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NEUNZEHN

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Die nächsten Tage vergingen, ohne dass jemand von der Stasi bei uns zu Hause oder an meiner neuen Arbeitsstelle auftauchte. Nichts deutete darauf hin, dass ich beschattet wurde, und – soweit ich das mitbekam – horchte keiner meine Eltern oder Franziska über mich aus. Alles ging seinen gewohnten Gang. Bald hatte ich wieder das Gefühl, die Tage verliefen wie immer: Aufstehen, Arbeiten, Essen, Lesen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten, Essen, Kartenspielen, Schlafen, Aufstehen, Arbeiten … Erst wollte ich nicht zulassen, dass die eintönige Routine mich einlullte und jeden Gedanken an etwas anderes erstickte. Aber die Alltagsmaschinerie war mächtig, so mächtig, dass ich nicht dagegen ankam und bald anfing, wieder in den gewohnten Mustern zu denken, und mein Leben als normal empfand.

An einem Mittwochabend ging ich mit meinen Eltern in das ehemalige Gemeindehaus unseres Viertels, wo Franziskas FDJ-Gruppe ihre monatlichen Zusammenkünfte hatte. Diesmal sollte Franziska von ihrem Ernteeinsatz berichten, und das wollte Mutter auf keinen Fall verpassen. Vater und ich begleiteten sie, ich ziemlich widerwillig, er vermutlich genauso ungern. Ich hatte keine Lust, mir stundenlang politisches Gerede und Kampflieder anzuhören, aber Mutter bestand darauf, dass wir zu dritt hingingen. »Wir müssen Franziska zeigen, dass es uns interessiert, was sie so macht. Vor allem du, Julian, tätest gut daran, sie etwas mehr zu unterstützen, zu dir als großem Bruder schaut sie auf. Als sie vom Ernteeinsatz zurückkam, hast du kaum zugehört, was sie erzählt hat.«

Ich hatte die Augenbrauen hochgezogen und etwas erwidern wollen, aber da hatte Mutter sich schon weggedreht. Ich war mir sicher, dass es nur einen Grund gab, weshalb Franziska sich über mein Kommen freuen würde: weil sie genau wusste, dass mir dieser ganze FDJ-Zirkus auf die Nerven ging und ich nur gezwungenermaßen da war.

Im Saal war es nicht sonderlich voll, aber trotzdem warm und stickig. Vorn war ein kleines Podium aufgebaut, und an der Wand dahinter hing ein großes blaues Tuch mit gelb bemalten Buchstaben aus Styropor: Das Vaterland ruft! Schützt die Republik! Zu beiden Seiten prangte die blaue FDJ-Fahne mit dem gelben Emblem der aufgehenden Sonne. Auf dem Podium selbst standen drei Stühle und ein Rednerpult. Daneben eine niedrige Turnbank und davor optimistisch viele Stühle. Die ersten zwei Reihen waren bereits von FDJlern belegt, alle piekfein in Uniform. Vater setzte sich in die vorletzte Reihe, und ich nahm neben ihm Platz. Ich sah Mutter an, dass sie lieber weiter vorn gesessen hätte, aber um des lieben Friedens willen schwieg sie. Außer uns waren noch einige weitere Erwachsene da – Eltern vermutlich, und eine Handvoll Lehrer, die aber längst nicht alle vorhandenen Plätze füllten. Der Saal würde wohl zur Hälfte leer bleiben. Die Tür rechts neben dem blauen Tuch stand einen Spalt offen. Hin und wieder spähte ein Mädchen hindurch, sichtlich aufgeregt. Hoffentlich kam Franziska fast um vor Nervosität …

Das Programm begann um Punkt acht. Eine Gruppe Mädchen kam herein. Sie trippelten zur Turnbank und bildeten Reihen, eine darauf und eine davor. Zwei Männer in Anzügen mit gut sichtbarem Hammer-und-Zirkel-Anstecker am Revers und Ledermappen unterm Arm nahmen auf dem Podium Platz.

Die junge FDJ-Leiterin trat ans Rednerpult: »Ich entbiete euch den Gruß der Freien Deutschen Jugend: Freundschaft!«, rief sie in den Saal. Die FDJler in den ersten Reihen sprangen auf und riefen ebenfalls »Freundschaft!«

Nach dieser Begrüßung fuhr die Leiterin fort: »Vor Kurzem hat die Partei uns, der Freien Deutschen Jugend, einen Kampfauftrag erteilt. Einen Auftrag, für den Frieden einzutreten und die Grenzen unseres Landes zu sichern. Aufzustehen gegen die faschistischen Kriegstreiber und die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus. Jetzt ist es an uns, alle Kräfte zu bündeln! Das Wohl der Arbeiterklasse ruht auf unseren Schultern! Vierundzwanzig Mitglieder unserer Einheit verstärken inzwischen die Grenztruppen. Sie versehen ihren Dienst hier, in Berlin, am antifaschistischen Schutzwall, der unsere Republik vor dem verderblichen Einfluss des Kapitalismus schützt. Sie gehören nun zu den bewaffneten Kräften der Deutschen Demokratischen Republik und damit zu den unbesiegbaren Streitkräften des sozialistischen Lagers, an deren Spitze die stärkste Armee der Welt, die ruhmreiche Armee der Sowjetunion, steht. Diese Streitkräfte werden jedem imperialistischen Aggressor, der versuchen sollte, die Deutsche Demokratische Republik anzutasten, einen tödlichen Schlag versetzen!« Sie sprach, als stünde sie vor einem ganzen Stadion voller Zuhörer. Ihre Augen leuchteten, und ihre Stimme klang laut und sicher. »Aber auch an anderen Fronten tragen wir das Unsere bei. Der Ernteeinsatz, an dem fünf aus unseren Reihen teilgenommen haben …«

Ich hörte nicht weiter hin. Reden wie diese hatte ich schon zur Genüge im Radio gehört. Stattdessen beobachtete ich, wie sich beim Gestikulieren immer wieder andere Teile ihrer blauen Uniformbluse spannten. Auf wundersame Weise betonte das Kleidungsstück, das an Franziska wie ein Lappen wirkte, ihre Körperformen. Ich schätzte, dass die Bluse gut zwei Nummern zu klein war, denn ihr Busen zeichnete sich voll und rund unter dem Baumwollstoff ab. Und sie hatte – vermutlich mit Bedacht – die oberen Knöpfe nicht geschlossen, sodass der Spalt zwischen ihren Brüsten gut zu sehen war. Jetzt hätte ich doch gern ein paar Reihen weiter vorn gesessen. Dann könnte ich sehen, wie die Schweißtropfen von ihrem Hals Rinnsale bildeten, die langsam in den Ausschnitt sickerten.

Ihre Einleitung war aber zu Ende, ehe ich mir Gedanken machen konnte, ob sie einen BH trug oder nicht. Sie setzte sich auf den dritten Stuhl auf dem Podium, und die Mädchen auf und vor der Turnbank, die den Chor bildeten, stimmten ein Kampflied an.

Danach berichteten mehrere FDJ-Mitglieder von ihrem Engagement. Ein achtzehnjähriger Junge, der sich als Freiwilliger zu den Grenztruppen gemeldet hatte, den Kampfauftrag als persönlichen Appell sah und stolz war, als »Soldat des Volkes« zu dienen. Ein Mädchen, das für sein großes Wissen über heimische Tiere und Pflanzen mit einer Medaille ausgezeichnet worden war. Und schließlich Franziska, die erstmals als Erntehelferin ihrer sozialistischen Pflicht nachgekommen war.

Mutter setzte sich aufrechter hin, als Franziska ans Pult trat. Sie hatte ihre Rede auswendig gelernt – die letzten Tage hatte ich sie immer wieder üben hören, wenn ich an ihrem Zimmer vorbeiging. Selbstsicher blickte sie in den Saal und schilderte mit beredten Worten ihren Einsatz. Man merkte deutlich, dass die Leiterin ihr Instruktionen gegeben hatte, aber mir schien auch, dass die Sache ihr wichtig war, dass sie aus Überzeugung sprach. Franziska war gern bei der FDJ, weil sie das Zusammengehörigkeitsgefühl genoss, das wusste ich.

Plötzlich wurde mir klar, dass ich sie genau darum beneidete. Dass ich deshalb ungern zuhörte, wenn sie zu Hause von ihren Erlebnissen erzählte, und dass ihr Eifer mich nervte. Im Grunde ging es gar nicht um die Werte, die Franziska propagierte, sondern darum, dass sie Teil einer Gruppe war und ich nicht. An dem Tag, an dem ich bei Reitmann & Sohn anfing, hatte ich mich selbst ins Abseits gestellt. Ins politische und gesellschaftliche Abseits. Ich war ein Ausgestoßener. Die Schulkameraden von früher hatten sich von mir abgewandt. Nach ihrer Zeit bei der FDJ hatten sie sich Arbeit in ostdeutschen Betrieben gesucht, sie gingen mit ihren ostdeutschen Kollegen in die Kneipe, hatten ostdeutsche Freundinnen und schimpften auf die Profiteure im Westen. Und ich wiederum hatte auf sie herabgesehen und mir jenseits der Grenze Freunde gesucht.

Die Rede meiner Schwester war beendet, und Mutter applaudierte ebenso begeistert, wie Franziska vorgetragen hatte. Ich klatschte automatisch mit, bis der Chor wieder zu singen begann.

Manchmal hatte ich das Gefühl, die Mauer enge nicht Berlin ein, sondern mich. Ich hatte keinen Zugang mehr zu meinem alten Leben, fand aber auch keinen zu dem in der DDR.

Die Leiterin stand auf und kündigte einen weiteren Liedvortrag an. Ein etwa sechsjähriges Mädchen betrat das Podium und fing an zu singen, ganz ohne Begleitung. Eine zarte Melodie mit zarter Stimme.

Ich könnte mich doch auch hier verlieben, dachte ich. Ein Mädchen wie Heike müsste auch in diesem Teil der Stadt zu finden sein. Und nach einiger Zeit würden die Leute vergessen, dass ich je Grenzgänger gewesen war. Ich würde mit meinen Ostkollegen in Ostkneipen gehen – alles ganz normal –, schließlich war ich Ostler. Genau das hatte Paula angesprochen, und auch Heike war es gleich aufgefallen. Vielleicht hatte ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht und gehörte doch hierher. Auf Dauer konnte ich mich ja nicht nach etwas Unerreichbarem sehnen, damit machte ich mich nur unglücklich. Viel einfacher wäre es zu tun, was von mir verlangt wurde, zu denken, was man zu denken hatte, und auf etwas Erreichbares zu hoffen. Vielleicht wäre ich auf diese Weise irgendwann, so wie Franziska, davon überzeugt, dass genau das richtig für mich war.

Die Kleine bekam viel Beifall. Die Leiterin nahm sie kurz in den Arm und schickte sie dann an ihren Platz zurück.

Zum Abschluss erhoben sich alle FDJler von ihren Plätzen, riefen »Freundschaft!« und sagten dann den Schwur auf, der zum Aufruf der Partei gehörte: »Wir sind bereit und entschlossen, unsere sozialistische Republik, die friedliche Arbeit ihrer Bürger, das unbeschwerte Lachen der Kinder und die glückliche Zukunft der jungen Generation mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Jeder junge Bürger unserer Republik ein Bürge für ihre Sicherheit! Der Frieden muss bewaffnet sein!«

Könnte mein Leben nicht auch so aussehen? Im Osten, wo ich nun einmal verwurzelt war. Auch wenn hier nicht alles perfekt war … aber das war es im Westen ja auch nicht, oder?

Die Chormädchen, die Männer, die Leiterin und auch Franziska verschwanden durch die Tür, und schon redeten und riefen alle durcheinander. Mutter wollte auf Franziska warten, doch die sah offenbar keinen Anlass sich zu beeilen.

»Ich hole sie rasch«, bot ich an.

Mein höfliches Klopfen hörte keiner, darum öffnete ich die Tür einen Spalt und steckte den Kopf durch.

»Was wollen Sie?« Die Leiterin stand vor mir.

»Ich wollte nur fragen, ob meine Schwester fertig ist. Franziska Niemöller …«

Sie hatte noch einen weiteren Blusenknopf aufgemacht. Ich musste schlucken und hob rasch den Blick weg vom Busen zu ihrem Gesicht. »War ein schöner Abend«, sagte ich. »Sie haben sehr gut gesprochen. Ich wollte, ich könnte das auch.« Und als sie eine freundlichere Miene machte, fügte ich hinzu: »Sehr inspirierend.«

»Danke.« Sie hielt den Kopf ein wenig schräg. »Franziska hat auch Talent, eine gute Sprecherin zu werden. Ich habe ihr für den Vortrag ein paar Tipps gegeben.«

»Franziska bewundert Sie sehr.« Ich hatte keine Ahnung, ob meine Schwester je etwas dergleichen gesagt hatte.

»Ja, sie will auch synchronschwimmen, so wie ich.« Sie drehte eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

»Synchronschwimmen! Ein faszinierender Sport! Davon hat sie noch gar nicht erzählt.«

Die junge Frau lächelte geschmeichelt.

»Wir trainieren jeden Donnerstagabend im Stadtbad Mitte«, sagte sie. »Vielleicht haben Sie ja Lust, mal zuzuschauen?« Bevor ich etwas antworten konnte, tauchte auch schon Franziska auf.

»Du hättest nicht auf mich zu warten brauchen«, sagte sie patzig und drängte sich an mir vorbei.

»Mutter wollte warten!«, rief ich ihr nach, sagte rasch »Auf ein andermal« zu der Leiterin und folgte meiner Schwester.

Grenzgänger

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