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SECHZEHN

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Eigentlich hatte ich jeden Moment im Gedächtnis speichern, mir jedes Wort merken wollen. Und dann zogen die Tage wie im Rausch vorbei, ich konnte mich kaum konzentrieren und verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Es war, als ginge das Leben bereits ohne mich weiter.

Am Sonntagmorgen hatte ich mich noch einmal genau in meinem Zimmer umgesehen. Hatte die Kleider aufs Bett gelegt, die ich anziehen wollte. War kurz versucht gewesen, doch etwas als Andenken mitzunehmen. Hatte den Gedanken gleich wieder verworfen, weil es mich nur bedrückt hätte, etwas auszusuchen. Nicht einmal den Schuhkarton unter meinem Bett hatte ich aufgemacht, um mir noch einmal anzusehen, was ich in der Kindheit alles gesammelt hatte. Weder dem Bild von Heike, das sie mir geschenkt hatte, noch dem Schlüsselanhänger, den Florian für mich gebastelt hatte, schenkte ich einen Blick.

Stattdessen war ich ins Elternschlafzimmer gegangen und hatte die Schubladen von Mutters Nachttisch nacheinander aufgezogen und wieder zugemacht, ohne zu wissen, was ich suchte. Erst als ich es fand, wurde es mir bewusst. Das Foto meines Vaters. Als ich es aus dem Rahmen nehmen wollte, fiel ein anderes Bild, das dahintergesteckt hatte, auf den Bettvorleger. Es zeigte ebenfalls meinen Vater, stammte aber wohl aus dem Krieg und war ziemlich unscharf. Neben ihm war eine Holzhütte zu sehen und hinter ihm eine unbebaute Ebene. Vater lachte, das Gewehr in der Hand, in die Kamera. Aber es war eine andere Art Lachen als auf dem Bild, das ich kannte.

Ich schrak zusammen, als ich vom Flur her Stimmen hörte. Schnell steckte ich das lose Foto ein, legte den Rahmen in die Schublade und schloss sie wieder.

Gudrun und Hermann waren gekommen. Mit den Kindern. Ich ging in mein Zimmer und schob das Foto in das bereitliegende Hemd. Dann ging ich ins Wohnzimmer hinüber.

»Onkel Julian!« Florian freute sich mächtig, mich zu sehen.

»Mannomann, du bist ja schon wieder gewachsen!«, gab ich mich erstaunt.

Florian reagierte mit der Unbekümmertheit kleiner Kinder: Er stellte sich neben mich und legte die Hand auf seinen Kopf, um zu prüfen, bis wohin er mir reichte. Bis zum Nabel.

Daraufhin wollte natürlich auch Marthe zeigen, wie groß sie schon war. Sie reichte mir gerade bis zu den Hüften, darum hob ich sie hoch und hielt sie über meinen Kopf. Sie kreischte vor Vergnügen.

Als Rolf endlich eingetroffen war, setzten wir uns an den Esstisch. Ich mied seinen Blick. Was nicht auffiel, denn Franziska beanspruchte alle Aufmerksamkeit, indem sie mit viel Tamtam ihre Geschenke auspackte.

Nach dem Essen schauten sich Marthe und Florian mit ihrem Stereomat Bilder an, bis sie müde wurden und, auf dem Sofa aneinandergelehnt, einschliefen.

Gudrun, Hermann und Mutter unterhielten sich, aber ich bekam kaum etwas davon mit. Später half ich den Frauen beim Abwasch, während Vater, Rolf und Hermann es sich im Wohnzimmer gemütlich machten.

»Julian, könntest du am vierzehnten Oktober auf Marthe und Florian aufpassen?«, fragte meine Schwester auf einmal. Ich starrte sie völlig perplex an: Der vierzehnte Oktober war ein Datum, das für mich nicht existierte.

»Wir sind zu einer Feier eingeladen«, sagte Gudrun halb entschuldigend.

»Ach so, ja, kein Problem.«

Sie lächelte mich an und nahm Mutter den nächsten gespülten Teller ab. Mit hängenden Armen stand ich da, das Geschirrtuch in der Hand. Das Gefühl, außen vor zu sein und ohne Raum- und Zeitbezug irgendwo zu schweben, verstärkte sich.

Und es ließ nicht mehr nach. Als Hermann und Gudrun ihre Kinder auf die Arme nahmen und sich mit dem üblichen Wangenkuss verabschiedeten, spürte ich die Berührung ihrer Lippen überhaupt nicht. Und als ich mich umgezogen hatte, in meine Jacke schlüpfte und zu den Eltern sagte, ich würde bei Rolf übernachten, und sie meine Lüge ohne Argwohn schluckten, fühlte ich mich innerlich völlig hohl. Ich umarmte Mutter, gab Vater die Hand und sagte mechanisch: »Na denn, bis morgen.«

Schweigend gingen wir zu der Kneipe, in der ich Veronika eine Woche zuvor getroffen hatte. Und wir sagten auch nichts, als wir uns an einem Tisch gegenübersaßen und auf sie warteten.

Grenzgänger

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