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Die syrischen Wurzeln des Christentums

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Der christlich-muslimische Dialog ist in der westlichen Welt stark durch die Gegenüberstellung von „christlichem“ Europa und „muslimischer“ arabischer Welt geprägt. Verloren geht bei dieser Einordnung, dass der christliche Glaube seine Wurzeln genau in diesem Lebensraum hat, der heute als „arabische Welt“ bezeichnet wird. Und diese Welt ist bis heute nicht nur muslimisch geprägt, sondern auch jüdisch, persisch, mandäisch und eben auch christlich.

Syrien war Kernland der Hochkulturen des Vorderen Orients und beherbergte die ältesten Kulturen der menschlichen Zivilisation. Dort ist die Keilschrift, die älteste Schrift der Menschheit, im 3. Jahrtausend v. Chr. verwendet worden. Das erste auf 26 Buchstaben reduzierte Alphabet, das die Grundlage für das lateinische Alphabet bildet, wurde in Syrien erfunden. Durch die geographische Lage hat die syrische Region eine Brückenfunktion zwischen dem Orient und Europa übernommen. Judentum, Christentum und Islam haben ihre Wurzeln in Syrien.

Syrien meint dabei den Großraum Syrien und nicht nur den heutigen politischen Staat im Nahen Osten, wie wir ihn auf der Landkarte finden. Syrien ist im Folgenden eine Landschaftsbezeichnung. Das griechische Wort „Syria“ entstand aus dem Wort „Assyrien“ und bezeichnet ein schon sehr altes Kulturland, das früh besiedelt wurde: Paläolitische Fundplätze liegen im Euphrattal sowie an der Mittelmeerküste. Der Großraum Syrien umfasst dabei das Gebiet vom Mittelmeer bis zum Euphrat (vom damaligen Palästina bis zum heutigen Irak/Iran). Zahlreich waren die Handelswege, die diesen Lebens- und Kulturraum durchzogen. Die Handelswege verbanden Syrien mit dem Norden bis hin zu den Bergen (dem heutigen Armenien), mit der arabischen Halbinsel im Süden (dem heutigen Saudi Arabien) und reichten im Osten über Mesopotamien (dem heutigen Irak/Iran) bis nach Indien und China.

Ursprünglich wurden die Menschen, die in dieser Region lebten, als „Aramäer“ bezeichnet81. Das Judentum benutzte das Wort „Aramäer“ im Sinne von „Heiden“, die syrisch-aramäische Übersetzung des Neuen Testaments für „Hellenisten“. Später wurde der Begriff aufgegeben zugunsten des griechischen Terminus „Syrer“, einer Kurzform von „Assyrer“. Seit der Zeit Alexander des Großen wurde das Land am Tigris „Assyrien“ genannt, später verkürzt „Syrien“, um so die aramäisch sprechende Region als ganze zu bezeichnen.

In Bezug auf die Kirchengeschichte meint Syrien einerseits das römisch-byzantinische Reich „Westsyrien“ und zum anderen das parthische und dann persische (sassanidische) „Ostsyrien“ in Mesopotamien, dem „Zweistromland“ mit Euphrat und Tigris bzw. Persien. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem römisch-byzantinischen und dem persischen Reich führten immer wieder zu machtpolitisch bedingten Grenzverschiebungen, so dass diese Bezeichnungen nicht ganz eindeutig sind.

In der Entwicklung und Ausbreitung des Christentums spielte dieses Syrien eine entscheidende Rolle. Man kann sogar sagen, dass der Großraum Syrien die Wiege des Christentums ist. Denn Syrien ist das Land der meisten christlichen Gemeinden im 1. Jahrhundert. Nach der Zerstörung von Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 mussten Juden wie Christen aus der Stadt fliehen bzw. wurden vertrieben. Der Großraum Syrien, insbesondere der Ostteil bis hin nach Mesopotamien und noch weiter bis in den Ostiran, wurde zum Überlebensraum von Judentum und Christentum. Viele jüdische Gemeinden und Gruppen, die wie die Christen aus dem Herrschaftsgebiet des römischen Reiches aus der römischen Provinz „Palästina“ nach Osten flohen, um der Verfolgung zu entgehen, siedelten im ostsyrischen Raum. Gleiches lässt sich auch vom Christentum sagen: Durch die vom Apostel Paulus angeregte Heidenmission hatten sich verschiedene Gemeinden gebildet, z.B. in Damaskus und Antiochien. Nicht die Jerusalemer Gemeinde, sondern die Kirche von Antiochien trug entscheidend dazu bei, dass sich das Christentum nach Indien im Osten und nach Europa im Westen ausbreiten konnte.

Den Kirchen Europas und damit dem ganzen Abendland ist kaum bewusst, welch großes, bedeutendes, weit verbreitetes frühes Christentum es im Vorderen Orient gegeben hat: mit blühenden, an Mitgliedern starken Gemeinden, bedeutenden Theologen, ausstrahlenden Mystikern und Heiligen, mit seinen Asketen und gebildeten Mönchen, die in zahlreichen Klöstern mit großen Bibliotheken lebten. Bis in das 11. Jahrhundert hinein stellten die Christen insgesamt noch die Mehrheit der Bevölkerung. Sie wurden von der Minderheit der Muslime regiert. Noch nach dem 1. Weltkrieg lebten im Osmanischen Reich ca. 25 % Christen, heute allerdings nur noch ca. 7 %82.

Kultureller und religiöser Austausch führte zu manchen Ähnlichkeiten der Religionen. Vor allem das Mönchtum und die Heiligenverehrung waren fest im Lebensverständnis der Menschen dieser Region verankert. Eine asketische Lebensweise war für die Christen im Großraum Syrien ein Ausdruck ihrer Frömmigkeit, weshalb Einsiedler und Asketen als „Heilige Männer“ besonders verehrt wurden. Das galt ebenso für jüdische, gnostische oder manichäische Gruppierungen. Ähnliche Riten und religiöse Praktiken durchzogen die Religionen. Beispielhaft seien die vielen Pilger genannt, die es glaubensübergreifend an die Wirkungsstätten und Gräber dieser geistbegabten Heiligen Männer sowie der Märtyrer zog, die in der Zeit der Verfolgung für ihren Glauben gestorben waren. Man kann regelrecht von einem „Heiligen-Mann-Kult“83 sprechen.

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