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Zur Entwicklung der Islam-Forschung seit dem 19. Jahrhundert

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Die Wahrheit der Geschichte über die unbesiegbaren arabischen Armeen, die von Mekka aus nicht nur die arabische Halbinsel, sondern auch den ganzen Mittleren Osten eroberten, wurde nie angezweifelt, obwohl allgemein bekannt ist, dass die schriftliche Berichterstattung darüber erst Jahrhunderte später verfasst wurde. Aus der Anfangszeit gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen und keinen Widerhall in nichtmuslimischen Quellen. Das ist schon deshalb merkwürdig, da es in dieser Region eine hoch stehende Schriftkultur gegeben hat und zum Zweck der Machtsicherung Kriegsgewinner ihren errungenen Sieg normalerweise recht schnell dokumentieren ließen. Über zwei Jahrhunderte aber mussten sich muslimische Historiker nach islamischer Tradition mit mündlichen Überlieferungen begnügen. Es ist möglich und hat einige Plausibilität für sich, dass eine so spät aufgeschriebene Geschichte dann mit den tatsächlichen Ereignissen Jahrhunderte vorher nicht mehr viel gemeinsam hat. Man muss sich zumindest mit diesen Gedanken auseinandersetzen, dass es so sein könnte. Wenigstens Zufügungen, Glättungen und Vergröberungen der Darstellung sind zu erwarten. Es ist dabei in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen, dass sogar eine Fassung der Geschichte entstanden sein könnte, die vor allem die religiösen und politischen Verhältnisse 200 Jahre später widerspiegelt und legitimiert, indem sie die Geschichte so erzählt, dass es für die aktuellen Herrscher 200 Jahre später „passt“. Zumindest wäre es angebracht, neben der Darstellung aus islamischer Sicht nichtislamische Quellen (Inschriften, Münzen, schriftliche Zeugnisse, archäologische Funde) sowie den kulturellen, religiösen, politischen und sprachgeschichtlichen Kontext unabhängig der traditionellen islamischen Geschichtsschreibung zu untersuchen.

Manche Gläubige wollen davon nichts wissen. Für viele muslimische Gelehrte stellen die westlichen wissenschaftlichen Kriterien vielfach schon eine Provokation dar. Für sie ist ein historisch-kritischer Zugang nur ein Versuch, den Islam als Religion abzuwerten oder gar zu zerstören. Eine textkritische Beschäftigung mit den geschichtlichen Quellen und mit ihrem heiligen Buch, dem Qur’ân, wird grundsätzlich abgelehnt. Es sei denn, man hält sich an die vom Propheten selbst oder seinen Nachfolgern überlieferten Belehrungen. Der Qur’ân sei nicht dazu da, „um an den göttlichen Text spekulative Tüfteleien anzuknüpfen“9. Da gelte vielmehr das Wort des Qur’âns: „Und wenn du solche siehst, die über unsere Zeichen grübeln, so wende dich von ihnen ab“ (Sure 6,67).

Die Islamwissenschaft als Teilbereich der Orientalistik10 befindet sich daher heute in keiner einfachen Situation. Sie muss sich wie moderne muslimische Gelehrte orientieren zwischen der Freiheit der Wissenschaft und Forschung und dem gesellschaftspolitischen und religiösen Druck, am vorgegebenen Konsens und den ungeschriebenen Gesetzen festzuhalten (keine Infragestellung der Offenbarung an Muḥammad, des Qur’âns und der Darstellung der arabischen Geschichte).

Ein Blick in die Geschichte der deutschsprachigen Islam-Forschung macht deutlich, dass es diese Zurückhaltung nicht immer gab. Mitte des 19. Jahrhunderts befindet sich das Osmanische Reich im Verfall. Immer mehr Teile des vormals stolzen Reiches wurden von anderen Staaten erobert. 1830 erkämpften die Griechen ihre Freiheit, im selben Jahr fiel Algerien an Frankreich, 1881 auch Tunesien. 1877 wurden die Türken vom Balkan verdrängt und die Russen eroberten die Krim sowie das schwarze Meer. Das Fortbestehen des Osmanischen Reiches (des „kranken Mannes am Bosporus“, wie es hieß) war zunehmend von den europäischen Mächten abhängig. Zudem schwächten innerislamische Konflikte das Reich: So gelangten die Wahabiten, eine fundamentalistische Gruppierung innerhalb des Islams, auf der arabischen Halbinsel an die Macht und gründeten später das „Königreich Saudi-Arabien“.

Mit der Aufmerksamkeit Europas für diese Region wurde der Islam im 19. Jahrhundert unter europäischen, besonders deutschen Gelehrten Thema. Orientalische Studien an den europäischen Universitäten hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Erforschung der arabischen Sprache und Literatur, also mit Philologie, befasst11. Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt die historische Methode Einzug in die orientalische Philologie, so dass sich einige Forscher neben der Literatursichtung, der Textsammlung und -rekonstruktion auch historischen Themen zuwandten. Aufgrund des geschichtsbezogenen Denkens wurde der Qur’ân nun gründlich auf seine Quellen hin untersucht12. Insbesondere Gelehrte jüdischer Herkunft verbanden die aufkommende historisch-kritische Forschung mit der ihnen aus der jüdisch-rabbinischen Tradition vertrauten Auslegungsweise religiöser Texte.

Der spätere Wortführer des deutschen Reformjudentums, Abraham Geiger (1810–1874), gilt als Begründer der modernen, die historische Fragestellungen aufnehmenden Islamwissenschaft. Er hatte als junger Mann neben Hebräisch, Griechisch und Latein auch die Sprachen gelernt, die dem Qur’ân zugrunde liegen: Syro-Aramäisch und Arabisch. 1833 veröffentlichte Geiger ein Werk mit dem Titel: „Was hat Muḥammad aus dem Judenthume aufgenommen?“, in dem er mit Hilfe der historischen Quellenkritik den Anteil jüdischer Texte am Qur’ân nachwies. Indem Geiger den Qur’ântext dem biblischen Text vergleichend gegenüberstellte, legte er zugleich erste Grundlagen einer vergleichenden Religionswissenschaft13. Seine ungeheure Kenntnis der jüdischen Schriften sowie der arabischen Sprache schuf ein wegweisendes Buch zu einem textkritischen Verständnis des Qur’âns.

Noch wichtiger für den historischen Zugang innerhalb der Islamwissenschaft waren die Veröffentlichungen von Gustav Weil (1808–1889). 1843 erschien seine Muḥammad-Biographie, ein Jahr später seine „Historisch-kritische Einleitung in den Koran“14. Mit seinem dreibändigen Werk über die „Geschichte der Chalifen“ (1862) wurde zum ersten Mal auch der historisch-politische Kontext des Orients in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Ausführungen gerückt.

So entwickelte sich in dieser Zeit eine kritische Islam-Forschung, die sich mit dem Qur’ân, mit dem Leben Muḥammads und mit der Mentalität seiner Anhänger auseinandersetzte. Damals durfte man noch den Islam und seine Quellen vorbehaltlos untersuchen, ohne beschuldigt zu werden, eine fremde „westliche“ Methode (die historisch-kritische Methode) anzuwenden. Besonders die Möglichkeit, in den Nahen und Mittleren Osten zu reisen, eröffnete neue Erkenntnisse und Einblicke in Strukturen, Mentalitäten, in Sprachen und Kulturen der Region. Völkerkundler, Anthropologen, Sprachwissenschaftler näherten sich dem Islam als Religion und Kultur auf eine ganz neue Weise an.

Diese Möglichkeit des Reisens nutzte Ignaz Goldziher (1850–1921), der ebenfalls zu den Begründern der modernen Islamwissenschaft gezählt wird. Seine Forschungsreisen führten ihn nach Damaskus, Jerusalem und Kairo. Als Kind einer jüdischen religiösen Familie studierte er Thora und Talmud, bevor er dann an die europäischen Universitäten kam. Mit seinen „Muhammedanischen Studien“ bahnte er den weiteren Forschungen von den Sprachen und Kulturen des Orients ihren Weg. Goldziher untersuchte mit den Methoden der Bibelwissenschaft die islamischen Quellen, d.h. er untersuchte die Text- und Redaktionsgeschichte wie die Form der Texte, die Begriffs- und Motivgeschichte und auch den sozialen, kulturellen und politischen Kontext der Gesellschaft, in der die Texte entstanden sein sollen.

Er war auch der erste, der darauf aufmerksam machte, dass der Qur’ântext, auf den sich die islamische Auslegung bezog, alles andere als gesichert war. So stellte Ignaz Goldziher in einem Vortrag im Jahr 1900 an der Sorbonne, der Universität in Paris, aufgrund seiner Forschungen fest: „Je weiter wir in der kritischen Prüfung der frühen Dokumente des Islams vorankommen, (…) desto mehr können wir uns davon überzeugen, dass die muslimische Tradition (Ḥadîṯ), die nach dem Koran unsere zeitlich älteste Informationsquelle darstellt, nur in geringem Maße uns in die frühe Kindheit des Islams zurückführt“15.

Neben Ignaz Goldziher war es vor allem sein Freund Theodor Nöldeke (1836–1930), der durch seine Forschungen zu einem der bedeutendsten deutschen Orientalisten wurde. Wie seine Vorläufer Geiger und Weil lieferte Nöldeke eine „Geschichte des Qorâns“ (1860). Diese Arbeit wurde zum Grundlagenbuch der Islam-Forschung und gilt bis heute als ein anerkanntes Standardwerk. Ihm kam es nicht mehr darauf an, nur philologisch zu arbeiten, sondern er verstand sich bewusst als Historiker16. Damit kam er dem allgemeinen Interesse an Geschichte und historischen Abläufen entgegen: Die Frühgeschichte des Islams war in dieser Zeit nicht nur auf wenige Spezialisten beschränkt, sondern „entsprach vielmehr einem allgemeinen akademischen Bedürfnis nach Aufklärung über den Islam“17. Aufgrund der besonderen Anerkennung, die Nöldeke zuteil wurde, wurde aber auch seine These über die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der arabischen Tradition als unumstößliche Prämisse aufgenommen. Diese Prämisse, dass der Qur’ântext im großen und ganzen von Muḥammad selbst stamme, prägt bis heute die westliche Islamwissenschaft sowie die Allgemeinbildung durch Lexika und Nachschlagewerke und hat auch die im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Qur’ânübersetzung von Rudi Paret stark beeinflusst.

Weitere bedeutende Historiker unter den deutschen Orientalisten waren zum einen Julius Wellhausen, der sich auch um die alttestamentlichen Wissenschaften verdient gemacht hat. Auch er sah in der historisch-kritischen Methode die Möglichkeit, den Ursprüngen der Religionen auf die Spur zu kommen. Zum anderen Aloys Sprenger (1813–1893): Er nutzte wie Goldziher ebenfalls die historisch-kritische Methode, um das Leben Muḥammads darzustellen. Sein dreibändiges Werk „Das Leben und die Lehre Mohammad nach bisher größtenteils unbenutzten Quellen“ erhielt noch im 19. Jahrhundert zusammen mit Nöldekes „Geschichte des Qorâns“ den renommierten Preis der französischen Akademie der Wissenschaften, so bedeutend waren ihre Arbeiten.

Die herausragende Stellung der deutschsprachigen Forschung führte dazu, dass Deutsch neben Arabisch zeitweilig zur zweitwichtigsten Sprache der Orientalistik wurde. Wissenschaftliches Arbeiten zum Thema Islam in deutscher Sprache wurde noch durch den Umstand unterstützt, dass das Deutsche Kaiserreich keine arabischen Kolonien besaß, so dass das Verhältnis zu den Muslimen in jener Zeit vergleichsweise unbelastet war.

Andere Forscher gingen den von Geiger, Weil, Nöldeke, Goldziher und Sprenger u.a. eingeschlagenen Weg weiter. Heinrich Speyer (1897–1935) legte in seinem religionswissenschaftlichen Vergleich eindruckvoll dar, wie viele biblische Erzählungen im Qur’ân aufzufinden sind, nicht nur aus dem Kanon des Alten und Neuen Testamentes, sondern auch aus apokryphen Schriften, d.h. vom rabbinischen Judentum wie den christlichen Kirchen nicht anerkannten Schriften.

Das gemeinsame syrische Erbe erkannten einige Forscher insbesondere an den sprachlichen Verwandtschaften bzw. Einflüssen. Alphons Mingana (1881–1937), Christ ostsyrischer Prägung, untersuchte den syrischen Einfluss auf den Sprachstil des Qur’âns und konnte zahlreiche syro-aramäischen Hintergründe nachweisen. Er ging beim fremdsprachlichen Anteil im Qur’ân von einem syro-aramäischen Anteil von nahezu 70 % aus. Der schwedische, deutsch schreibende Orientalist und Religionswissenschaftler Tor Andrae (1885–1947), ehemals Dozent in Uppsala, war es schließlich, der in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine erste systematische Darstellung des Einflusses des syrischen Christentums auf den Islam in Bezug auf Sprache und Theologie schrieb18. Arthur Jeffrey (1893–1959) legte ergänzend ein Buch vor, in dem er alle fremdsprachlichen Worte und Begriffe veröffentlichte, die nicht arabischen Ursprungs sind.

Wie in der Bibelwissenschaft wurde damit auch die Orientalistik und insbesondere die Islamwissenschaft mit den historischen Fragestellungen vertraut. Dennoch war den meisten Forschern jener Zeit die Aufnahme des kulturellen, politischen und sozialen Kontextes in die Überlegungen zur Geschichte des Qur’âns zu modern19. Die Dominanz der Philologie blieb wie bisher bestehen. Nach Darstellung von Michael Marx, einem der wissenschaftlichen Mitarbeiter am Seminar für Semitistik und Arabistik an der FU Berlin und zurzeit am Langzeitprojekt einer kritischen Qur’ânausgabe beteiligt, kam es so zu einer „tragischen Entwicklung“. Arabisten, Judaisten, Aramaisten, Theologen und Sprachwissenschaftler hätten sich zwar mit dem Zeitraum zwischen dem 5. und dem 9. Jahrhundert beschäftigt, aber jeder verfolge nur den jeweiligen Ausschnitt seines Faches im Nahen Osten. Marx stellt im Rückblick auf die Forschungsgeschichte im 20. Jahrhundert fest: „Fragen zur Geschichte der verschiedenen Lesarten des Koran und zur Textüberlieferung in den Manuskripten, die von Nöldeke und seinen Schülern systematisch angegangen worden waren, wurden nicht weitergeführt. Die Problematik fremdsprachlicher Einflüsse auf den Koran und die Bedeutung der Interaktion zwischen Juden, Christen und möglicherweise judenchristlichen Gruppen für die Anfänge der islamischen Religion wurden nicht weiterverfolgt“20.

Die islamische Überlieferung mit ihrer Darstellung der Geschichte des Orients von der von Mekka ausgehenden islamischen Eroberung wurde über Jahrzehnte in „scholastischer Manier“ weitererzählt, „als ob sie nicht mehr hinterfragbar wäre“. D. h.: Durch diese Überordnung der göttlichen Offenbarung vor der geschichtlich denkenden Vernunft und damit dem historisch-kritischen Ansatz nahmen viele Gelehrte den Qur’ân so, wie er jetzt ist und sahen „ihre einzige Aufgabe darin, seinen Inhalt systematisch zu erklären und zu vertiefen“21.

In der westlichen Islamwissenschaft und insbesondere innerhalb der Qur’ânforschung gerieten Minganas und Tor Andraes Hinweise auf den syro-aramäischen Sprachstil und den syro-aramäischen Einfluss auf den Qur’ân ebenso in Vergessenheit wie die religionswissenschaftlichen Ansätze des 19. Jahrhunderts. Über viele Jahrzehnte finden sich fast keine Publikationen, die den im 19. Jahrhundert begonnenen historisch-kritischen Ansatz weiterführten22. Bis heute ist die Anzahl der kritischen Islamwissenschaftler gering, die ihre Anfragen an das verbreitete relativ geschlossene Bild über den Islam haben.

Dass der Qur’ân aus mehreren Quellen zusammengesetzt sein und ursprünglich vor allem aus dem christlichen Milieu stammen könnte, griff als These erst wieder Günter Lüling 1974 in seinem provokativen Buch „Über den Ur-Qur’ân – Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder“ auf. Darin stellte Lüling heraus, dass Teile des Qur’âns auf seiner ersten Entwicklungsstufe ein Buch mit Hymnen aus der christlichen Gemeinde von Mekka gewesen sein könnten. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die auch unter islamischen Gelehrten bekannte Tatsache, dass viele Qur’ânstellen auch für Muslime schlicht unverständlich sind. So hat beispielsweise der andalusische Qur’ânforscher Qurṭubî (gest. 1273) für die Sure 108 eine Liste von siebzehn verschiedenen Interpretationen zusammengestellt, die es zu seiner Zeit allein für das arabische Wort „al-kawṯar“ gegeben hat23. Aufgrund seines radikalen Ansatzes, die Islamwissenschaft gänzlich in die christliche Theologie zu überführen, wurden aber seine durchaus bemerkenswerten Forschungsergebnisse von der westlichen Islamwissenschaft nicht weiter beachtet24.

Nicht nur auf sprachlichem, sondern auch auf historischem Gebiet wurde weiter geforscht. Die dänische Islamwissenschaftlerin Patricia Crone veröffentlichte 1977 zusammen mit Michael Cook das kontroverse Diskussionen auslösende Buch „Hagarism“, in dem sie die traditionelle Darstellung der frühen Islamgeschichte kritisch beleuchtete. Sie untersuchte dabei ausschließlich die zeitgenössischen nichtislamischen, also die armenischen, griechischen, aramäischen und syrischen Quellen. Danach sei die traditionell erzählte „islamische Eroberung“ zunächst nur ein Stammesaufstand gegen die herrschenden Großmächte jener Zeit gewesen, der seinen Ursprung nicht auf der arabischen Halbinsel gehabt habe, sondern im Raum des heutigen Jordanien. Erst im 9. Jahrhundert seien die Anfangsgeschehnisse in die ethnische Heimat der Araber, auf die arabische Halbinsel, verlegt worden. Weitere Untersuchungen insbesondere zu Mekka25 lassen nach ihrer Sicht erkennen, dass nichtislamische Quellen nichts von Mekka als einem wichtigen Handelszentrum wissen. Und weder Mekka noch die Ka‛ba, weder Handel noch Handelsreisen werden im Qur’ân genannt, wohl aber in den Kommentaren islamischer Gelehrter. Patricia Crone folgerte daraus, dass alle Berichte über den Handel in Mekka auf die späteren Qur’ânausleger zurückgehen könnten und daher weniger historisch als vielmehr theologisch zu deuten seien.

Zu den kritischen Islamwissenschaftlern ist auch der amerikanische Historiker John Wansbrough (1928–2002) zu zählen, dessen Ausgangspunkt die frühesten schriftlichen Quellen der arabisch-islamischen Geschichtsschreibung waren, die seiner Ansicht nach erst aus dem 9. Jahrhundert stammten und vor allem jüdisch-christliches Material enthielten. Wansbroughs Forschungsergebnisse sagen, dass ein Großteil der traditionellen Geschichte des Islams eine Konstruktion späterer Generationen sei mit dem Zweck, eine eigene religiöse Identität zu erschaffen und zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu Lüling geht er davon aus, dass es nicht einen „Ur-Qur’ân“ gegeben habe, sondern verschiedene Quellen in die Textfassung, wie sie jetzt ist, eingeflossen seien.

Insbesondere die traditionelle Ansicht, dass das sogenannte „klassische Arabisch“ eine der ältesten Sprachen im Mittleren Osten sei, wurde durch Wansbrough im Anschluss an die Forschungen im 19. Jahrhundert wieder in Frage gestellt.

Dass das Aramäische die eigentlich verbreitete Schriftsprache bis ins 8. Jahrhundert gewesen sei, stellte 2001 Christoph Luxenberg (ein Pseudonym) in seinem Buch über die „syro-aramäische Lesart des Koran“ dar. Darin erläutert der in Deutschland lebende Arabisch- und Aramäischexperte, dass viele als schwer verständlich geltende „dunkle Stellen“ im Qur’ân einen Sinn bekämen, wenn man sie aramäisch statt arabisch lese.

Aufgrund seiner archäologischen Forschungen und in diesem Zusammenhang aufgrund seiner Inschriftenfunde in der Wüste Negev in Israel kam Yehuda D. Nevo (1932–1992) zu der Überzeugung, dass die traditionelle islamische Geschichtsdarstellung und deren schriftlichen Quellen aus dem 9. Jahrhundert zu hinterfragen seien. Judith Koren veröffentlichte nach dem Tode Nevos seine Forschungsergebnisse, in denen die inhaltliche Nähe zu den Erkenntnissen von Crone und Wansbrough sichtbar werden. Im deutschsprachigen Raum führt die Forschungsgruppe „Inârah“ der Universität Saarbrücken (Karl-Heinz Ohlig, Rüdiger Puin, Volker Popp, Markus Groß u.a.) die kritischen Ansätze von Crone, Wansbrough, Nevo, Luxenberg u.a. über die Anfänge des Islams weiter.

Religion fällt nicht vom Himmel

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