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ZWEIUNDZWANZIG

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Wir wussten es nicht. Wir wussten es einfach nicht.

Den ganzen Abend hatten wir zusammengesessen und überlegt, wie sich die Flucht bewerkstelligen ließe. Wir hatten sogar erwogen, die Mauer zu überfliegen. Aber woher ein Flugzeug nehmen? Mieten? Kapern? Selbst bauen?

Rolf hatte die Stirn in Falten gelegt – ein Gedankenspiel, nicht realisierbar.

»Wir müssen komplett anders denken als der Staat«, hatte ich gesagt. »Dann finden wir bestimmt eine Möglichkeit, die diese Sturköpfe übersehen haben.« Aber was für eine, das wollte mir auf die Schnelle nicht einfallen.

Über die Mauer klettern oder durch die Spree schwimmen kam nicht infrage. Nicht seit sie auf Flüchtlinge scharf schossen. Dass wir ein Risiko eingehen mussten, war klar, aber wenn schon, dann sollte unser Plan gute Erfolgschancen haben.

Die Sache mit der Kanalisation konnten wir vergessen, denn darauf würden sie nun ein besonderes Auge haben.

Einen Tunnel graben – das hatten wir als Nächstes erwogen. Material und Werkzeuge könnte ich mir auf den Baustellen beschaffen. Aber ich war kein Ingenieur, und Rolf ebenso wenig. Wir hatten beide keine Ahnung von Dingen wie Neigungsgrad, Grundwasserspiegel, Stützkonstruktionen und wie man sich unter der Erde orientieren konnte, damit der Tunnel dort endete, wo er sollte. Jemanden einweihen, der sich damit auskannte? Diesen Gedanken verwarfen wir gleich wieder, es wäre zu gefährlich gewesen.

Trotz allem wollte ich die Idee nicht aufgeben – irgendeine Möglichkeit musste sich doch finden!

Selbst bei der Arbeit konnte ich an nichts anderes mehr denken. Während ich Maurerkellen einsammelte, Eimer mit Wasser füllte und Zementsäcke schleppte, überlegte ich, was wir für einen Tunnel alles brauchen würden, und ließ meinen Blick über die herumliegenden Werkzeuge und das Baumaterial schweifen. Wir könnten die Sachen bei Nacht holen – ich wusste ja, was wo zu finden war. Dieser Gedanke verlieh mir so viel Energie, dass ich mit nie da gewesener Begeisterung Mörtel anmischte.

Nachts und sonntags, so stellte ich mir vor, würden wir graben und graben und graben. Dabei schwitzen und von Kopf bis Fuß dreckig werden. Dennoch würden wir unverdrossen weitermachen und unseren Tunnel Meter um Meter vorantreiben, immer näher zur Grenze hin, darunter durch und ein Stück in den Westen hinein. Und dann würde ich endlich vor Heike stehen …

Und wenn der Tunnel schon einmal da war, könnten auch Vater und Mutter ihn zur Flucht nutzen. Und Gudrun mit ihrer Familie. Dann wären wir wieder alle beisammen und keiner müsste sich nach den anderen sehnen. Dass mein Plan unversehens in Träumerei übergegangen war, fiel mir erst gar nicht auf. Ich merkte nicht, dass ich zu viel Wasser genommen hatte und der Mörtel zu dünnflüssig geworden war. Und ich merkte auch nicht, dass der Polier plötzlich neben mir stand und mein Tun stirnrunzelnd verfolgte.

»Niemöller!«

Ich fuhr zusammen.

»Sie sollen nach Feierabend zu Herrn Bormann ins Büro kommen.« Ohne meine Antwort abzuwarten, ging er wieder.

Nach Feierabend zum Chef … ach du grüne Neune! Mein Blick fiel auf den viel zu nassen Mörtel. Das würde Ärger geben!

Ich schüttete Pulver nach und rührte aus Leibeskräften. Was schwierig war, denn die Wanne war jetzt viel zu voll.

Womöglich hatte der Chef von meiner früheren Beschäftigung in Westberlin Wind bekommen?

Ich holte eine zweite Wanne und schöpfte mit einem Eimer einen Teil der Mischung um. Na, das hatte ich gründlich verpatzt.

»Beeilung, Niemöller!«, rief einer der Maurer mir zu. »Wir warten schon eine ganze Weile!«

Verflogen war der Tunneltraum und mit ihm alle Energie und Hoffnung.

Die Stunden zogen sich hin. Ich war froh, als der Polier endlich sagte, wir könnten Feierabend machen. In Windeseile zog ich mich um, rannte zu meinem Rad und dachte nicht mehr an Bormann.

»Niemöller!« Der Polier rief mir nach, als ich gerade in die Straße einbiegen wollte. Da fiel es mir wieder ein.

Sofort machte ich kehrt und steuerte das Büro des Chefs an.

»Warten Sie bitte einen Moment. Herr Bormann wird gleich da sein«, sagte eine junge Frau. Sie trug einen ziemlich kurzen Rock. Wenn sie sich vorgebeugt hätte, ohne dabei in die Knie zu gehen, hätte ich einen Blick auf ihren Schlüpfer erhaschen können. Sie führte mich in einen Nebenraum voller Bücher und ließ mich dort allein. In dem Raum standen keine Stühle, nur ein Sessel im Fenstererker. Ein Monstrum von einem Sessel, aus dem man so schnell nicht wieder hochkam, darum verzichtete ich darauf, mich zu setzen. Auch wenn es länger dauern sollte, bis Bormann zu erscheinen beliebte.

Ich ging hin und her und ließ dabei den Blick über die Buchregale schweifen. Da standen Fachbücher über Ingenieurwissenschaften, diverse Enzyklopädien, Jahresberichte des Ministeriums für Bauwesen und natürlich die obligatorischen Klassiker von Marx, Engels, Lenin und Konsorten, teils in russischen Ausgaben. Ob Bormann die alle gelesen hatte? Wahrscheinlich ebenso wenig wie ich, bis auf ein paar Passagen im Russischunterricht oder in Staatsbürgerkunde.

Viele der Bücher waren alt, stellte ich fest. Ich zog wahllos eines heraus, einen schmalen Band. Die U-Bahn Gesundbrunnen–Neukölln – Zur Eröffnung der Nordstrecke Neanderstraße–Gesundbrunnen am 18. April 1930 stand in Großbuchstaben auf dem Leinenumschlag. Typischer Regalfüller, dachte ich, blätterte aber dennoch darin herum. Es enthielt Bauzeichnungen und Tabellen mit genauen Angaben zu Bahnsteiglängen, Höhen der Tunnel und so weiter.

Tunnel … das Wort elektrisierte mich regelrecht. Die U-Bahnen fuhren durch Tunnel, die es bereits gab! Wir bräuchten also gar nicht selbst zu graben, sondern bloß eine Möglichkeit finden …

Ein Blick zum Regal. Da standen noch mehr Bücher über den U-Bahn-Bau. Ich zog ein zweites heraus.

»Aber sicher, Frau Lindner!«, hörte ich Bormanns Stimme hinter der Tür. Blitzschnell schob ich die beiden Bücher unter meine Jacke und wandte mich zur Tür um, durch die Sekunden später Bormann kam. Er nickte knapp und bedeutete mir, ihm in sein Büro zu folgen.

»Setzen Sie sich.« Er wies auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch und nahm in einem Sesselmonstrum Platz, wie es auch in der kleinen Bibliothek nebenan stand.

Und dann kam er auch schon zur Sache: »Der Meister hat mir gesagt, dass Sie Ihre Arbeit gut machen, meinte aber, die Maurer könnten auch ohne Ihre Hilfe auskommen.«

Dieser Auftakt verhieß nichts Gutes, trotzdem riss ich mich zusammen und hörte weiter zu. Denn am liebsten wäre ich aufgesprungen, weil ich mit meiner Beute zu Rolf wollte.

»Es verhält sich so, dass auf einer Großbaustelle an der Marchlewskistraße weitere Maurer gebraucht werden. Und weil Sie Erfahrung in diesem Beruf haben, will ich Sie dort einsetzen.«

Wie? Er wollte mich gar nicht entlassen? Sondern sogar befördern? Sodass ich künftig in meinem erlernten Beruf würde arbeiten können statt als Hilfskraft.

»Vielen Dank«, sagte ich zögerlich.

»Als Maurer bekommen Sie natürlich einen höheren Lohn. Frau Lindner hat bereits Anweisung, die nötigen Unterlagen auszufertigen.« Er lehnte sich zurück und betrachtete unser Gespräch anscheinend als beendet.

Ich bedankte mich noch einmal und stand auf, die Hand vor der Brust, damit die Bücher nicht unter der Jacke hervorrutschten.

In Frau Lindners Büro unterschrieb ich alle Papiere, die sie mir vorlegte, ohne sie durchzulesen. Weil ich möglichst schnell wegwollte. Ich hatte einen neuen Plan, nur das zählte jetzt.

Grenzgänger

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