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Auseinandersetzung mit dem traditionellen Bild von den Anfängen des Islams
ОглавлениеErzählte religiöse Geschichte hängt nicht an der Frage, ob Ereignisse genau so oder auch anders sich ereignet haben könnten. Diese Geschichten möchten die Grundlagen des Glaubens beschreiben, manchmal sogar zweimal wie die Schöpfungsgeschichte oder die Sintfluterzählung im 1. Buch Mose oder die Geburtsgeschichte von Jesus bei Matthäus und Lukas oder die Geburtserzählungen von Muḥammad in der Prophetenbiographie des Ibn Isḥâq. Diejenigen, die diese Geschichten überlieferten, hatten auch mit widersprüchlichen Aussagen anscheinend kein Problem, sonst hätten sie nicht verschiedene Versionen berichtet. Es handelt sich ja nicht um historische Berichte, sondern um Verkündigung. Gläubige aller Religionen sehen in solch „historischen Leerstellen“ keine Probleme. Die religiöse Bedeutung der Geschichten hängt wie bei der Leben-Jesu-Forschung nicht von der Frage ab, ob sie sich tatsächlich so ereignet haben74. Das erzählte Leben Jesu, seine über ihn geschilderten Begegnungen und Geschichten bleiben Grundlage für den Glauben und die Frömmigkeitspraxis gläubiger Christen. Und so ist und bleibt für Muslime der Qur’ân das Wort Gottes unabhängig der Erforschung seiner Ursprünge und unabhängig davon, ob sie diese Forschung für Ketzerei oder bestenfalls für sinnlos halten.
Eine gewisse wissenschaftliche Skepsis dem relativ geschlossenen traditionellen Bild der Anfänge des Islams gegenüber scheint aus den angesprochenen Gründen plausibel. Die Basis für diese Skepsis wurde im 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Orientalistik gelegt. Heute greifen andere Wissenschaftler die damaligen Fragestellungen auf:
Der Arabist und Qur’ânforscher Gerd-Rüdiger Puin fand beispielsweise arabische Handschriften in Ṣan‛â’ im Yemen. Seinen Analysen zufolge beinhalten diese Funde die umfangreichste Entdeckung frühester Qur’ânhandschriften. Er fand darin Texte, die so im Qur’ân stehen, allerdings mit leichten Variationen im „Schriftbild“. Er geht davon aus, dass die Ṣan‛â’-Funde älter sind als der heutige Qur’ântext, der traditionell auf ‛Uṯmân zurückgeführt wird. Hier schließen sich Fragen an nach dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und nach der bisher stets unhinterfragten Prämisse einer verlässlichen (!) mündlichen Überlieferung. Es stehen ziemlich viele undeutliche Texte im Qur’ân: Kommt das durch die mündliche Überlieferung, wodurch ein Mensch einen bestimmten Konsonanten anders vokalisiert aussprach als der andere? Oder liegt die Ursache darin, dass hinter dem Qur’ântext andere, ältere, vielleicht aramäische Texte liegen? Mit Worten, die von der Schreibweise her dem Arabischen ähneln, aber doch eine ganz andere Bedeutung hatten? Wenn die alten Handschriften aus Ṣan‛â’ in einer kritischen Qur’ânausgabe zugelassen würden, würde damit implizit zugegeben, dass bei der Entstehung des Qur’âns der Anteil der redaktionellen Bearbeitung weitaus höher zu veranschlagen ist als die Annahme einer sogenannten „verlässlichen mündlichen Überlieferung“.
Diese Fragestellung bewegt auch den Arabisch- und Aramäischexperten Christoph Luxenberg. Er hinterfragt in seinen sprachgeschichtlichen Untersuchungen die Prämisse, nach der das sogenannte „klassische Arabisch“ schon im 7. Jahrhundert als Schriftsprache genutzt worden sei. Denn zu jener Zeit sei neben dem Griechischen das Aramäische die lingua franca und damit die verbreitete Schriftsprache des ganzen Mittleren Ostens gewesen – insbesondere je weiter man nach Osten kam. Nachweislich wurde Aramäisch mehr gesprochen und vor allem mehr geschrieben als Arabisch. Diese Erkenntnis verhilft nach Überzeugung von Luxenberg, gerade unverständliche „dunkle Stellen“ im Qur’ân zu verstehen. Einige Stellen würden nämlich nur deswegen unverständlich wirken, weil der Abschreiber beim Übertragen aramäischer Texte in das arabische Schriftsystem ähnlich aussehende syro-aramäische Buchstaben verwechselt habe. Hier schließen sich Fragen an nach den Grundlagen des Qur’âns und dem Einfluss der religiösen Strömungen (vor allem Judentum und Christentum, aber auch Parsismus und Manichäismus) auf Sprachstil, Struktur und Inhalt des Qur’âns und der islamischen Religion als Ganzes.
Der Münzsachverständige und Orientalist Volker Popp untersucht seit Jahren alte Münzen unter dem Grundsatz: Wenn eine Münze der erzählten Geschichtsschreibung widerspricht, z.B. wenn auf einer Münze der Name eines Fürsten steht, der laut der Geschichtsschreibung aber längst besiegt ist, dann bekommt die Münze recht und nicht die Geschichtsschreibung. Es wird in diesem Buch deutlich werden, dass die Münzen erstaunlich oft Recht bekommen. Hier schließen sich Fragen nach der Datierung von Ereignissen oder überhaupt ihrer Historizität an.