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Ich erwachte durch ein lautes, aufdringliches Hupen, das von der Straße her kam.

Den Band mit Colonel Jenkins Aufzeichnungen hatte ich noch immer auf dem Schoß. Ich war im Sessel irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen.

Ich war sofort hellwach.

Sonnenstrahlen stachen mir grell ins Gesicht und ich begann, mich frisch zu machen und anzuziehen.

Ich wollte gerade das Zimmer verlassen, um mich zum Frühstücksraum zu begeben, da sah ich unvermittelt den Jungen auf dem Flur.

Er schien dort bereits eine Weile darauf gewartet zu haben, dass ich die Tür öffnete und hinaustrat.

"Guten Morgen, Ma'am", beeilte er sich zu sagen und wirkte etwas verlegen dabei. Er drehte sich einmal zur Seite, so als glaubte er, dass ihn jemand beobachten könnte.

Aber wir waren allein.

"Guten Morgen, Rao!"

"Sie haben gut geschlafen?"

"Es geht."

"Das tut mir leid."

Er trug ein Jackett über dem rechten Arm. Ich hatte zunächst nicht darauf geachtet, doch dann beschlich mich eine Ahnung. Die Jacke kam mir bekannt vor...

"Was hast du da, Rao?", fragte ich zaghaft.

Er reichte mir die Jacke. "Sie gehörte Ihrem Mann, diesem Mister Gardner", erklärte er dann.

Er spricht von Gardner in der Vergangenheit, wurde mir einen Moment später schmerzlich bewusst. So, wie man von einem Toten spricht...

Meine Hände tasteten über den Stoff. Es war ein Jackett aus leichter Schurwolle. Genauso eines hatte ich bei Gardner gesehen, aber das sagte noch nichts.

Ich griff in die Taschen und holte die kleine Fotomappe aus der Innentasche. Ich öffnete sie und blickte auf das bleiche Gesicht von Peter Ellings...

Es war Gardners Jackett. Daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Mein Herz schlug wie wild.

Ich sah ihn Rao an.

"Woher hast du das?"

"Die Diener des Rajas haben die Jacke vergessen. Sie hing unten im Frühstücksraum. Aber sagen Sie meinem Vater nicht, dass ich sie Ihnen gegeben habe. Er hat es mir verboten."

"Und warum hast du es trotzdem getan?"

"Sie haben mir leid getan..."

"Ich erkenne die Jacke wieder. Hör mal, Rao..."

"Für Ihren Mann können Sie nichts mehr tun, Ma'am."

"Wo ist er?"

Er schwieg.

Sein braungebranntes Gesicht war jetzt fast so weiß geworden wie das lange Hemd, das er trug. Ich wusste, dass er nicht antworten würde. Er hatte schon sehr viel mehr für mich getan, als ich von ihm erwarten konnte.

Was musste das nur für ein unsichtbarer Schrecken sein, der seine Seele so sehr im Griff hatte...

Der Zorn seines Vaters war es mit Sicherheit nicht, denn über dessen Willen hatte er sich ja hinweggesetzt, indem er mir das Jackett gegeben hatte. Nein, da war noch ein tieferer Schrecken in ihm...

Ich hielt ihm die Fotomappe hin und fragte dann aufs Geratewohl: "Hast du diesen Mann schon einmal gesehen?"

"Mister Gardner hatte überall nach ihm gefragt", sagte er.

"Hat er ihn gefunden?"

"Ich weiß es nicht. Aber ich möchte Ihnen einen Rat geben, Ma'am!"

Er sah mich sehr fest an. In seinem Gesicht stand jetzt so etwas wie Entschlossenheit.

Ich fragte: "Welchen Rat?"

"Gehen Sie weg von hier!"

"Warum?"

"Damit Sie nicht das Schicksal Ihres Mannes teilen!"

"Welches Schicksal?", hakte ich nach.

Raos Flüstern klang jetzt wie das Zischen einer Kobra.

"Die Kajari..."

Ich fasste den Jungen bei den Schultern. "Erzähl mir mehr darüber! Was meinst du damit?"

"Wenn Sie wirklich Gardners Frau sind, dann werden Sie wissen, was die Kajari sind..."

Damit riss er sich los und lief davon. Ich hörte seine schnellen Schritte die Treppe hinuntereilen und atmete tief durch. Gut möglich, dass dieser Junge nur dieselben schauerlichen Geschichten wiedergab, die man von jedem Bettler am Straßenrand für ein paar Münzen erzählt bekommen konnte...

Ich war mir jedoch nicht so sicher.

Immerhin - das Jackett war eine Realität.

Ich ging zurück in mein Zimmer und legte das Jackett auf das Bett.

Dann durchsuchte ich noch einmal gründlich alle Taschen, fand aber außer einer halben Packung Kaugummi nichts mehr.

Anschließend besah ich mir noch einmal die Fotomappe, die ich nur zu gut kannte. Das Gefühl namenlosen Grauens stieg in mir empor, als ich die Bilder nochmals betrachtete, die allesamt das Gesicht von Peter Ellings zeigten.

Zweihundert Jahre!, dachte ich.

Es war gespenstisch.

Das Gesicht ein- und desselben Menschen, das auf dem einen Bild wie bei einem Mann in den mittleren Jahren wirkte, während man auf anderen Aufnahmen einen uralten Greis vor sich zu haben glaubte...

Und wenn Gardner recht hatte, dann handelte es sich darüber hinaus um einen perfiden Mörder, dem wohl niemals irgendein Gericht etwas nachweisen konnte, außer der Tatsache, dass die Menschen in seinem Umkreis unverhältnismäßig schnell alterten und manche von ihnen innerhalb von Augenblicken zu mumienhaften Leichnamen wurden...

Gardner war Ellings auf der Spur gewesen, ihm bis hier her, in das einsam gelegene Sanpur gefolgt...

Eigentlich war es mehr als naheliegend, dass es zwischen dieser Tatsache und Gardners Verschwinden einen Zusammenhang gab.

Ich blätterte noch etwas in den Fotoseiten herum, dann stutzte ich. Ich blätterte zurück. Auf der Rückseite eines der Fotos war etwas in großer Eile hingekritzelt worden.

Ich war ich mir ziemlich sicher, dass es sich um Gardners Handschrift handelte.

Es war eine Adresse, hier in Sanpur.

Und das konnte eigentlich nur eines bedeuten: Gardner hatte bei seiner Suche nach Ellings Erfolg gehabt!


Die große Halloween Horror Sammlung November 2021

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