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ZWEI

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Die ganze Woche ging mir Heike nicht aus dem Sinn. Als Walter fragte, ob ich am Sonntag mit zum Wannsee wolle, und augenzwinkernd meinte, Paula sei auch mit von der Partie, traute ich mich nicht zu fragen, ob Heike ebenfalls dabei wäre.

Das Knattern von Walters Moped weckte vermutlich die ganze Nachbarschaft auf und entlockte meinem Vater ein unwilliges Knurren. Rasch packte ich mein Handtuch ein, verabschiedete mich und ging nach unten.

Walter sah in seiner kurzen weißen Hose, den weißen Turnschuhen und dem gestreiften Hemd wie ein Hollywoodstar aus.

»Morgen!«, rief er mir munter zu.

Ich schwang mich auf den Sozius. Es war herrliches Wetter, und die Fahrt zum Wannsee – gut fünfundzwanzig Kilometer durch ganz Westberlin – würde ein Genuss.

Die Grenzer musterten uns abfällig – wir machten wohl den Eindruck von dekadenten Amerikanern –, ließen uns aber ohne Probleme passieren.

Wir sausten an geschlossenen Geschäften und schlafenden Wohnhäusern vorbei, während die Sonne hinter uns höher stieg. Dass es wegen des Mopedlärms unmöglich war, sich zu unterhalten, störte mich nicht. Ich schloss die Augen und spürte den Fahrtwind in den Haaren. Irgendwann würde ich mir auch so ein Ding zulegen … wenn ich eine eigene Wohnung zugewiesen bekam, wie mein älterer Bruder Rolf. Solange ich noch zu Hause wohnte, würde mein Vater es nicht erlauben. Weil er es für unnütz hielt: Ich hätte doch ein Fahrrad, meinte er immer, das reiche ja wohl.

Wir waren nicht die Einzigen, die den Sonntag am Wannsee verbringen wollten. Von der Bushaltestelle aus strebten Dutzende mit Picknickkörben, Klappstühlen, Wasserbällen und Luftmatratzen dem Strandbad zu, das für ganz Berlin ein Anziehungspunkt war. Wir jedoch fuhren vorbei, denn nicht nur mir graute vor den Menschenmassen – Walter und den anderen zum Glück auch. Von unserem Stammplatz, einem Stück Strand hinter den Bäumen, schien sonst niemand zu wissen.

Walter stellte das Moped ab. Heini, Ernst, Charlotte, Max und zwei Mädchen, die ich nicht kannte, waren bereits da. Sie hatten ihre Taschen auf einen Haufen geworfen, und die Mädchen zogen sich gerade um. Walter hatte mich zwar in seine Clique eingeführt, aber im Grunde war ich nur dann dabei, wenn er mich einlud. Andere Freunde als ihn und seine Leute hatte ich nicht. Die Schulkameraden von früher meldeten sich nicht mehr, seit ich im Westen arbeitete. Was mich wenig kümmerte, denn in Walters Clique fühlte ich mich wohl, weil keiner mich schief ansah.

Während er unsere Sachen vom Moped nahm, stießen noch drei weitere Mädchen zur Gruppe. Alle in kurzen Hosen und mit großen Sonnenbrillen und Strohhüten, sodass sie wie Drillinge wirkten.

Ich breitete mein Handtuch aus, und als ich mein Hemd aufknöpfte, stand plötzlich eines der Drillingsmädchen vor mir.

»He, warum hast du mich nicht angerufen?«, sagte sie, machte einen Schmollmund und ließ ihre Finger über meine Brust wandern.

Paula. Es war Paula …

»Wir haben zu Hause kein Telefon.«

Mit schief gelegtem Kopf sah sie mich an. Haben die im Osten wirklich kein Telefon?, sah ich sie denken.

Sie beschloss, die Entschuldigung gelten zu lassen. »Ich freu mich jedenfalls, dass du da bist!«

Sie holte ihr Handtuch hervor und legte es neben meines in den Sand.

Noch immer konnte ich mich nicht erinnern, was letzte Sonnabendnacht gewesen war. Nichts, vermutete ich, aber Paulas Verhalten nach zu urteilen, wohl doch etwas …

Den ganzen Tag über tat sie, als wären wir ein Pärchen. Wir schwammen, spielten Fußball, sonnten uns … und Paula wich nie von meiner Seite und hatte ständig irgendwelche Anliegen. Ich sollte ihr den Rücken eincremen, die Tasche rübergeben, mit ihr in den See hinausschwimmen, von den Keksen nehmen, die sie mitgebracht hatte. Allmählich wurde mir unbehaglich. Besonders beim Rückeneincremen und als sie im Wasser die Arme um mich schlang.

Erst als ich Heike sah, verstand ich, warum.

Am späten Nachmittag – ich spielte gerade mit Walter, Max und Paula Karten – tauchte sie mit einem halben Ölfass und einer großen Tasche voller Essen auf.

»Jetzt wird gegrillt!«, rief Max. Er und Walter füllten Sand in das Fass, schichteten Reisig und Papier darauf und hielten ein Streichholz daran. Rasch noch einen Rost darüber, und kaum eine Viertelstunde später stieg mir der Duft gebratener Frikadellen in die Nase und erinnerte mich daran, dass ich, abgesehen von ein paar Keksen, seit dem Morgen nichts gegessen hatte.

Die letzten Schwimmer kamen aus dem Wasser, die Handtücher wurden im Kreis um das Grillfass gelegt, und Heike stellte Schüsseln mit Salat, Tomaten und Mais bereit – alles ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen. Walter hatte inzwischen einen Eimer Bierflaschen besorgt.

Wir aßen, rissen Witze, lachten. Heike saß mir im Kreis gegenüber, und ich schaute durch die flirrende Hitze zu ihr hin. Plötzlich lächelte sie mich an, und ich wünschte mir nichts mehr, als neben ihr zu sitzen statt neben Paula.

Als alle satt waren, wurde der Ölfassgrill zum Lagerfeuer umfunktioniert. Es dämmerte bereits, war aber noch angenehm warm. Max nahm seine Gitarre zur Hand und spielte ein paar bekannte Titel von Chuck Berry und Elvis. Als er eine langsame Ballade intonierte, die einige mitsangen, schmiegte Paula sich an mich. Ich murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Ihr penetrantes Gehabe ging mir auf die Nerven. Ich lief zum Ufer. Das Wasser war ebenso schwarz wie die Silhouetten der Bäume, die unser Strandstück säumten. Irgendwo auf dem See flog ein Wasservogel auf. Ich setzte mich in den Sand, und die Gitarrenklänge und Stimmen wurden zu einer Art Hintergrundrauschen. »Keine Lust mitzusingen?« Heike stand neben mir. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen hören.

»Oder keine Lust auf Paula?«

»Oje, war das so deutlich?«, fragte ich halb schuldbewusst.

»Für mich schon, für sie eher nicht.« Sie lachte verhalten.

»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was letzte Sonnabendnacht passiert ist«, gab ich zu. »Aber es sieht ganz so aus, als würde Paula daraus irgendwelche Rechte ableiten.« Ich drückte mich bewusst vage aus, um Heike nicht vor den Kopf zu stoßen.

»Keine Bange, es ist nichts passiert. Das hat Paula mir erzählt.«

»Erzählt?«

»Frauen reden nun mal über solche Dinge.« Wieder lachte sie. »Paula hat die Tendenz, sich an Männer ranzuschmeißen. Mach dir nichts draus …« Sie setzte sich neben mich und legte ihre Hand, die mir noch viel wärmer vorkam als der Sand, auf meine. »Was hat deine Mutter zu der Strumpfhose gesagt?«

Ein paar Enten flogen über das Wasser.

»Sie war begeistert«, log ich. »Danke noch mal.« Verdammt. Ich hätte mich damals überzeugender bedanken sollen.

Hinter uns stimmte Max All I have to do is dream von den Everly Brothers an. Diesmal sang keiner mit, alle lauschten der Melodie. Heike rückte näher, legte den Kopf an meine Schulter und summte leise mit. Ich schlang meinen Arm um sie, und so saßen wir da, bis das Lied zu Ende war. Auch als Max ein schnelleres Stück zu spielen begann und die anderen wieder mitsangen, machte sie keine Anstalten aufzustehen. Nur der Zeigefinger ihrer rechten Hand bewegte sich – sie malte damit kleine Kreise auf meinen Schenkel. Ich erwiderte die Zärtlichkeit, indem ich mit dem Daumen über ihren Oberarm strich.

Und als sie mir das Gesicht zuwandte, küsste ich sie.

Grenzgänger

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