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DREIZEHN

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Ich drehte mein Glas in den Händen und bedauerte, dass ich kein Buch mitgenommen hatte. Es würde noch über eine Viertelstunde dauern, bis Rolf kam, und ich fühlte mich höchst unwohl, weil ich glaubte, Verdacht zu erregen, indem ich allein hier herumsaß. Im Grunde blödsinnig. Denn schließlich war es normal, dass jemand in einer Kneipe saß und auf eine Verabredung wartete. Auf Freunde, auf die Liebste, auf wen auch immer … Dass ich auf meinen Bruder wartete, um unsere Republikflucht zu besprechen, wie es im Stasi-Jargon hieß, konnte keiner ahnen. Dennoch machte ich mir Sorgen. Auch in der Planungsphase auffliegen konnte Zuchthaus bedeuten, zumindest aber den Verlust sämtlicher Zukunftsperspektiven.

Ich schluckte. Wenn ich jetzt schon nervös war, was sollte dann, um Himmels willen, werden, wenn …

Ich nahm einen großen Schluck Bier und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Mein Blick glitt über die Fensterscheiben, auf die der Regen feine, schräge Striche zeichnete. Und dann zu den Tischen, die alle besetzt waren. Zur Straßenseite hin saßen zumeist Pärchen, weiter hinten größere Gruppen an langen Tischen zwischen hölzernen Trennwänden. Ich hatte mir einen Platz etwas abseits ausgesucht, damit niemand unser Gespräch mithören konnte.

Die Bedienung eilte geschäftig hin und her, ohne auf mich zu achten. An der Theke linkerhand warteten etliche Leute darauf, dass ein Tisch frei wurde, und ich hoffte, keiner würde auf die Idee kommen zu fragen, ob er sich bei mir dazusetzen könne.

Mein Blick blieb an einer jungen Frau hängen, die an der Theke saß. Sie wandte mir den Rücken zu und wirkte irgendwie isoliert, schien in ihr Glas zu starren. Ihre langen blonden Locken erinnerten mich an Heike.

Ob Heike wohl ahnte, dass ich mich nicht mit der Situation abfinden würde? Dass ich plante, in den Westen zu kommen? Würde sie auf mich warten? Was, wenn sie davon ausging, wir wären auf immer getrennt, und die Hoffnung aufgegeben hatte, mich je wiederzusehen? Dieser Gedanke schnürte mir die Kehle zu.

Wieder nahm ich einen großen Schluck, aber der Kloß im Hals ließ sich nicht wegspülen. Wir mussten uns beeilen, Rolf und ich. Gestern hatte er gesagt, er wüsste vielleicht eine Möglichkeit. Hoffentlich etwas, das sich schnell umsetzen ließ. Es war jetzt schon einen Monat her, dass mit dem Mauerbau begonnen wurde. Jeder weitere Tag, den wir warteten, verringerte unsere Chancen.

Die Türglocke schlug an. Unwillkürlich schaute ich hin und sah Wolfgang Wichser. Was, verdammt noch mal, hatte der hier zu suchen?

Er klopfte erst seine nasse Uniform ab, dann sah er sich um. Ich duckte mich und versuchte gleichzeitig, ihn im Auge zu behalten. Er fuhr sich durch die Haare, knöpfte dann die Jacke auf und kam mit großen Schritten in meine Richtung.

Auch das noch!

Wenn ich jetzt aufstand und auf die Toilette ging, würde er garantiert aufmerksam, darum machte ich mich so klein wie nur möglich. Und stellte fest, dass er gar nicht auf mich zusteuerte, sondern sich neben das Mädchen mit den blonden Locken an die Theke setzte und ein Getränk bestellte.

Ich kam mir so blöd vor, dass ich mich selbst hätte ohrfeigen können.

Nun, da er mir den Rücken zukehrte, richtete ich mich wieder auf.

Er hatte inzwischen ein Bier vor sich stehen und sagte etwas zu dem Mädchen. Als sie ihm das Gesicht zuwandte, erhaschte ich einen Blick darauf. Sie war schön, wenn auch nicht so schön wie Heike. Wie sie wohl aussehen mochte, wenn sie lachte? Jetzt aber wirkte sie müde und erschöpft, hatte dunkle Schatten unter den Augen, und die Mundwinkel waren herabgezogen.

Wolfgang redete weiter auf sie ein. Sie bemühte sich um Freundlichkeit, aber ihr Blick verriet, dass sie lieber ihre Ruhe haben wollte. Was Wolfgang komplett ignorierte. Er bestellte ein Getränk für sie, obwohl sie abwinkte. Und erzählte ihr dann offenbar Witze, denn er lachte selbst in einem fort. Das Mädchen drehte sich wieder zur Theke hin – ein Wink mit dem Zaunpfahl, den Wolfgang aber nicht verstand. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr seine Packung hin. Sie lehnte ab und sagte etwas, das Wolfgang amüsierte, denn er lachte lauthals. Und legte die Hand auf ihren Unterarm. Sie zuckte zusammen, schüttelte ihn aber nicht ab. War sie zu höflich, um ihn abzuweisen? Oder traute sie sich seiner Uniform wegen nicht?

Sie tat mir leid, und ehe ich mich’s versah, war ich aufgestanden und zu den beiden hingegangen.

»N’Abend«, sagte ich betont locker zu dem Mädchen. »Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin.«

Sie warf mir einen verwunderten Blick zu, erwiderte aber nichts. Ich betrachtete Wolfgangs Hand auf ihrem Arm. »Sag mal, was fällt dir eigentlich ein? Pfoten weg!«

Reflexartig zog er die Hand fort, dann erst schien er zu merken, wer ihm gegenüberstand.

»Sieh an, unser Grenzgänger! Oder sollte ich besser sagen: Ex-Grenzgänger?«

»Da drüben ist was frei«, sagte ich zu der Blonden und machte eine Kopfbewegung zu dem Tisch hin, von dem ich eben aufgestanden war.

»Warum bist du nicht drüben bei deiner Westhure?«, fragte Wolfgang anzüglich. »Ach so, das geht ja nicht mehr. Jetzt musst du dich mit Ost-Frauen begnügen.« Er grinste hämisch.

Ich biss die Zähne zusammen. Ihm eine reinzuhauen, hilft nichts, sagte ich mir.

Das Mädchen war vom Barhocker gerutscht und machte Anstalten, mit mir zum Tisch zu gehen, doch Wolfgang stand auf und vertrat ihr den Weg.

»Willst du dich wirklich mit so einem Profiteur abgeben?«, fragte er herausfordernd.

»Halt’s Maul, Wolfgang Wichser!« Es war mir herausgerutscht, ehe ich mich’s versah. Ich hielt die Luft an und machte mich auf einen Fausthieb gefasst, doch Wolfgang war anscheinend zu perplex, weil ich es gewagt hatte, den alten Spottnamen zu gebrauchen.

Ich nutzte die Gelegenheit, fasste das Mädchen bei der Hand und zog sie mit zu meinem Tisch.

Dort setzten wir uns einander gegenüber.

Wolfgang sandte uns noch einen drohenden Blick, drehte sich dann aber um und bestellte ein neues Bier.

»Danke«, sagte das Mädchen leise, den Blick auf die Tischplatte gerichtet.

»Keine Ursache. Ich hab ja gesehen, dass du nichts mit dem Kerl zu tun haben wolltest.«

»Du kennst ihn?«

»Ja. Ein Klassenkamerad von früher. Unangenehmer Bursche.« Sie lächelte.

»Das hab ich gemerkt.«

»Große Klappe, nichts dahinter.«

»Bist du …« Sie sah mich an. »Bist du wirklich Grenzgänger?« Es klang nicht abfällig, sondern neugierig.

»Ich war es. Bis sie die Grenze zugemacht haben. Seitdem bin ich arbeitslos. Hier im Osten will mich keiner haben.« Ich nahm einen Schluck von meinem inzwischen lauwarmen Bier. »Soll ich dir was zu trinken bestellen?«

Sie nickte, und ich winkte der Bedienung.

»Kennst du viele Leute im Westen?«, fragte sie.

»Meine ehemaligen Kollegen. Ein paar Freunde. Und meine Freundin wohnt auch drüben.« Der Gedanke an Heike ließ mich aufseufzen. »Aber jetzt habe ich keinen Kontakt mehr.«

»Auch nicht zu deiner Freundin?«

Ich schüttelte den Kopf. Und merkte nicht einmal, dass die Bedienung an unserem Tisch vorbeiging, ohne uns zu beachten.

»Mein Freund ist auch im Westen«, sagte sie nach ein paar Sekunden.

So leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich richtig gehört hatte. Aber als ich sie anschaute, sah ich Tränen in ihren Augen. Mir war auch zum Heulen zumute, aber was würde es nützen, wenn wir zu zweit flennten?

»Seit Kurzem erst«, fügte sie – noch leiser – hinzu.

»Wie? Seit Kurzem erst?« Ich beugte mich über den Tisch.

Sie wischte sich die Augen und warf einen schnellen Seitenblick zur Theke, wo Wolfgang uns nach wie vor den Rücken zukehrte. »Er ist geflohen.«

»Wann?«

»Am Freitag.«

Ich starrte sie an. Ihr Freund war geflohen? Vorgestern erst … Wie hatte er das gemacht? Am liebsten hätte ich ihr hundert Fragen auf einmal gestellt, aber ich schwieg, weil ich das Gefühl hatte, es wäre besser, sie reden zu lassen – falls sie wollte.

Und dann fing sie auch schon an. »Eigentlich sollte ich nicht mir dir darüber sprechen, wo ich dich doch überhaupt nicht kenne. Vielleicht arbeitest du für die Stasi. Aber so siehst du nicht aus.« Ein flüchtiges Lächeln. »Und Stasi-Leute sind ja wohl keine Grenzgänger, oder? Außerdem muss ich einfach mit jemandem darüber reden. Es macht mich völlig fertig, dass mein Freund fort ist. Und dass ich es keinem sagen darf … niemand darf wissen, dass ich …«

Ich griff nach ihrer Hand. Weil sie mir leidtat, vor allem aber, weil ich begierig darauf war, mehr zu erfahren.

»Wie ist er geflohen?«, fragte ich.

»Durch die Kanalisation.«

Dass wir daran nicht gedacht hatten! In der Kanalisation gab es jede Menge Ost-West-Verbindungen.

»Er hatte Kontakt mit Studenten im Westen. Die haben die Flucht organisiert. ›Unternehmen Reisebüro‹ nennen sie sich. Sechs Leute können jeweils rüber. Und dann haben sie noch einen Helfer, der den Gullydeckel wieder zumacht, wenn die anderen drunten sind. Es läuft nämlich so, dass man in der Nacht nicht weit von der Grenze in die Kanalisation einsteigt. Im Westen wartet dann einer, der einen aus dem Labyrinth rausführt.«

Das klang ebenso einfach wie einleuchtend.

»Und warum bist du nicht mitgegangen?«, konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.

Wieder kamen ihr die Tränen.

»Wir beide sind als Letzte zu der Gruppe gestoßen, und da waren sie schon zu fünft: vier Frauen und ein Mann. Also konnte nur einer von uns mit, und sie haben sich für meinen Freund entschieden.«

Ich war unschlüssig. Sollte ich ihr verraten, dass auch mein Bruder und ich fliehen wollten? Vielleicht könnten wir sie ja mitnehmen? Andererseits kannte ich sie nicht … Dass sie sich mir, einem völlig Fremden, anvertraute, war mehr als unvorsichtig. Oder aber es verhielt sich so, dass sie für die Stasi arbeitete und mich aushorchen wollte.

»Ich stehe jetzt auf der Warteliste«, fuhr sie fort.

»Es sind also noch weitere Fluchten durch die Kanalisation geplant?«

Sie nickte.

Ich konnte es kaum fassen – das war ja gerade, als bekäme man die ideale Lösung auf dem Tablett serviert.

»Wann die nächste Gruppe geht, weiß ich aber nicht.«

»Störe ich?«

Ich fuhr zusammen und sah dann zu meiner Erleichterung, dass Rolf neben unserem Tisch stand. Erst jetzt wurde mir klar, dass das Mädchen und ich die ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt hatten.

Sie starrte Rolf an und schlug die Hand vor den Mund.

»Keine Sorge, das ist mein Bruder«, sagte ich.

»Tut mir leid, dass ich verspätet bin.« Rolf wollte sich neben mich setzen.

»Warte, wir gehen besser woandershin.« Ich stand auf.

Hier unsere Flucht besprechen, mit Wolfgang Wichser in ein paar Metern Abstand, war undenkbar.

»Ich geh dann mal.« Auch das Mädchen erhob sich.

»Komm doch mit.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich muss nach Hause, wirklich. Es ist schon spät, und ich muss morgen früh raus, arbeiten.« Sie nahm ihre Tasche. »Danke fürs Zuhören.«

Sie lächelte mich an, schien einen Moment zu überlegen, ob sie mir die Hand geben sollte, ließ es aber und ging zur Tür.

»Warte!« Ich rannte ihr nach.

Draußen packte ich sie am Arm. Als sie mich erschrocken ansah, ließ ich sie los.

»Wir wollen auch fliehen!«, stieß ich hervor. »Geh jetzt nicht weg, bitte!«

Mit großen Augen sah sie mich an, den Blick voller Zweifel.

»Vielleicht können wir einander ja helfen. Ich heiße Julian. Julian Niemöller.« Dass es riskant war, nach dieser Eröffnung meinen Namen zu nennen, war mir klar. Falls sie für die Stasi arbeitete, würde ich in Teufels Küche kommen. Aber falls nicht, sah sie darin vielleicht einen Vertrauensbeweis.

»Ich muss nach Hause.«

»Dann lass uns ein andermal weiterreden, ja?« Fast schon flehentlich sah ich sie an.

Sie überlegte einen Augenblick.

»Kennst du den Friedhof an der Boxhagener Straße?«, fragte sie.

Ich nickte. Wo die Boxhagener Straße war, wusste ich. Und den Friedhof würde ich schon finden.

»Kommenden Sonntag um sieben abends.«

»Gut, mein Bruder und ich werden da sein.«

»Aber jetzt … muss ich wirklich …«

»Ich sage keinem ein Wort, du kannst dich auf mich verlassen.« Sie lächelte mir flüchtig zu, dann ging sie davon.

»Was war das denn?« Rolf stand hinter mir.

Breit grinsend drehte ich mich um. »Wir haben eine Verabredung«, sagte ich. »Nächsten Sonntag um sieben auf dem Friedhof an der Boxhagener Straße. Dort erfahren wir mehr über den genialsten Fluchtplan aller Zeiten.«

Rolf machte eine skeptische Miene.

»Komm, wir gehen zu dir«, sagte ich. »Dann erzähle ich dir von dem Mädchen, das Heike ähnlich sieht, aber nicht Heike ist.«

Grenzgänger

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