners Hand die meine nehmen.
"Wollen wir tanzen, Jessica?"
"Gerne", hauchte ich.
Wir standen auf und einen Augenblick später umfasste er zärtlich meine Taille, während ich mich an seiner Schulter festhielt. Wir sahen uns in die Augen und sein Blick ging mir durch und durch. Ein wohliges Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit.
Und während im Hintergrund Billy, der Pianist über 'As time goes by' improvisierte, fanden sich schließlich unsere Lippen zu einem Kuss. Erst vorsichtig tastend, dann leidenschaftlicher. Als wir uns schließlich voneinander lösten, legte ich den Kopf an seine Schulter. Gardner strich mir zärtlich über das brünette Haar, das ich an diesem Tag offen trug.
"Solche Augenblicke sollten nie vergehen", hörte ich Gardner mir leise ins Ohr flüstern.
Und ich konnte ihm da nur zustimmen.
"Ja", hauchte ich kaum hörbar. "Ja..."
Die Zeit schien stehenzubleiben.
In dieser Sekunde gab es nur uns beide, Gardner und mich.
Und der Rest der Welt erschien unbedeutend und weit entfernt.
"Jessica..."
"Curt..."
Erst als Billy irgendwann genug von 'As time goes by' zu haben schien und disharmonischere Klänge anschlug, gingen wir Arm in Arm zu unseren Drinks zurück.
Als ich ihm dann gegenübersaß, hatte ich plötzlich ein Bild vor meinem inneren Auge, das mich aus irgendeinem Grund beunruhigte.
Ich sah Kuppeln und Bögen, dazu Palmen und eine blutrote Sonne. Die Luft flimmerte vor Hitze.
Ein orientalischer Palast!
Im nächsten Moment hatte ich die Vision, durch einen engen, finsteren Gang zu gehen. Ich blickte durch eiserne Gitterstäbe in ein furchtbares Verlies und sah Gardners Gesicht, das sich auf schreckliche Weise verändert hatte. Es war leichenblass und aus den Augen war jeglicher Glanz verschwunden... Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich einem Toten oder einem Sterbenden in die Augen blickte.
"Jessica!"
Gardners Stimme holte mich wieder ins hier und jetzt. Die Vision war wie weggeblasen, aber das Gefühl namenloser Furcht schnürte mir die Kehle zu.
Ich fror innerlich und musste schlucken.
"Jessica, was ist los mit dir?"
"Ich..."
"Ja?"
Er fasste meine Hand, die sich warm anfühlte. Ich sah in sein leicht gebräuntes Gesicht mit dem sympathischen Lächeln und den strahlend blauen Augen, die mich an die Weite des Meeres erinnerten.
"Es ist nichts", behauptete ich und versuchte ein Lächeln, das sicherlich nicht sehr überzeugend wirkte.
"Wirklich nicht?"
"Wirklich nicht."
Es war eine Lüge. Inzwischen kannte ich das, was meine Großtante Lyndsay als "Gabe" zu bezeichnen pflegte, gut genug, um zu wissen, dass diese tagtraumhafte Vision etwas bedeutete. Möglicherweise hatte sie mit einem Verhängnis zu tun, das in der Zukunft wartete, vielleicht aber deutete sie auch auf ein Geheimnis, das ich intuitiv vielleicht schon weiter entschlüsselt hatte, als mein Verstand zuzugeben bereit war.
Ich wusste es nicht.
Ich wusste nur, dass mich Gardners Gesicht in dieser Vision an das Gesicht der Toten aus der MacMillan Street erinnert hatte.