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ACHTZEHN

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»He!« Eine Stimme dicht hinter mir.

Ich rannte noch schneller.

»Mensch, warte doch!«

Es war Rolf.

Ich nahm das Tempo ein wenig zurück. Rolf holte mich ein und griff nach meinem Arm.

»Wir haben sie abgehängt!«, keuchte er. »Bleib stehen!«

Ich gehorchte, aber in meinen Beinen kribbelte es so, dass ich kaum stillstehen konnte.

»Wir haben sie abgehängt«, wiederholte Rolf. Er packte meine Schultern und rüttelte mich durch.

Ich starrte ihn an, ohne ihn zu sehen. Mein Herz hämmerte so wild, dass es in der Brust wehtat.

»Rolf! Die haben geschossen!« Ich konnte es einfach nicht fassen. »Die haben wirklich geschossen!«

Ob sie den letzten Mann getroffen hatten? Das dumpfe Knallen hallte noch in meinen Ohren. Da unten prallten die Kugeln vermutlich an der Wand ab. Selbst wenn er gleich losgelaufen war, hatte ihn eventuell ein Querschläger erwischt. War es feige von uns gewesen, einfach davonzurennen? Und wo steckte Veronika? War sie uns gefolgt? Oder woandershin gelaufen? Fragen über Fragen …

»Komm, wir müssen weiter.« Rolf zog mich mit.

Ich versuchte, meine Schritte seinem Rhythmus anzupassen, um mich zu sammeln und um die Bilder im Kopf loszuwerden.

Wir gingen die Schönhauser Allee entlang, unter der Eisenbahnbrücke der U-Bahn durch und weiter. In Richtung Süden, knappe fünfhundert Meter von der Grenze entfernt. Nein, jetzt nicht an die Grenze denken! Als wir unter der Brücke durchgingen, fühlte ich mich ein wenig geschützter. Dabei war uns die ganze Zeit kein Mensch begegnet, auch kein Auto oder Moped.

Die Laternen warfen fahle Lichtkreise auf den Bürgersteig. An den Geschäften auf der anderen Straßenseite waren die Läden heruntergelassen. Hinter keinem Fenster in den Wohngeschossen brannte Licht.

Bis zu Rolf war es noch ein Stück Weg. Schweigend gingen wir nebeneinander her, immer weiter weg von der Grenze. Und ganz langsam beruhigte sich mein Herzschlag.

Möglichst leise schloss Rolf die Wohnungstür auf, und wir gingen sofort in sein Zimmer. Er knipste die Nachttischlampe an, und ich ließ mich auf sein Bett fallen. Das Zimmer wirkte ungewöhnlich aufgeräumt.

Rolf bemerkte meinen Blick.

»Ich hab alle persönlichen Dinge weggeworfen«, sagte er heiser. »Damit der Stasi möglichst wenig in die Hände fällt.«

Ich konnte immer noch nicht fassen, was passiert war: Die Soldaten hatten geschossen! Es stimmte also, dass man auf Republikflüchtlinge schoss. Im Westradio hatte ich es gehört und Berichte darüber gelesen, und der eine oder andere hatte davon gesprochen. Aber so richtig geglaubt hatte ich es bisher trotzdem nicht. Nun aber wusste ich es aus eigener Erfahrung: Sie schossen auf unbewaffnete Menschen, die nichts verbrochen hatten.

Rolf ging in die Küche hinüber. Ich warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch. Viertel nach zwei. Mit einem Mal fühlte ich mich unendlich müde. Die Anspannung der letzten Stunden hatte alle Energie aus mir herausgesaugt. Und immer noch hörte ich die Schüsse, weit weg und gedämpft, wie durch einen Wattepfropf im Ohr.

Dann kam Rolf wieder ins Zimmer, eine Flasche Wodka und zwei kleine Gläser in den Händen. Er schenkte ein. Etwas sagte mir, ich sollte jetzt besser keinen Alkohol trinken, aber mit einem tüchtigen Schluck brachte ich die innere Stimme zum Verstummen.

Rolf setzte sich mit seinem Glas neben mich aufs Bett.

Ich wollte etwas sagen, aber mir schien jedes Wort überflüssig.

Ob ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht richtig wach war, als das Morgenlicht durchs Fenster fiel und ich die leere Wodkaflasche auf dem Tisch sah. Ich war auch nicht richtig wach, als ich aus der Küche Geräusche hörte und es nach Kaffee roch. Richtig wach wurde ich erst, als Rolf sagte: »Musst du heute nicht deine neue Stelle antreten?«

Da sprang ich auf und stürzte in der Küche eine Tasse von dem Kaffee hinunter, den Alex aufgebrüht hatte.

Draußen schwang ich mich auf Rolfs Fahrrad und raste nach Hause, um meine Arbeitskleidung zu holen.

Verfluchter Mist! Der Tag hätte für mich nicht hier beginnen dürfen. Nicht auf dieser Seite der Mauer.

Das ganze Ausmaß der Misere begriff ich erst an der letzten Straßenecke vor unserem Haus. Denn dort ging mir schlagartig auf, dass die Stasi von unserem Fluchtversuch gewusst haben musste. Ich bremste abrupt.

Jemand hatte den Plan verraten! Doch wohl nicht Veronika? Wohin war sie überhaupt gelaufen? Hatten die Soldaten sie womöglich erwischt? Sie kannte meinen Namen und …

Ich spähte die Straße entlang, hielt Ausschau nach einem wartenden Auto, nach Männern vor unserer Haustür, die mich abpassen wollten.

Nichts dergleichen zu sehen.

Vielleicht waren sie oben in der Wohnung? Angestrengt blickte ich zu unseren Fenstern, ob da jemand hinter der Gardine stand. Der Gedanke, dass ich meine Eltern in Gefahr gebracht hatte, schnürte mir die Kehle zu. Aber mir blieb keine Wahl: Ich musste ins Haus.

Ich traf Mutter allein an. Vater war schon zur Arbeit gegangen und Franziska in die Schule. Alles war wie immer.

»Julian, du? Ich dachte, du hast heute deinen ersten Arbeitstag?«, sagte Mutter verwundert.

»Hab meine Arbeitskluft vergessen«, murmelte ich, ihrem Blick ausweichend, und hastete in mein Zimmer, um die Sachen zu holen.

Mutter wandte sich wieder ihrer Bügelwäsche zu. Gott sei Dank ahnte sie nicht, was in der Nacht passiert war. Besser gesagt, was nicht passiert war.

Ich verabschiedete mich mit einem Kuss, rief »Bis heute Abend!« und rannte die Treppe hinunter.

Wo die Baustelle war, auf der ich mich vor einer Stunde hätte melden sollen, wusste ich zum Glück auswendig.

Grenzgänger

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