Читать книгу Grenzgänger - Aline Sax - Страница 25
ZWANZIG
ОглавлениеKeine Ahnung, was mich antrieb, einen wirklichen Entschluss hatte ich nicht gefasst, aber tags darauf schlug ich am Abend den Weg zum Stadtbad Mitte ein. Das Hallenbad war in einem stattlichen alten Gebäude untergebracht, einem der wenigen, die den Krieg überstanden hatten. Das Dach war zwar von zwei Bomben beschädigt worden, die aber zum Glück nicht explodierten. Der Leiter des Bades hatte sie eigenhändig ins Freie getragen, das Dach reparieren lassen und das Schwimmbad bald darauf wieder eröffnet.
Im Eingangsbereich zögerte ich kurz. Da ich keine Badehose eingepackt hatte, würde man mich bestimmt nicht in die Schwimmhalle lassen.
Langsam ging ich die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo es eine Galerie mit Aussicht auf das Becken gab. Es war Jahre her, dass ich das letzte Mal hier gewesen war; für Schwimmen hatte ich nicht viel übrig. Meine Haut war von einem feuchten Film überzogen, noch ehe ich oben angelangt war. Ich knöpfte meine Jacke auf.
Der Chlorgeruch weckte unangenehme Erinnerungen an Sportstunden. Unser Schwimmlehrer, ein humorloser Muskelprotz mit blondem Schnurrbart und schmalen Lippen, schlug jedem, der sich am Rand festhalten wollte, mit einem langen Stock auf die Finger. Woche um Woche hatte ich am Beckenrand Trockenübungen absolviert. Woche um Woche hatte ich Wasser geschluckt und in meiner Panik geglaubt, sterben zu müssen, wenn er mich ins Tiefe zwang. Woche um Woche hatte ich die Tortur überlebt.
Hinter den hohen Fenstern war es dunkel, an der Decke jedoch brannten Lampen und erleuchteten die Halle bis in den letzten Winkel.
Der Bademeister forderte mit schrillen Pfiffen und Gebärden die letzten Badegäste, die noch ihre Bahnen zogen, zum Verlassen des Beckens auf.
Unterdessen waren bereits die Synchronschwimmerinnen gekommen – sechs an der Zahl –, alle gertenschlank. Sie machten Aufwärmübungen, streckten sich und beugten den Körper bald hierhin, bald dorthin.
Ich zog meine Jacke aus, hängte sie übers Geländer und schaute hinab zu den Mädchen, die alle schwarze Badeanzüge und weiße Badehauben trugen. Ob Franziskas Gruppenleiterin dabei war, konnte ich nicht erkennen.
Zum Schluss kam noch eine dickere Frau in die Schwimmhalle. Ihre kurze Hose spannte über dem Hintern, und das weiße Oberteil hing wie ein Lappen an ihr. Sie klatschte in die Hände, woraufhin die Mädchen sich wie Hundewelpen um sie scharten. Außer ihnen war nun niemand mehr in der Halle.
Ich trat ein wenig zurück, um nicht gesehen zu werden. Im Grunde war es doch lächerlich, bei einer Trainingsstunde zuzuschauen. Wäre es eine Vorführung gewesen, ja … aber ein Training?
Ein durchdringender Pfiff. Die Mädchen marschierten – wenn auch mit einer gewissen Grazie – am Beckenrand entlang. Dann sprangen sie, jeweils zu zweit, ins Tiefe. Die Trainerin zählte mit lauter Stimme, und die Schwimmerinnen vollführten dazu Figuren: Sie tauchten auf und unter, reckten Arme oder Beine in die Luft, schwammen im Kreis. Alles perfekt abgestimmt, aber nicht sonderlich spektakulär. Eher DDR-typisch. Gleicher Rhythmus, gleiche Bewegungen, keine Abweichung. Kraft und Disziplin – das Idealbild des neuen sozialistischen Menschen.
Ich seufzte. Was tat ich hier überhaupt? Wo ich doch Franziskas Leiterin nicht einmal erkannte …
Ich legte die Ellbogen aufs Geländer und starrte auf die dunklen Fenster gegenüber. Das gesamte Hallenbad spiegelte sich darin. Auch der junge Mann auf der Galerie. Er wollte nicht ins Bild passen, war viel zu dick angezogen, wusste nicht recht, wohin mit sich, fühlte sich nicht zugehörig – weder zur gespiegelten noch zur wirklichen Welt. Betrachtete die Schwimmerinnen unten, als wäre er Lichtjahre von ihnen entfernt.
Ist es das, was ich will, fragte ich mich: eine FDJ-Leiterin, die jede Woche zum Synchronschwimmen geht?
Nein, so schnell durfte ich nicht aufgeben!
Wo ist der kämpferische Julian geblieben?, würde Heike sagen, der Julian, der davon träumt, mich auf dem Moped hinten mitzunehmen, der in fremde Häuser einbricht, um für mich zu kochen und mit mir zu schlafen, dem es egal ist, was man hinter seinem Rücken tuschelt, der tut, was er will?
Ich schämte mich für den Gedanken, Heike gegen solch eine gesichtslose FDJ-Trine eintauschen zu wollen.
Die chlorgeschwängerte Luft machte mir das Atmen schwer, und ich schwitzte wie ein Stier.
Ich musste hier weg! Entschlossen griff ich nach meiner Jacke, wandte mich zum Gehen – und erschrak bis ins Mark.
Denn in der Tür der Galerie stand Wolfgang Wichser.
»Liebe Güte!«, stieß ich hervor. »Was willst du denn hier?«
»Mit dir reden.« Er grinste.
»Mit mir?«
Ich wollte an ihm vorbei, aber er vertrat mir den Weg.
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Ich bin dir nachgegangen.« Völlig gelassen sagte er das, als wäre es die normalste Sache der Welt. Als täte er das jeden Abend, rein zum Vergnügen.
»Scharfe Weiber, was?« Er machte eine Kopfbewegung zum Schwimmbecken.
»Was willst du von mir?«
Er zog die Tür hinter sich zu, sodass ich keine Möglichkeit mehr hatte, zu entkommen.
Die Trillerpfeife der Trainerin gellte mir in den Ohren.
»Dir einen Vorschlag machen.« Wieder dieses selbstgefällige Grinsen. »Einen, den du nicht ausschlagen kannst, das gebe ich zu.«
Ich verdrehte die Augen. Mannomann, was hatte ich diese Spielchen satt!
»Das Land ohne Genehmigung verlassen, ist illegal«, sagte er.
Ich wurde stocksteif.
»Drei Jahre Zuchthaus stehen drauf, das weißt du ja wohl.«
War er allein gekommen? Oder hatte er bereits die Stasi informiert und das Hallenbad war umstellt? Ich schwitzte noch stärker.
»Nun ja, jeder macht mal ’nen Fehler, nicht wahr?«
Wusste er, dass wir es versucht hatten, oder vermutete er es nur? Hatte er etwa doch mein Gespräch mit Veronika mitbekommen? »Ich melde das nicht, aber dafür erwarte ich natürlich eine Gegenleistung.«
Darum also ging es.
»Sagen wir so: Du gibst mir nächste Woche fünfhundert Mark, und dafür informiere ich die Stasi nicht.«
»Fünfhundert!«, entfuhr es mir. »So viel habe ich nicht.«
»Tss-tss«, machte Wolfgang kopfschüttelnd. »Also abgemacht?«
»Weißt du was: Du siehst Gespenster!« Ich machte eine wegwerfende Gebärde und versuchte, an ihm vorbeizugehen, doch er blockierte nach wie vor die Tür.
»Vielleicht. Ob es so ist, wird dann die Stasi herausfinden.«
Ich musste mich zusammenreißen, um ihn nicht in seine hämisch grinsende Visage zu schlagen.
»Wir sehen uns also kommende Woche. Du bringst fünfhundert Mark mit. Wohin, erfährst du noch rechtzeitig. Und mach ja keine Sperenzchen, ich behalte dich im Auge.« Nach diesen Worten drehte er sich um und ging.
Ich schnappte nach Luft. Was, um Himmels willen, war da gerade passiert?!