Читать книгу Grenzgänger - Aline Sax - Страница 15
ZEHN
ОглавлениеZwei Stufen auf einmal nehmend, hastete ich die Treppe hinauf. Ich hatte mich nicht angekündigt und hoffte darum, Rolf wäre zu Hause. Er teilte eine Neubauwohnung mit zwei Freunden, Alexander und Volker. Sie war nicht groß, hatte aber eine eigene Toilette und Zentralheizung. Ich besuchte meinen Bruder oft. Immer wenn ich es zu Hause nicht mehr aushielt, weil Vater schlechte Laune hatte oder Franziska mir auf die Nerven ging, suchte ich bei ihm »Asyl«.
Ich klopfte. Es dauerte ein wenig, dann hörte ich Schritte, und die Tür ging auf.
Rolf stand vor mir, in Unterhose, Hemd und Socken.
»Komm rein.«
Ich folgte ihm in sein Zimmer.
Rolf fragte nie nach dem Grund meines Kommens. War ich aufgebracht, dann ließ er mich schimpfen und wettern, wollte ich hingegen nichts sagen, schwieg auch er.
Er setzte sich an den kleinen Tisch am Fenster, und ich nahm, wie üblich, auf seinem Bett Platz.
Rolf griff nach der Hose, die auf dem Tisch lag, und machte sich daran, einen Knopf anzunähen.
»Ich will von hier fort«, fiel ich mit der Tür ins Haus.
Mit der Nadel zwischen den Lippen sah er mich an. »Warum das? Du bist doch gerade erst gekommen«, nuschelte er.
»Mit ›hier‹ meine ich Ostberlin. Ich will in den Westen.«
Der Gedanke war mir schon an dem Tag gekommen, als sie mit dem Mauerbau anfingen. Erst hatte er nur im Hinterkopf herumgespukt, aber seit Heike nicht mehr über die Grenze durfte, beschäftigte er mich fortwährend.
Langsam hob Rolf die Hand, nahm die Nadel aus dem Mund und legte sie ebenso langsam auf den Tisch.
»In den Westen willst du? Und das fällt dir erst jetzt ein, nachdem sie die Grenze zugemacht haben und keiner mehr rüberkann? Warum nicht vor dem 13. August, als du noch die Hälfte deiner Zeit in Westberlin verbracht hast?«
Ich ignorierte den sarkastischen Tonfall.
»Dieses Land erstickt mich.«
Er legte die Hose wieder weg und sah mich eine Weile schweigend an.
»Ich will bei Heike sein. Und ich will frei sein.« Schon im nächsten Moment kamen mir meine Worte banal vor. Wie sollte ich Rolf deutlich machen, was für eine Leere in meinem Innern herrschte?
»Alles, was mir wichtig ist, ist drüben«, ergänzte ich. »Meine Freundin, meine Kollegen, meine Arbeit …«
»Aber hier hast du deine Familie.«
Ich seufzte. »Ich weiß …« Als hätte ich mir das nicht überlegt. Jeder Entschluss für etwas ist auch ein Entschluss gegen etwas.
Rolf zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück.
»Du weißt aber schon, wie gefährlich das ist, oder? Letzte Woche ist ein Mann erschossen worden, der durch den Teltowkanal schwimmen wollte. Erschossen, Julian! Die Grenzer haben ihn vom Ufer aus einfach abgeknallt.«
Natürlich hatte ich von dem Vorfall gehört. Auf einem Flugblatt hatte gestanden: »Ein Handlanger der kalten Krieger konnte seinen Auftrag nicht zu Ende führen. Eine Laus am Körper unseres Arbeiter- und Bauernstaates wurde zerdrückt, bevor sie beißen konnte.«
»Ich bin hier unglücklich.« Ich zog die Beine hoch, zupfte an meinen Schnürsenkeln herum und fragte mich, warum ich damit überhaupt zu Rolf gegangen war. Hatte ich insgeheim auf seine Unterstützung gehofft? Was für eine Idee, wo ich doch gerade gesagt hatte, ich wollte weg – weg von der Familie, weg von ihm! Oder hatte ich etwa gehofft, er würde mir mein Vorhaben ausreden? Unsicher geworden, legte ich den Kopf auf die Knie und schloss für einen Moment die Augen.
»Und wie willst du das machen?«
Ich blinzelte überrascht.
»Ich hab mir gedacht, dass es Stellen geben muss, die ihnen entgangen sind. In nur drei Wochen kann man doch nicht ein ganzes Land lückenlos abriegeln. Und so eine Stelle muss ich finden.«
Rolf sagte nichts dazu, aber ich wusste, dass er das Gleiche dachte wie ich. Die Grenze war mit einer Mauer aus Betonblöcken und Stacheldraht gesichert und wurde von Soldaten bewacht. An der Spree und den anderen Wasserwegen patrouillierten Scharfschützen. Die Zugänge der U-Bahn-Stationen waren abgeriegelt und wurden ebenfalls bewacht.
Rolf zog an seiner Zigarette, inhalierte tief und blies den Rauch aus.
»Bist du ganz sicher, dass du das willst?«, fragte er.
»Ja.« Jetzt war ich mir meiner Sache wieder vollkommen sicher. Ich hatte mir das Ganze schon x-mal durch den Kopf gehen lassen. Und ich war hier, weil ich einen Entschluss gefasst hatte und ihn meinem Bruder mitteilen wollte.
»Ich liebe Heike wirklich, Rolf.« Meine Stimme klang heiser. »Ohne sie ist alles sinnlos. Und überleg doch mal, wie wir hier leben! Nichts als Vorschriften und Verbote! Bis hierher und nicht weiter … im wahrsten Sinn des Worts! Ich will frei sein und selber über mein Leben bestimmen.«
Rolf nahm wieder einen Zug.
»Hast du schon mit Mutter darüber gesprochen?«
»Nein. Die Eltern dürfen nichts erfahren, sonst macht man sie später mitverantwortlich.«
Die Wohnungstür ging, und im Flur waren Schritte zu hören.
»Honey, we’re hoo-ome!«, rief Rolfs Mitbewohner Alex, und Sekunden später steckte er den Kopf herein. »Hast du schon gegessen? Wir haben Hähnchen und Bier geholt. Ach, da ist ja Julian. Bleibst du zum Essen?«
»Nein danke.« Ich stand auf. Jetzt konnten wir ohnehin nicht mehr ungestört reden.
»Hast du morgen Zeit?«, fragte Rolf.
Ich verzog das Gesicht. »Ich hab immer Zeit. Mich will ja keiner einstellen.«
»Gut, komm am Abend her, dann reden wir weiter.« Er stand ebenfalls auf und klopfte mir auf die Schulter.
»Danke. Ich … äh …«
Rolf fasste mich am Arm und zog mich zur Tür. »Bis morgen.«
Draußen auf der Straße holte ich tief Luft. Ich würde es tun. Auf jeden Fall! Wie zur Bekräftigung klatschte ich mit der flachen Hand gegen die Tür. Dann nahm ich mein Rad, das an der Hauswand lehnte, schwang das Bein über die Stange und sauste davon.