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EINUNDZWANZIG

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Mir blieb keine andere Wahl. Ich wusste nicht, wie ich sonst an eine solche Menge Geld kommen sollte. Jedenfalls nicht in kurzer Zeit. Und schon gar nicht seit dem Mauerbau. Ich klemmte das Paket fester unter den Arm und schritt zügig aus. Je schneller ich die Sache hinter mir hatte, desto besser.

Mit der U-Bahn fuhr ich zum Alexanderplatz. Schon auf der Treppe nach oben merkte ich, dass meine Hände klamm wurden. Ich stellte mich neben den großen Lebensmittelladen an der Ecke und ließ den Blick schweifen. Dass der Schwarzmarkt seit Kriegsende auf dem Alex angesiedelt war, wusste ich, hatte aber keine Ahnung, wie man dort Geschäfte anbahnte.

Um nicht unnütz herumzustehen, kaufte ich mir an einem Imbissstand ein Bratwurstbrötchen. Mit dem Brötchen in der einen Hand und dem Paket unter dem anderen Arm sah ich mich weiter um. Auf der anderen Seite des Platzes standen Leute beisammen, meist in Zweiergrüppchen. Jacken wurden aufgeklappt und Ärmel hochgeschoben, um den Interessenten Dinge wie Armbanduhren, Nylonstrumpfhosen, verpackte Lebensmittel und so weiter zu zeigen. Gegenstände wechselten blitzschnell den Besitzer, Geldscheine verschwanden ebenso schnell in Hosentaschen. Käufer und Verkäufer sahen einander dabei kaum an, redeten nur das Allernötigste. Die auffällige Unauffälligkeit, mit der all das geschah, reizte schon fast zum Lachen. Berlins Schwarzmarkt blühte jedenfalls nach wie vor.

Mutter hatte mich nach Kriegsende manchmal zum Alexanderplatz mitgenommen, der damals noch ein Trümmerfeld war. Ein Trümmerfeld voller Menschen, die auf lukrative Tauschgeschäfte aus waren. Auch russische und amerikanische Soldaten beteiligten sich mit Kaugummi und Tabak an dem Handel.

Mutter nahm meist Haushaltsgegenstände mit, die sie gegen Butter und Speck tauschte. Meine Aufgabe war es, sie am Ärmel zu ziehen, sobald sich jemand näherte, und zu jammern, ich hätte Hunger. Bei den Deutschen verfing diese Masche ebenso wenig wie bei den Russen. Die Amerikaner hingegen steckten mir öfter mal ein Stück Schokolade zu.

Heute aber ging es nicht um Schokolade. Heute brauchte ich Geld, viel Geld. Für dieses Arschloch von Wolfgang Wichser. Ich biss mir auf die Lippe, als ich an sein dreckiges Grinsen dachte.

Dann steckte ich das letzte Stück Bratwurst in den Mund und überquerte langsam den Platz. Wen sollte ich ansprechen? Wer hatte wohl genug Geld bei sich?

Ein Mann nahm Blickkontakt mit mir auf und kam näher, als ich ein Nicken andeutete. Er trug einen für die Jahreszeit viel zu warmen Mantel und hatte eine große Tasche geschultert.

»Marlboro, Nylons, Whisky …?«, nuschelte er, zündete sich eine Zigarette an und schaute von mir weg.

»Ich hab selber was zu verkaufen.«

Ein knappes Nicken.

Ich nahm das Paket unter dem Arm hervor und schlug das Tuch, in das ich meine roten Schuhe gewickelt hatte, ein Stück beiseite. »Westware«, fügte ich, überflüssigerweise, hinzu. »Nagelneu.«

Ich hatte sie so lange poliert, bis sie aussahen wie frisch aus dem Schaufenster am Ku’damm.

Seine Miene verriet nichts.

Ich wollte schon weggehen, da gab er ein zustimmendes Brummen von sich.

»Achthundert Mark.« Wahrscheinlich war der Preis viel zu hoch, aber ich musste aufs Ganze gehen.

Der Mann musterte mich flüchtig und zog an seiner Zigarette.

»Zweihundert.«

»Fünfhundert.«

Keine Reaktion. Ich schlug das Tuch wieder über die Schuhe und überlegte noch, ob ich besser gehen oder sein Angebot doch annehmen sollte, da schnippte er die Zigarette weg.

»In Ordnung.« Er zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche, zählte schneller, als ich schauen konnte, ein paar davon ab und drückte sie mir in die Hand. Ich gab ihm die Schuhe. Und noch ehe ich nachprüfen konnte, ob er mich auch nicht betrogen hatte, war er verschwunden.

Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte das Geld! So einfach war es also, an fünfhundert Mark zu kommen … mehr als ein Monatslohn. Keine zwei Minuten hatte das Ganze gedauert.

Plötzlich stand ein Junge vor mir, den ich überhaupt nicht hatte kommen sehen. Er mochte etwa sechzehn sein, war aber gut einen Kopf kleiner als ich und trug eine Strickjacke, die ihm viel zu groß war.

»Waren das Schuhe aus dem Westen?«, flüsterte er und trat noch einen Schritt näher.

Ich wich ein wenig zurück.

»Hast du Westkontakte?«, fuhr er fort, jetzt mit dringlicherem Tonfall.

Ich zog die Brauen hoch. »Seit die Grenze dicht ist, hat keiner mehr Westkontakte«, erwiderte ich.

»Aber es gibt doch Möglichkeiten …«

Mit einem Mal sah ich den Mann: In etwa fünfzig Metern Entfernung lehnte er an einem geparkten Auto und rauchte eine Zigarette. Und im Wagen saß ebenfalls ein Mann.

Jetzt hieß es aufpassen.

»Ich kenne keine solchen Möglichkeiten. Lass mich in Ruhe.« Brüsk wandte ich mich ab und ging davon.

Der Junge folgte mir nicht, und ich hörte auch keinen Motor anspringen. Dennoch schlug mein Herz wie wild, und ich musste mich zusammennehmen, um nicht zu rennen.

Am Stand des Wurstverkäufers blieb ich stehen und schaute über die Schulter. Der Junge schlenderte zum Rand des Platzes und bog um eine Ecke. Der Mann am Auto trat gerade seine Kippe aus und sagte etwas zu dem am Steuer, der daraufhin den Motor anließ und langsam in die Richtung fuhr, in welcher der Junge verschwunden war.

Erst jetzt merkte ich, dass ich die ganze Zeit die Hände zu Fäusten geballt hatte – die Geldscheine waren feucht von meinem Schweiß. Die Begegnung mit dem Jungen und seine Unvorsichtigkeit lehrten mich zweierlei. Erstens: Wenn Rolf und ich fliehen wollten, durften wir auf keinen Fall einen Dritten einbeziehen oder gar um Hilfe bitten, denn letztlich war niemandem zu trauen. Zweitens: Ich wollte unbedingt hier weg, sonst würde diese verdammte Paranoia mein ganzes weiteres Leben bestimmen, und ich würde mich immer wieder mit Gestalten wie Wolfgang Wichser herumschlagen müssen.

Höchste Zeit, dass Rolf und ich neue Pläne schmiedeten.

Grenzgänger

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