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ZWÖLF

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Ich würde sie finden, die Schwachstelle, die sie übersehen hatten. Immer wieder ging ich an der Grenze entlang, schätzte den Abstand zwischen den Bewachern, versuchte herauszufinden, ob sie nach einem bestimmten Muster patrouillierten, merkte mir, wo Hunde eingesetzt wurden und wo noch Bauarbeiter beschäftigt waren.

Fast täglich berichtete das Westradio von Fluchtversuchen. In der DDR wurde darüber geschwiegen. Nur wenn es Zeugen gegeben hatte, stand in der Zeitung eine Kurzmeldung, von wegen, dass wieder ein Spion versucht habe, sich in den kapitalistischen Westen abzusetzen. Die meisten Fluchtversuche, so schien es mir, waren nicht gut geplant, sondern Verzweiflungstaten. Die Leute versuchten, über die Mauer zu klettern oder durch den Kanal zu schwimmen, und gingen damit ein hohes Risiko ein. Ich würde es anders machen, würde einen ausgeklügelten Plan entwerfen, der gute Chancen auf Erfolg hatte.

An vielen Stellen war die Mauer inzwischen mannshoch und versperrte den Blick in den Westen. Drüben hatte man hier und da Holzplattformen gebaut, auf denen Leute standen, die riefen und winkten. Oder einfach nur herüberschauten. Ich ignorierte sie, weil sie mich nervös machten. Die Grenzwächter hingegen behielten sie mit Ferngläsern im Auge und warfen, wenn sie provoziert wurden, mit Steinen. Als ich auf einem der Podeste Männer mit Filmkameras erspähte, brachte ich mich rasch außer Sichtweite.

Ein Stück weiter war die Mauer niedriger; dort konnten Ost und West einander noch in die Augen schauen. Ich sah ein Brautpaar auf der Westseite, weinend und mit ausgestreckten Armen. Und hier, auf unserer Seite, ein Grüppchen in Festtagskleidung. Der Grenzer schaute sich verstohlen um und dann demonstrativ weg. Sofort gingen die Ostler bis zur Mauer und fassten darüber hinweg die Hände der Jungverheirateten. Eine Hand mit einem Ring wurde in die Höhe gehalten. Ich sah, wie es im Gesicht des Grenzers zuckte. Offenbar war ihm klar geworden, was diese Mauer anrichtete. Nach ein paar Minuten jedoch wurde er unruhig und forderte die ostdeutsche Familie mit barschen Worten auf zurückzutreten.

In der Bernauer Straße, so hatte ich gehört, verlief die Grenze unmittelbar an den Häusern entlang. Die Häuser selbst gehörten zum Osten, der Bürgersteig davor aber zum Westen. Ich folgte der Ruppiner Straße bis zur Kreuzung mit der Bernauer Straße und sah eine schulterhohe Absperrung. In einiger Entfernung von den Grenzwächtern blieb ich stehen, den Blick auf das vierstöckige Eckhaus gerichtet. Im Erdgeschoss befand sich eine Eisenwarenhandlung, deren Zugang auf der Westseite lag. Der Laden war leer geräumt. Mir fiel ein Kellerschacht auf. Ein Kellerschacht im Osten … und ein Zugang im Westen …

Mir kam eine Idee, nebulös noch, aber ehe sie Form annehmen konnte, fuhren zwei Lastwagen vor, einer mit Soldaten, der andere leer, und hielten vor dem Haus, das ich im Visier hatte. Die Soldaten sprangen herab und liefen in das Gebäude. Ich trat ein paar Schritte zurück und sah, dass drüben im Westen etliche Schaulustige stehen geblieben waren.

Bald kamen die Soldaten wieder aus dem Haus. Sie schleppten Möbel, die sie auf die Lastwagen luden. Ihnen folgten die Bewohner, viele mit Koffern. Sie wurden aufgefordert, die Wagen zu besteigen.

»Hier ist es gefährlich, aber wir bringen Sie in Sicherheit, Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte einer der Männer zu einer alten Frau. Sie schien seine Worte gar nicht wahrzunehmen, blieb mitten auf der Straße stehen und starrte wie abwesend das Haus an.

Zu gefährlich, dachte ich, zu gefährlich für unseren Staat. Zu gefährlich, weil diese Leute versuchen könnten zu fliehen. Ich biss mir auf die Lippe.

Hinter der alten Frau waren noch mehr Personen aus dem Haus gekommen, alle mit bedrückten Gesichtern. Es fiel ihnen sichtlich schwer, ihr Zuhause zu verlassen. Ein kleines Mädchen auf dem Arm seiner Mutter kreischte in den höchsten Tönen: »Felix! Felix!« Und es streckte die Ärmchen in Richtung Haustür.

Die Mutter versuchte, das Kind zu beschwichtigen. »Felix wird bald bei uns sein, Liebes. Ganz bestimmt.«

Aber die Kleine war untröstlich.

»Wir kommen jeden Tag her und schauen nach, ob er da ist«, versprach die Mutter. Dann half ein Soldat ihr auf den Lastwagen.

Mit einem Mal entstand jenseits der Mauer Unruhe. Die Leute, die sich dort eingefunden hatten, blickten alle in die Höhe.

Ich ebenso. Und auch die Grenzwächter.

An einem Fenster im dritten Stock bewegte sich etwas. Ich konnte aber nicht genau sehen, was dort passierte. Ein Grenzer machte den Soldaten ein Zeichen. Daraufhin stürmten zwei von ihnen ins Haus. Von Westen her aufgeregte Rufe. Ein Feuerwehrauto fuhr drüben vor. Was war da los? War Feuer ausgebrochen? Ich sah weder Flammen noch Rauch, und es lag auch kein Brandgeruch in der Luft. Weil die Grenzwächter weiterhin nach oben starrten, wagte ich mich etwas näher heran und bemerkte, dass die Feuerwehrleute ein Sprungtuch ausbreiteten. Als ich den Blick wieder hob, sah ich sie: eine alte Frau, die im dritten Stock auf den Fenstersims geklettert war. Zu springen traute sie sich aber nicht, obwohl die Zuschauer sie anfeuerten. Sie blickte in die Tiefe und dann über die Schulter in ihre Wohnung. Hinter ihr erschien ein Arm in Uniform, der die Frau packte. Die Soldaten versuchten anscheinend, sie vom Fenster wegzuziehen. Die alte Frau setzte sich zur Wehr, verlor das Gleichgewicht und fiel. Fiel neben das Sprungtuch.

Ich hatte den Aufprall nicht gesehen, wohl aber gehört.

Oben steckte ein Soldat den Kopf aus dem Fenster, zog ihn aber gleich wieder zurück.

Die Grenzwächter gestikulierten aufgeregt zu den Lastwagen hin, die sogleich losfuhren, damit die Nachbarn der alten Frau nichts mehr von dem Drama mitbekamen.

Dann bemerkte einer von ihnen mich und gab mir mit einer Gebärde zu verstehen, ich solle machen, dass ich fortkomme. Wie betäubt drehte ich mich um und ging davon.

Tags darauf ging ich wieder zu dem Haus, um mir noch einmal zu vergegenwärtigen, was da geschehen war. Und dass ich einen Plan brauchte, einen wasserfesten Plan. Auf keinen Fall durfte Verzweiflung meine Triebfeder sein.

Schon von Weitem sah ich die Bauarbeiter. Sie trugen Steine und Zement ins Haus, um die nach Westen gerichteten Fenster zuzumauern. Der Kellerschacht war bereits verschlossen. Und damit war die Fluchtmöglichkeit, die ich ins Auge gefasst hatte, dahin.

Grenzgänger

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