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Glauben und historisches Denken als Thema in allen Religionen

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Das Erstaunen betrifft nicht den muslimischen Glauben. Muslime glauben, dass der Qur’ân direkt aus einem Guss dem Propheten Muḥammad offenbart wurde. Der Qur’ân gilt ihnen als „ein Buch, an dem kein Zweifel ist“ (Sure 10,37). Sie glauben ebenfalls, dass das Leben Muḥammads bis ins kleinste Detail bekannt und ein historisches Ereignis ist. Ebenso glauben sie, dass die Religion Islam ohne Vorgeschichte auf einmal festgelegt ist und dass das Reich der Muslime in dreißig Jahren aus dem Nichts aufgebaut wurde. Aufgrund ihrer religiösen Überzeugung gehen sie davon aus, dass die vorislamische Vergangenheit von keinerlei Nutzen ist und daher gar nicht zur Kenntnis genommen werden muss. Das ist alles erlaubt, denn Gläubige dürfen glauben, was sie glauben wollen.

Das Erstaunen betrifft die westlichen Islamwissenschaftler und in deren Gefolge die Inhalte der Schulbücher, Lexika und Nachschlagewerke, die in ihren Darstellungen von eben dieser Glaubenswahrheit ausgehen. Dieser westliche Konsens beruht wie auch die muslimische Tradition selbst auf Grundlagen, die kein Historiker akzeptieren würde. Gerade nichtislamische Quellen geben zu zahlreichen Ereignissen, die in der islamischen Geschichtsschreibung erzählt werden, gar keine oder nur höchst spärliche Hinweise. Auch das ist erstaunlich angesichts der großen Auswirkungen, die die islamischen Eroberungswellen für Juden wie Christen gehabt haben sollen.

Dass eine offene kritische Wissenschaft im christlich-islamischen Gespräch nicht einfach ist, ist verständlich40. Denn Wissenschaftlern aus dem Westen, die sich mit der Lehre des Propheten beschäftigen, schlägt in der islamischen Welt Misstrauen entgegen. Europäer, die Arabisch als die Sprache Mohammeds lernen, ohne zum Islam überzutreten, führen in den Augen vieler Gläubiger noch Schlimmeres im Schilde: Mit ihrer Qur’ânforschung wollen die Abendländer den göttlichen Ursprung der Offenbarung widerlegen, heißt es. So ähnlich hatten sich Christen im 18. Jahrhundert gegenüber der sich entwickelnden Bibelwissenschaft und der „Leben-Jesu-Forschung“ geäußert.

Muslime empfinden den historisch-kritischen Zugang zu ihrer Geschichte und ihrem heiligen Text oftmals als westliche Provokation und westliche Wissenschaftler gelten als „Hilfstruppen des Neokolonialismus“. Orientalisten galten (und gelten) als verkappte Missionare oder Spione. Spätestens seit Eduard Said 1978 sein umstrittenes Buch „Orientalism“ herausgebracht hat, sahen sich auch westliche Islamwissenschaftler „dem Verdacht ausgesetzt, letztlich nur Ausdruck und Reflex einer politischen Herrschaftsideologie des Westens gewesen zu sein“41. Auch wenn Said die deutsche Orientalistik von seinem Generalverdacht ausdrücklich ausnahm42, wurde die westliche Islamwissenschaft gegenüber den islamischen Gelehrten nie diesen Generalverdacht los, von der westlichen Überlegenheit und damit der Unterlegenheit des Orients auszugehen43.

Recht verstanden ist das Gegenteil der Fall: Gerade durch den historisch-kritischen Zugang können die Quellen, die in einem regionalen Kontext entstanden sind, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das gemeinsame religiös-kulturelle Erbe wird dann erkennbar. Ausgehend von einer ergebnisoffenen kritischen Prüfung der eigenen heiligen Texte und Quellen ist ein echter interreligiöser Dialog möglich. So mancher Gläubige in Judentum, Christentum und Islam scheut diesen Schritt, weil er einen Absturz seines Glaubens in die Beliebigkeit fürchtet. Diese Angst ist jedoch nur dann berechtigt, wenn die eigenen religiösen Überzeugungen und die Glaubenspraxis so wenig innere Stabilität aufweisen, dass sie der künstlichen Untermauerung durch nicht mehr hinterfragbare Dogmen bedürfen. Dann aber ist auch kein echter Dialog mehr möglich, dem es gelingt, die gemeinsamen Wurzeln herauszuarbeiten als einen Schlüssel, den Anderen als einen „nächsten Verwandten“ zu verstehen. Die historisch-kritische Arbeitsweise wirkt zwar für einen dogmatisch oder gar fundamentalistisch ausgerichteten „Schriftbesitzer“ zunächst einmal bedrohlich, weil sie seine „unumstößliche Wahrheit“ bedroht. Am Ende ermöglicht sie aber einen viel tieferen Zugang zu den heiligen Texten und kann Erkenntnisse zu Tage fördern, die das spirituelle Leben wesentlich mehr bereichern als die vordergründige Betonung der „Irrtumslosigkeit“ der heiligen Schrift oder der Quellen.

Aus westlicher Sicht wird leicht vergessen, dass die Diskussion über einen historisch-kritischen Zugang zu den eigenen Quellen kein „islamisches Problem“ ist. Alle Religionen sind stets aufs Neue herausgefordert, ihr Verhältnis von (geglaubter) Offenbarung und (tatsächlicher) Geschichte zu klären. Auch in der islamischen Überlieferung gibt es ein offenes Denken und eine kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Überlieferung durch die alte Tradition des „’iğtihâd“, des kritischen Hinterfragens44. Der Fokus auf den Nahen und Mittleren Osten verengt den Blick auf die Vielfalt des Islams und seiner Ausdrucksmöglichkeiten weltweit.

Der sudanesische Rechtgelehrte ‛Abdullah Aḥmad An-Na‛îm, der in Atlanta lehrt, drückte es im Rahmen eines Vortrages in Berlin 2008 wie folgt aus: „Wer dem Westen das Copyright für Aufklärung, Modernität und Individualismus zuschlägt, stellt den Muslimen eine ‚intellektuelle Falle‘. Man redet ihnen ein, dass sie nicht modern werden könnten, ohne ihre Identität preiszugeben. Hier verrät sich die Denkungsart des Kolonialismus“45. Kritische muslimische Gelehrte mahnten in allen Jahrhunderten islamische Reformen und innerislamische Selbstkritik an und beriefen sich dabei auf den Qur’ân: Individualität gilt als Teil des islamischen Denkens.

Im 9. Jahrhundert gab es beispielsweise in Bagdad im „Haus der Weisheit“ offene Dialogforen. In einer Zeit, in der das römisch-byzantinische Reich im Westen philosophisch stagnierte, florierte der Wissenschaftsbetrieb unter den Gelehrten in Bagdad, die u.a. die griechischen Philosophen wie Aristoteles und Platon studierten46.

Die Diskussion um ein modernes Verständnis des Islams und insbesondere des Qur’âns hält in der islamischen Welt bis heute an. Der muslimische Gelehrte Muḥammad Ḫalaf Allâh (1916–1997) unterstrich z.B. in seinen Forschungsarbeiten die Bedeutung des Unterschiedes von Wahrheit in einem spirituellen Sinne und des Qur’âns der Realität eines historischen Geschehens47. Seine Thesen, die er 1947 an der Universität Kairo vortrug, machten ihn in der ganzen islamischen Welt bekannt. Er schrieb, dass die prophetischen Geschichten des Qur’ân nicht historisch, sondern als Verkündigungstexte zu verstehen seien, die religiöse Ziele reflektierten. Sie seien je nach Situation von Muḥammad wiederholt worden und beinhalten daher auch stets historische Hinweise. Ḫalaf Allâh bezog sich mit seinem Denken auf eine lange Tradition islamischer Gelehrter, die sich dem historischen „Sitz im Leben“ einzelner Qur’ânpassagen gewidmet hatten.

Obwohl er unter den Intellektuellen viel Unterstützung erhielt, verlor Ḫalaf Allâh seine Lehrerlaubnis an der Universität in Kairo. Dies zeigt, dass diese Art modernen Denkens in der heutigen islamischen Welt weniger Anerkennung findet als in früheren Jahrhunderten. Traditionell sind alle Geschichten des Qur’âns von gleichem Wert und sind historisch ernst zu nehmen. Richtig ist, dass vielfach die gegenwärtigen politischen Situationen in den islamisch geprägten Ländern die Entfaltung des aufklärerischen Denkens nicht fördern, was aber nicht bedeutet, dass dies nicht Teil der islamischen Überzeugung darstellen kann. Unangebracht ist in diesem Zusammenhang die Tendenz vieler westlicher Kritiker, den Islam mit dem radikalen Islam in eins zu setzen, was genau der fundamentalistischen Sicht entspricht, die die orthodoxen Vertreter den Islam durchzusetzen versuchen. Dagegen können sich muslimische Gelehrte auf den „Spuren Nöldekes“ bewegen, wenn sie betonen, dass jedes religiöse Erbe von seiner Zeit beeinflusst ist und in Kommunikationsprozessen viele Veränderungen durchlebt hat48.

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